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# taz.de -- Szenen an der Grenze Jordanien-Syrien: Im Grenzbereich
> Nach dem Fall des Assad-Regimes kreuzen sich an der jordanisch-syrischen
> Grenze die Schicksale von Menschen im Transit. Ein Ortsbesuch.
Bild: Familien am Grenzübergang Jaber in Jordanien
Die Sonne steht am Mittag hoch über dem schlichten Eingang des
Grenzübergangs zwischen Jordanien und Syrien, mitten in der Wüste. Vor den
geschlossenen Toren stapeln sich Koffer und Tüten voller Habseligkeiten.
Autos und ihre Insassen warten in chaotischen Schlangen, kleine
Menschengruppen hoffen auf Informationen, hängen ihren Träumen nach.
„Ich bin hier, weil ich hoffe, meinen Vater wiederzusehen“, sagt ein
junger, großer Mann in grauem Sweater und Hose vor einer Kamera der vielen
Journalist*innen, die hier ebenso auf Nachrichten warten. „Seit elf Jahren
wissen wir nichts mehr von ihm. Mein Vater wurde verhaftet, in die
sogenannte Palästina-Abteilung gebracht, dann nach [1][Sednaya]. Es gab
keine Anklage, kein Verfahren. Vielleicht hat ihn aber jemand gesehen,
vielleicht sein Bild.“
Der junge Mann, Kamel Khaled al-Nabulsi, ist jordanischer Staatsbürger.
Fast 90 Kilometer ist er auf seinem gelben Liefermotorrad von Amman zur
Grenze gefahren, in der Hoffnung, dass ein Rückkehrer aus Syrien seinen
Vater vielleicht irgendwo doch gesehen hat. In der Hand hält der 27-Jährige
sein Smartphone, mit einem Bild des Vaters. Es zeigt einen schlaksigen Mann
mit Schnurrbart und gelber Brille. Morgen, sagt Khaled al-Nabulsi, will er
wieder hierher. Bis er seinen Vater findet.
Sednaya war ein berüchtigtes Gefängnis des Assad Regimes, bekannt als
„Schlachthaus für Menschen“, in dem die Insassen Zeugen zufolge besonders
brutal verhört, geschlagen und gefoltert wurden. Tausende Syrer*innen
haben sich dorthin nach der Eroberung von Damaskus durch die Rebellen auf
die Suche nach ihren vermissten Angehörigen begeben. Jordanien beherbergt
derzeit rund 630.000 syrische Geflüchtete.
An diesem Nachmittag, einen Tag nach dem Sturz des langjährigen Diktators
Baschar al-Assad, ist der jordanische Grenzübergang Jaber jedoch, bis auf
chaotische Szenen bei Ankunft und Abfahrt von Menschen, am Ende doch nur
spärlich besucht. Nicht viele Syrer*innen gehen hinüber nach Syrien.
Viele trauen sich offenbar noch nicht, oder trauen auch dem [2][so
plötzlichen Regimewechsel] nicht – denn es ist noch gar nicht absehbar, wer
das Machtvakuum in Syrien füllen wird.
Einer, der sich doch traut, ist Hamzah al-Hariri. Der 21-Jährige mit den
wilden, schwarzen Locken und dem breiten Lächeln sitzt bei offenen Fenstern
in einem weißen Wagen, wenige Meter von den Grenztoren entfernt, und freut
sich sichtlich schon auf das, was ihn auf der anderen Seite erwartet. Auch
wenn er nicht weiß, was das ist.
Al-Hariri, mit sieben Jahren aus der Grenzstadt Dara’a nach Jordanien
geflohen, hat mehr als die Hälfte seines Lebens als Geflüchteter in
Jordanien gelebt. Im größten Flüchtlingslager Zaatari, in der Stadt Zarqa.
Jetzt wartet er in seinem Wagen auf Papiere der syrischen Botschaft, um die
Grenze zu überqueren. „Freude“ empfinde er, keine Angst. Assad sei weg. Er
will nach Dara’a, Tartus, er will überall hin. Ein Zuhause in Syrien habe
er nicht, er wisse noch nicht, wo er schlafen werde, sagt er lächelnd.
Einen Onkel habe er dort.
In Jordanien arbeitete er als Tagelöhner, sein Bruder bleibt zunächst noch
im Flüchtlingscamp. Doch Hamzah al-Hariri will nicht mehr bleiben in
Jordanien. Er will sein Land wieder aufbauen, dessen Häuser aufbauen.
Unerschütterlich ist sein Glaube an ein besseres Syrien, ein lebenswertes
Syrien. „Freiheit ist doch das wichtigste.“
An diesem Nachmittag an der jordanisch-syrischen Grenze treffen die
schönsten Geschichten auf die verzweifelten. Die einen wollen über die
Grenze gehen, die anderen, Jordanier*innen, zurückkehren. Einige warten,
andere sind noch auf der Suche. Kamel Khaled Al-Nabulsi, der junge
jordanische Mann, der seinen Vater sucht, geht etwas nervös auf und ab zum
derzeit geschlossenen Tor, zieht an seiner E-Zigarette, telefoniert noch
mit der Schwester in Deutschland, die fast 3.000 Kilometer weiter entfernt
und doch zusammen mit ihm bangt.
„Mein Vater hat nichts getan, er hat nichts getan“, wiederholt er vor den
Journalisten. Er sei am 13. Juli 2013 von Sicherheitskräften aufgelesen und
ohne Anklage ins Gefängnis gebracht worden. So viel konnten sie
rekonstruieren. Durch freigelassene Gefangene hätten sie 2015 den Haftort
des Vaters herausfinden können. Bezahlt hätten sie die Wächter, um mehr von
ihnen zu erfahren – erfolglos.
„Er war Elektriker, führte Reparaturen durch“, erzählt im Videoanruf
al-Nabulsis Schwester. Sie sitzt in ihrer weiß gestrichenen Wohnung in
Brandenburg, weiße Fensterrahmen im Hintergrund. Der Vater sei Jordanier,
die Mutter Syrerin. Daher hatte er in Damaskus eine Wohnung gekauft, ein
kleines Unternehmen gegründet.
Die Familie sei dann 2015 nach Jordanien zurückgezogen – ohne den Vater.
„Aber wir haben ihn nicht vergessen“, sagt die junge Frau, die Haare in ein
glänzendes Tuch gewickelt. Seit acht Jahren lebt sie mit ihrem Ehemann in
Deutschland. Dessen Familie sei in Syrien, komme aber auch nicht weiter.
„Es ist eine Katastrophe. Es tut weh. Es gibt ein Feuer in unserem Herzen.
Wir haben lange gewartet auf diese Zeit. Jetzt ist Assad weg, alle kommen
raus – aber wir finden unseren Vater nicht.“ Die Unwissenheit all die Jahre
lang über sein Schicksal, die zermürbe sie am meisten. „Können Sie uns
helfen?“, fragt sie zum Schluss des Telefonats. „Er heißt Khaled Khalil
Ibrahim al-Nabulsi.“
Al-Nabulsis Geschichte lässt sich nicht unabhängig überprüfen, sie deckt
sich aber mit anderen, die über die Jahre von NGOs und Medien gesammelt
worden sind. Und Khaled Khalil Ibrahim al-Nabulsi ist bei weitem nicht der
einzige Ex-Häftling, auf den Menschen heute an dieser Grenze warten. Vor
den Toren, auf einem Block Zement, sitzt ein etwas älterer Mann im
Sportanzug. Reda Salim Al-Frihat ist mit der gesamten Familie hierher
gekommen – Sohn, Enkel, weitere Familienmitglieder – um seinen
verschollenen Bruder nach 18 Jahren wieder in die Arme zu nehmen.
Der heute 70-Jährige habe damals als Fahrer entlang des
Amman-Damaskus-Highways gearbeitet. Er sei in Syrien verhaftet und nach
Sednaya gebracht worden, erzählt sein 67-jähriger Bruder. Einmal habe er
mit ihm kommuniziert, er habe nur gesagt: „Alles ist gut. Lang lebe Assad.“
al-Frihat trägt grauen Bart, die Haare sind zerzaust – als ob er
aufgestanden und direkt zur Grenze geeilt wäre. Seit etwa acht Uhr morgens
ist seine ganze Familie hier.
Nachdem die Aufständischen Sednaya eingenommen und Gefangene freigelassen
hatten, hätten syrische Menschen, vermutlich Kämpfer, seinen Bruder in
Damaskus gefunden und zur Grenzstadt Dara’a gebracht. Sie konnten „unsere
Familie in Jordanien ausfindig machen, wir haben bereits miteinander
telefoniert.“ Al-Frihat zeigt ein Video eines älteren Mannes,
offensichtlich müde und mit ungepflegtem Bart, doch heiter, der berührt
lächelt und eine Wollmütze in den Händen dreht.
Jetzt müsse der Bruder mit den jordanischen Behörden reden, mit der
Polizei, dem Geheimdienst. Ganz offiziell soll die Identität der
Zurückgekehrten verifiziert werden. Auf jordanischer Seite will man durch
das wohl lange Filzen der Heimkehrenden vermutlich sicher gehen, dass sich
keine politisch gefährlichen Menschen einschleusen, [3][Extremisten
vielleicht.]
Dann kann Al-Frihats Bruder nach Hause, nach fast zwanzig Jahren. Jahre, in
denen die Familie keine Gewissheit hatte, was mit dem Bruder passierte.
Unbeschreiblich sei das Gefühl, als er gestern wieder mit seinem Bruder
gesprochen habe, sagt Al-Frihat und schüttelt seinen Kopf, dann lächelt er.
Neben ihm rennt ein vierjähriges Kind herum, dessen Vater läuft ihm
hinterher, ergreift es an der Jacke, bevor das Kind auf ein anfahrendes
Auto zurennt. „Mein Sohn und mein Enkel“, sagt al-Frihat. „Meine Mutter i…
vor vier, fünf Jahren gestorben, ohne zu wissen“, sagt er, und kann den
Satz „dass ihr Sohn noch lebt“, nicht zu Ende aussprechen. Er hat Tränen in
den Augen.
Der junge Kamel Khaled Al-Nabulsi wartet in der Zwischenzeit weiter auf
Ankommende, wartet auf seinen Vater oder vielmehr dessen Spur. „Ich darf
als Jordanier gerade nicht nach Syrien, aber wenn die Grenze geöffnet wird,
werde ich gehen. Ich bin so glücklich, weil, jetzt fühle ich zu 90 Prozent,
dass mein Vater raus und am Leben ist.“ Die Videos und Nachrichten über
Folter in dem berüchtigten Gefängnis kennt er, konnte sie aber nie zu Ende
schauen. „Jedes Mal dachte ich: Das könnte mein Vater gerade durchmachen.“
Er schüttelt den Kopf.
Ein Bus mit etwa zwei Dutzend Menschen, Frauen mit Koffern und Taschen
sowie müde wirkende Männer fährt durch das Tor in jordanisches Gebiet. Es
sind Jordanier*innen, mithilfe der jordanischen Behörden evakuierte
Bürger*innen, die in Syrien waren, als das Regime kollabierte. Tote hätten
sie nicht gesehen. Demonstrationen, Chaos, ja. „Aber alles ist okay. Chaos,
ein wenig Chaos. Gestern mehr, weil es der erste Tag war, heute war es
besser. Es wird besser“, sagt eine junge Frau auf dem Weg zum Taxi, das sie
in Richtung Amman fahren wird.
## Danke, Jordanien – und ein Herz dazu
Auf der anderen Seite kommt ein Wagen an mit Koffern und Paketen auf dem
Dach, nicht stabil sieht das aus. Frauen und Kinder sitzen auch darin,
lächeln, winken, machen sich zur Einreise ins No-Man’s-Land bereit. Auf dem
Rückfenster hat jemand in weißer Schrift geschrieben: „Danke Jordanien“,
daneben ein gemaltes weißes Herz.
Nicht nur zurückkehrende Jordanier*innen überqueren den Übergang. Auch
Syrer*innen und Libanes*innen, die via Jaber eingereist sind, dürfen
derzeit wieder nach Syrien. Stunden vergehen hier heute – voller Bange,
Ungeduld, Vorfreude. Doch am Ende des Tages bleibt für manche ein bitterer
Beigeschmack. Denn als sich der Himmel über dieser Halbwüste rosarot färbt
und die Eisentore des Überganges für heute schließen, werden weder Familie
al-Frihat noch die al-Nabulsis glücklich nach Hause zurückkehren.
Von Vater al-Nabulsi gibt es noch keine konkrete Spur, al-Frihats Bruder
wird etwas länger bei den jordanischen Behörden bleiben müssen. Nur der
syrische Geflüchtete al-Hariri, der jetzt schon kein Geflüchteter mehr ist,
hat sein Ziel erreicht, es über die Grenze geschafft. Sein neues Leben
beginnt wahrscheinlich jetzt in Syrien – während die anderen noch auf ihr
altes warten.
10 Dec 2024
## LINKS
[1] /Sednaya-Gefaengnis-in-Syrien/!6051689
[2] https://www.kas.de/de/laenderberichte/detail/-/content/syriens-grosse-chance
[3] https://www.diepresse.com/19163135/extremismus-forscher-neumann-in-der-zib-…
## AUTOREN
Serena Bilanceri
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