# taz.de -- Wiederaufbau in Syrien: Die Chance nicht vertun | |
> Seit dem Sturz Assads kehren viele Syrer zurück. Tut man nicht alles, um | |
> den Wiederaufbau zu stärken, könnte die Hoffnung auf Stabilität | |
> ersticken. | |
Bild: Kinder im jordanischen Flüchtlingslager Saatari | |
Nach mehr als einem Jahrzehnt als Flüchtlinge in Jordanien sind Ibtihal und | |
ihre Familie im Januar in ihr Haus in Dara'ā zurückgekehrt. Die Stadt im | |
Süden Syriens wurde vom Krieg zerstört, dabei hat das Haus erhebliche | |
Schäden an den Wänden, Fenstern und am Wassertank genommen – durch ein Loch | |
im Dach war eine Mörsergranate eingeschlagen. | |
Es gab keinen Strom und somit auch keine Beleuchtung. Dennoch waren sie | |
überglücklich, wieder zu Hause zu sein. „Als ich ankam, war ich schockiert | |
über den Zustand des ganzen Landes“, sagte Ibtihal. „Aber ich habe großes | |
Vertrauen in Gott, dass Syrien wieder aufgebaut wird.“ Und Stück für Stück | |
bauten sie das Gebäude wieder auf. | |
Im selben Monat war in Amman, der Hauptstadt [1][Jordaniens], zu sehen, wie | |
Flüchtlinge ihre Habseligkeiten in Busse luden und sich darauf | |
vorbereiteten, Ibtihal in ihre Heimat zu folgen. Millionen von Syrern, die | |
durch einen 14 Jahre andauernden brutalen Konflikt vertrieben wurden, | |
dachten, dieser Tag würde nie kommen. Diese Momente, in denen Menschen, die | |
zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen worden waren, endlich die Reise | |
zurück antreten können, gehören zu den schönsten Anblicken für jeden, der | |
bei dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) arbeitet. | |
Die Zahl der Vertriebenen hat ein nie dagewesenes Niveau erreicht. Jetzt | |
gibt es die seltene Gelegenheit, Menschen bei der Rückkehr in ihre Heimat | |
und beim Wiederaufbau zu helfen. Es ist auch eine unerwartete Chance, | |
Frieden und Stabilität in Syrien und in der gesamten Region zu fördern. | |
Aber dieses Zeitfenster wird nicht ewig offen bleiben. | |
Seit dem [2][Sturz des damaligen Präsidenten Baschar al-Assad Anfang] | |
Dezember 2024 sind nach Schätzungen von UNHCR mehr als eine Million Syrer | |
in ihre Heimat zurückgekehrt, wobei sowohl die Rückkehrer aus anderen | |
Ländern als auch aus Syrien selbst zählen. Viele weitere beabsichtigen, | |
diesem Beispiel zu folgen: In einer UNHCR-Umfrage gaben 27 Prozent der | |
Flüchtlinge an, dass sie in den nächsten zwölf Monaten in ihre Heimat | |
zurückkehren wollen. Vor dem Sturz Assads waren es nicht einmal zwei | |
Prozent. | |
Aber 14 Jahre Chaos und Gewalt hinterlassen Spuren. Das schiere Ausmaß der | |
Zerstörung ist schwer zu vermitteln. Nichts ist unversehrt geblieben – | |
Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser, Bürogebäude, Straßen, Kraftwerke, | |
Kläranlagen – so viel liegt in Schutt und Asche. Eine Grundversorgung, | |
einschließlich Wasser, Strom und Müllabfuhr, ist kaum bis nicht vorhanden. | |
Die Menschen fragen sich, wie sie unter diesen Umständen leben und ihren | |
Lebensunterhalt verdienen sollen. | |
Die jüngsten Gewalttaten im Westen Syriens, bei denen hunderte Zivilisten – | |
vor allem Alewiten – getötet wurden, verstärken diese Sorgen. Viele | |
Menschen mussten aufgrund der Kampfhandlungen aus ihren Häusern fliehen. | |
Die neue syrische Regierung hatte auf die „seltene historische Chance“ | |
hingewiesen, das Land wieder aufzubauen. | |
Diese Chance wird vertan, wenn ethnische und religiöse Rivalitäten über den | |
Wunsch nach Frieden, Recht und Ordnung sowie Menschenrechten siegen, wie es | |
bei den Ausschreitungen der Fall war. Die Ängste der religiösen | |
Minderheiten, wie etwa der christlichen Gemeinde in Aleppo, vor einem neuen | |
Unterdrückungsregime werden sich nach den Morden nur noch verstärkt haben. | |
Das [3][Engagement der syrischen Regierung] und ihrer vielen Fraktionen für | |
einen dauerhaften Frieden ist von entscheidender Bedeutung. Dennoch hängt | |
die Zukunft des Landes auch von der Stärke und Geschwindigkeit der | |
finanziellen und diplomatischen Unterstützung für Wiederaufbau, Sicherheit, | |
Investitionen und Entwicklung ab. Dies sind die Zutaten für Stabilität, | |
Wohlstand und die dauerhafte Rückkehr von Millionen von Menschen. | |
## Soziale und politische Spaltungen müssen heilen | |
Die Aussetzung einiger Sanktionen durch die EU ist ein willkommener Anfang, | |
aber es ist noch viel mehr erforderlich. Werden die unmittelbaren | |
humanitären Bedürfnisse sowie die längerfristige Vision vernachlässigt, so | |
können soziale und politische Spaltungen nicht heilen. Extremisten werden | |
mehr Spielraum für ihr Handeln finden, weniger Syrer werden zurückkehren, | |
und diejenigen, die es dennoch versuchen, könnten gezwungen sein, erneut zu | |
fliehen. | |
Auch wenn die Finanzierung vieler Hilfsorganisationen für dieses Jahr | |
ungewiss ist, arbeiten wir weiter für Flüchtlinge und Binnenvertriebene. | |
UNHCR unterstützt bei Rückkehr in die Heimat, berät und informiert, hilft | |
bei der Wiedereingliederung und gibt humanitäre Hilfe wie Decken, | |
Winterkleidung und Reparaturen beschädigter Häuser. | |
Ohne ausreichende und zuverlässige Finanzierung werden UNHCR und andere | |
Hilfsorganisationen jedoch nicht in der Lage sein, diese dringend | |
notwendigen Maßnahmen umzusetzen. Besonders unsere Unterstützung vieler | |
lokaler Organisationen, die unschätzbare Hilfe leisten, würde leiden. Und | |
es geht ja nicht nur um Syrien selbst, es geht um die Region: 5,5 Millionen | |
syrische Flüchtlinge leben immer noch in der Türkei, im Libanon, in | |
Jordanien, im Irak und in Ägypten. | |
Dazu kommen etwa 1,4 Millionen weitere Flüchtlinge in anderen Ländern, | |
hauptsächlich in Europa. Die Länder schützen diese Menschen seit 14 Jahren. | |
Diese Flüchtlinge und die Verantwortung für ihre Versorgung dürfen nicht | |
einfach von der Tagesordnung gestrichen werden. Sie sollten auch nicht | |
gegen ihren Willen zur Rückkehr gezwungen werden. Die Entscheidung, ob sie | |
zurückkehren wollen, muss allein bei ihnen liegen, wenn diese Rückkehr von | |
Dauer sein soll. | |
Wenn nicht alles getan wird, um den Wiederaufbau Syriens jetzt zu | |
unterstützen, erstickt und verblasst die aufkeimende Hoffnung von Millionen | |
von Menschen. Die Folgen dieses Scheiterns wären weit über Syrien und den | |
Nahen Osten hinaus zu spüren. | |
4 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Filippo Grandi | |
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