# taz.de -- Radikalisierung in Jordanien: Ein Sturm zieht auf | |
> In Jordanien findet die Hamas immer mehr Anhänger, insbesondere bei der | |
> Jugend. Die Rekonstruktion eines Anschlags, bei dem drei Israelis | |
> starben. | |
Bild: Radikale Trauer: Begräbnis von Maher Diab al-Jazi, der drei Israelis ers… | |
Amman, al-Hussainyah und Ma’an Es ist kurz vor Mittag, vor dem Grab unweit | |
des Dorfs al-Hussainyah im südlichen Jordanien haben sich acht Männer | |
versammelt. Zwei von ihnen sind offensichtlich noch minderjährig, Kinder. | |
Sie tragen lange weiße Gewänder, die weiß-rote Kufija um den Kopf | |
gewickelt, einige nur einfache T-Shirts und Sporthosen, andere Markenhemden | |
und Adidas-Turnschuhe. | |
Auf der weiten Ebene aus Sand und Stein sieht man die Stelle kaum. | |
Aufgelockerte Erde, umgeben von grauen Backsteinen. Ein Blumenkranz, | |
angelehnt an die Steine, und ein auf weißes Papier gedrucktes Schild: „Der | |
Schrein des heldenhaften Märtyrers Maher Diab al-Jazi, möge Gott sich | |
seiner erbarmen und ihm einen Platz im Paradies gewähren“. Ringsum weitere | |
Gräber im nackten Staub und eine Mauer aus unverputzten Sandsteinen. | |
Die Männer hocken im Sand rund ums Grab, beten leise, rezitieren | |
Koransuren, schaufeln etwas Erde mit den Händen und riechen daran. „Es | |
duftet nach Moschus“, erläutert ein Cousin al-Jazis. „Das passiert, wenn | |
die Menschen als Märtyrer sterben“. | |
In der islamischen Tradition sind Leichen von ehrenvoll gestorbenen | |
Menschen etwas Besonderes: Sie sollen nicht verrotten, die Seele direkt ins | |
Paradies aufsteigen, die Erde auf dem Grab besonders riechen. Tatsächlich | |
riecht diese Erde nach Moschus und Amber. Nachzufragen, ob es dafür eine | |
wissenschaftliche Erklärung gebe, wäre jetzt nicht angebracht. Die Männer | |
beten weiter, al-Jazis Cousin schüttelt die Hand eines Bekannten, ein Mann | |
in blauem Gewand macht sich auf den Weg zu einem Pickup, der zehn Meter | |
weiter geparkt ist. Männer kommen und gehen, die Räder der Jeeps knirschen | |
auf dem Kies. | |
Maher al-Jazi ist der Mann, der am 8. September drei Israelis erschoss, am | |
Grenzübergang Allenby Bridge zwischen Jordanien und dem Westjordanland, ehe | |
er selbst niedergestreckt wurde. Wenige Kilometer weiter, außerhalb des | |
Friedhofs, steht im Dorf al-Hussainyah ein braunes Zelt mit beduinischen | |
Verzierungen, im Garten eines zweistöckigen Hauses mit rußigen Wänden, ein | |
wenig außerhalb des Zentrums. Es ist das Haus von al-Jazis Eltern. An der | |
Straße sind zwölf Autos geparkt, über dem Zelt thront ein Banner mit | |
al-Jazis Konterfei. Vor dem Zelt wartet ein Kind, ein Heranwachsender, | |
dunkle Haut, rundes Gesicht, braune Augen, die rote Kufija trägt er | |
ungefaltet. Kerzengerade hält es sich in seinem weißen Gewand. | |
Der Junge empfängt die Gäste, lächelt, schüttelt Hände, lächelt wieder ein | |
wenig verlegen, posiert für ein Bild mit einem älteren Mann, davor legt er | |
sich das rote Dreieck zurecht, das auf dem weißen Stoff heraussticht, damit | |
es gut sichtbar ist. Ein Symbol, das rote Dreieck, das für Palästina und | |
die arabische Unabhängigkeit steht – und in Kampfvideos der Hamas | |
israelische Ziele vor dem Angriff markiert. Das Kind lächelt noch mal, dann | |
wird sein Gesicht wieder ernst. Es wirkt gefasst, traurig, doch auch ein | |
wenig stolz. | |
Als Maher al-Jazi an jenem Morgen zur Arbeit fuhr, ließ er seine Ehefrau | |
und sechs Kinder zurück. Von seinen Söhnen hat er sich nicht verabschiedet, | |
„nichts“, bestätigt der älteste, der 13-jährige Gadar, was hätte darauf | |
hindeuten könnte, dass dies das letzte Mal war, dass sie ihren Vater sehen | |
würden. Gadar zögert kurz, als ob er noch etwas sagen möchte, wird dann | |
wieder still, schüttelt den Kopf. Neben ihm sitzt der Onkel al-Jazis, Habis | |
al-Jazi, ein Scheich, Oberhaupt des Stammes, ein etwas älterer Mann mit | |
weißer Kufija, Schnurrbart und grauem Gewand, die Hände in den Schoß | |
gelegt, als würde er beten. | |
Am Abend vor der Tat war al-Jazi noch jagen gegangen: Kaninchen-Saison. | |
Alles normal, alles wie immer. Was in ihm vorging, als er an jenem | |
Sonntagmorgen in seinen Lastkraftwagen voller Wasserkisten stieg und in | |
Richtung Grenze fuhr, darüber spekulieren seine Hinterbliebenen. | |
„Vielleicht haben sie ihn unter Stress gesetzt“, sagt der Onkel, und damit | |
meint er die Beamten an der Grenze. „Vielleicht war es das, was er in den | |
sozialen Medien sah. Er wollte eine Botschaft an den Westen schicken: Seht | |
ihr nicht, was mit den Palästinensern passiert?“ Doch so richtig weiß | |
niemand, was al-Jazi zu dem Anschlag auf die Israelis trieb, oder es will | |
niemand wissen. | |
Sicher ist, dass al-Jazi an jenem Morgen eine Pistole in den Lkw mitnahm. | |
Er hatte eine Lieferung ins Westjordanland zu bringen. Am Grenzübergang | |
Allenby Bridge stieg er aus und eröffnet das Feuer auf israelische | |
Security-Mitarbeiter, auf einem Parkplatz für den Güterverkehr. Nach allem, | |
was bekannt ist, soll er allein gehandelt haben. „Er gehörte keiner | |
politischen Gruppe an“, betont der Onkel. | |
Als die Nachricht durch die Medien geht, ist noch kein Name dabei. Erst | |
nach zwei Stunden ruft das Außenministerium an. „Die erste Reaktion war | |
menschlich“, sagt der Onkel und öffnet die Arme, legt die Hände aufs Herz: | |
Verzweiflung, will er sagen. Und doch sei er auch stolz auf die Tat seines | |
Neffen. „Es ist Gerechtigkeit, für das, was israelische | |
Politiker*innen palästinensischen Zivilist*innen angetan haben“, | |
findet der Mann. „Schau, wie viele umgebracht wurden“, fährt er fort. | |
Auf die Frage, was er ihm gesagt hätte, hätte al-Jazi ihn in seine Pläne | |
eingeweiht, hält der ältere Mann jedoch kurz inne, dann sagt er: „Ich hätte | |
ihn gebeten, zu warten.“ | |
Jordanien gilt eigentlich als friedliche Oase mitten in einem Unruheherd. | |
Im Norden grenzt es an Syrien, im Osten an den Irak und im Westen an Israel | |
und das Westjordanland. 1994 hat das Königreich einen Friedensvertrag mit | |
Israel unterzeichnet, seitdem bestehen Handelsabkommen und Kooperationen | |
zwischen den beiden Ländern. Angesichts der [1][Konflikte in Gaza] und | |
jetzt [2][im Libanon] sorgt dies jedoch bei vielen Jordanier*innen für | |
Zorn. | |
Im Trauerzelt bei dem Dorf al-Hussainyah sitzen 25 Männer auf verzierten | |
Stühlen, die sich entlang der Wände aneinanderreihen, sie trinken | |
beduinischen Kardamomkaffee und Wasser, sie essen süße Datteln. Frauen | |
trauern in separaten Räumen. Grelle Glühbirnen erhellen den Raum. Die | |
Männer, einige in Palitüchern, unterhalten sich. Einige schauen auf ihre | |
Handys, leises Stimmengewirr. Es ist nicht selbstverständlich, dass sie mit | |
einem westlichen Medium reden. Sie glauben, dort sei man sowieso auf Seiten | |
der Israelis und voreingenommen. | |
Vehement bestreiten die Männer, dass al-Jazi habe Zivilisten getötet hätte. | |
Sie hätten Waffen dabeigehabt, seien Soldaten gewesen. Der älteste Sohn | |
wiederholt, dass er allen, auch israelischen Kindern Frieden wünscht. Der | |
Scheich betont, und das im Namen aller Anwesenden, dass sie keine Juden | |
hassen würden. „Seit Jahrtausenden leben wir alle hier, in dieser Region. | |
Wir wollen nur wieder alle zusammen in Frieden leben.“ | |
Die Bilder an den Wänden zeigen fast alle denselben Mann: jung, ernst, mit | |
Schnauzbart und markanten Augenbrauen, in Polizeiuniform vor der | |
jordanischen Flagge, vor den Bergen der Wüste, in braunem Gewand. Daneben | |
Abbildungen von Mashour Haditha al-Jazi, Vorfahr des Stammes und | |
Generalleutnant der jordanischen Armee, der 1968 Jordanien in die | |
Al-Karameh-Schlacht gegen Israel zum Sieg führte. Al-Jazis Familie ist Teil | |
des Huwaitat-Stammes, der sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im | |
Süden des Landes niederließ, auch in der Region um Ma’an. | |
Die Großfamilie zählt traditionell zu den Staatstreuen, zum „Rückgrat der | |
jordanischen Monarchie“. Politiker hat sie hervorgebracht, darunter | |
Minister, Mitglieder der jordanischen Streitkräfte. Al-Jazi selbst war in | |
der Militärpolizei, 20 Jahre lang, an der Waffe ausgebildet, ehe er als | |
Lkw-Fahrer anfing. | |
Stämme genießen in Jordanien noch einen Einfluss, einen gewissen Status in | |
der Gesellschaft, wie Nahost-Experte André Bank erklärt. Jetzt aber spüre | |
man, vor allem in der benachteiligten Region um Ma’an, einen gewissen | |
Frust. Denn der Staat kann nach den Sparmaßnahmen und der Privatisierung | |
der vergangenen Jahre nicht mehr so viele Arbeitsplätze anbieten, die | |
früher an den Nachwuchs der Stämme gingen. | |
Hinzu kommt der Generationswechsel: Jüngere Jordanier*innen aus den | |
alteingesessenen Familien akzeptieren nicht mehr die Autorität der Älteren, | |
sie schaffen sich andere Bezugsfiguren. Die Stämme haben eigene Regeln, die | |
neben dem Gesetz das gesellschaftliche Leben bestimmen. | |
Al-Jazi könnte vom radikal-islamistischem Tribalismus beeinflusst worden | |
sein, findet Experte Bank. Dieser verbinde Stammesloyalität, etwa eine | |
konservative Familienorientierung und den Glauben an ein Patriarchat, mit | |
Engagement für die islamischen Belange. Dabei spielt Palästina immer mal | |
wieder eine Rolle. Doch auch unabhängig von dieser ungelösten Frage gebe es | |
„durch die große Frustration, die in Ma’an herrscht, einen sozialen | |
Nährboden für Radikalisierung“. | |
Zwar sei der Geheimdienst stark präsent in der Region, mit seinen | |
Agent*innen und Informant*innen. Diese behielten die Lage im Auge, sodass | |
sich kaum terroristische Netzwerke bilden könnten. Existenzgefährdend sei | |
die Lage also für die Monarchie nicht: „Der Regierung könnte es jedoch | |
Sorgen bereiten, dass eine Verbindung entsteht zwischen der sich entrechtet | |
fühlenden jordanischen Community und der Palästina-Frage“, mutmaßt Bank. | |
Außerhalb des Zelts der Familie al-Jazi, rings um das Haus mit den rußigen | |
Wänden, hinter den mageren Olivenhainen, streckt ein ausgedörrter, | |
gebeugter Baum die dünnen Zweige wie Arme gen Himmel. Kleine Gruppen von | |
Häusern durchbrechen die dürre Landschaft und trotzen der Hitze. | |
Auf der Autobahn, die die Hauptstadt Amman mit der Region verbindet, kommen | |
uns nur Lastkraftwagen entgegen. Es ist Freitag, Wochenende. Außerhalb des | |
Dorfes zieht die Fabrik vorbei, für die al-Jazi Lieferungen gefahren hat. | |
Verstaubte Lkws stehen regungslos auf dem Parkplatz. Bis auf das Rattern | |
der Motoren und das Rauschen des Windes ist kaum was zu hören. Doch diese | |
Stille liegt nicht nur über den Straßen, sondern auch auf der Gemeinschaft. | |
Fast niemand will hier mit der Presse reden, schon gar nicht über Politik. | |
Vielleicht ist es Angst, vielleicht Misstrauen. | |
Dann, mitten in der Wüste, einer endlosen Fläche aus dürrer Erde, Geröll | |
und ausgedörrten Büschen, auf der nur vereinzelte würfelförmige Bauten in | |
der Farbe des Sandes die Eintönigkeit unterbrechen, teils verschmutzt und | |
mit Telefonnummern auf die Wände gesprüht: In dieser Öde thront ein | |
Restaurant auf einem einsamen Rastplatz. Ein glitzernder Bazar verbirgt | |
sich in seinem Inneren, so bunt und blendend mit seinen Kristallen, | |
Mosaiken, farbenfrohen Kronleuchtern und Marmortischen, dass die Augen | |
wehtun. Ein Schloss in der Ödnis. | |
Mitten in dieser Farbenpracht steht ein Mann mittleren Alters, graue Haare, | |
grauer Kinnbart, das T-Shirt so bunt wie seine Umgebung. Und dieser Mann | |
will durchaus reden. Es herrsche Angst, weil die Regierung diese | |
„heldenhafte Tat“ nicht als solche anerkenne, erläutert er, an einem der | |
vielen Tische sitzend. Kurz nach dem Angriff betonte das jordanische | |
Außenministerium, man lehne Anschläge auf Zivilist*innen ab, egal aus | |
welchem Grund. „Für viele ist sie jedoch eine Heldentat. Laut unserem Stamm | |
soll man handeln, wenn man sieht, dass jemand getötet wird. Es ist eine | |
moralische Pflicht.“ Der Mann, der so redet, heißt Amir Huweitat, 51 Jahre | |
alt, ehemaliger Reiseleiter. Er ist Mitglied des Huweitat-Stammes. | |
In der Region herrsche Ruhe an der Oberfläche, doch unter der Oberfläche | |
„kocht es“, fügt er hinzu. Es liege an den Nachrichten, den tausenden toten | |
palästinensischen Frauen und Kindern, die man dort sieht. „Die Menschen in | |
Jordanien sind sehr wütend.“ Ein Großteil hat palästinensische Vorfahren. | |
Und die anderen leiden auf Seiten der Palästinenser*innen. Große Bewegungen | |
oder Aufstände seien jedoch nicht zu erwarten, glaubt Huweitat. Was | |
geschehen ist, sei die Aktion eines einsamen Wolfes gewesen, sagt er. Ehe | |
er aufsteht und weiter Kunden bedient, fügt er jedoch hinzu: „Es gibt aber | |
viele einsame Wölfe hier.“ | |
Damit dürfte er Recht haben. | |
Am 18. Oktober durchtrennen zwei Männer in Militärkleidung eine | |
Stacheldrahtbarriere, überklettern den Metallzaun, der Jordanien vom | |
Westjordanland trennt, und eröffnen das Feuer auf israelische Soldaten in | |
der Nähe der Siedlung Neot HaKikar am Toten Meer. Diese erwidern das Feuer, | |
die zwei Angreifer werden erschossen. | |
Die zwei Männer hießen Hossam Abu Ghazaleh und Amir Qawas, sie sind | |
Jordanier. Die islamistischen Muslimbrüder sollen bestätigt haben, sie | |
seien Mitglieder der Gruppe. Sprecher Moath al-Khawaldeh bestreitet indes | |
die Aussage gegenüber der taz. Der politische Arm der Muslimbrüder, die | |
Islamische Aktionsfront, die größte Partei Jordaniens, die [3][bei den | |
letzten Wahlen die meisten Sitze im Parlament bekam,] feiert jedoch die Tat | |
in einer Stellungnahme. Eine „heldenhafte Operation“, ein „wahrer Ausdruck | |
der Haltung der freien jordanischen Jugend“. | |
Einer der beiden Angreifer, Qawas, sprach in einer letzten Videobotschaft | |
vom Beginn einer „jordanischen Flut“, in Anlehnung an den Namen des | |
Massakers durch die Hamas am 7. Oktober in Israel, Al-Aqsa-Flut. Qawas | |
stachelte die Jordanier*innen auf zu weiteren Angriffen. Die Behörden | |
haben inzwischen laut Medienberichten mehrere Familienmitglieder der zwei | |
Männer festgenommen. Die Muslimbrüder haben jedoch die Tat als Einzeltat | |
beschrieben. | |
Sie sind indes nicht die einzigen, die solche Taten gutheißen. Nach | |
al-Jazis Angriff sprachen Parteien unterschiedlicher Couleur von einer | |
„Heldentat“ und gar einem „Märtyrer“. Das entspricht der Art, wie viele | |
hier fühlen. | |
In Jordanien leben etwa 2,5 Millionen palästinensische Geflüchtete, | |
meistens Vertriebene durch die Kriege 1948 und 1967, und deren Nachfahren, | |
die teils noch Verwandte in Gaza und dem Westjordanland haben – jedoch kein | |
Recht auf Rückkehr. Die Anteilnahme für die palästinensischen Opfer im | |
Nahostkrieg, die Wut auf die israelische Seite, ist also groß. Vor allem | |
jetzt, nach mehr als 43.000 Toten auf palästinensischer Seite. Bereits im | |
Dezember verurteilte weniger als die Hälfte der Bevölkerung laut einer | |
Umfrage der University of Jordan das Massaker vom 7. Oktober. Jordanische | |
Politiker*innen sind sich darüber bewusst, wie brenzlig die Lage | |
werden könnte. Solidarität zu zeigen ist inzwischen oberstes Gebot, um die | |
potenzielle Wut der Bevölkerung im Zaum zu halten. | |
Es ist Freitagabend, fünf Tage nach al-Jazis Angriff. Vor der | |
Al-Husseini-Moschee in der Altstadt Ammans marschieren einige hundert | |
Männer und Frauen, Familien mit Kleinkindern, und skandieren | |
Pro-Hamas-Parolen. „Wir sind alle Hamas“, ruft ein Mann, der auf einem | |
Lastkraftwagen die Menge anführt, in seinen Lautsprecher. Viele halten ein | |
nachgestelltes Bild von al-Jazi und von Abu Obaida in die Höhe, dem | |
Sprecher der Al-Qassam-Brigaden, andere zeigen das rote Dreieck der | |
Hamas-Solidarität. Inzwischen tragen Menschen bei Demonstrationen | |
öffentlich Symbole der Terrororganisation, die bisher in Jordanien nicht | |
sonderlich populär war. Und al-Jazi wird als Held gefeiert. | |
„Er wollte die Tötungen in Gaza stoppen“, sagt etwa eine 59-jährige | |
Protestierende. „Er tötete Sicherheitskräfte, anders als das, was gerade in | |
Gaza passiert, wo Frauen und Kinder sterben.“ Die Frau mit weißem Kopftuch | |
und blauem Kleid, die nur ihren Vornamen, Asma, preisgeben möchte, reckt | |
ein Schild in den Himmel: „Wir sind alle auf dem Weg des Märtyrers Maher | |
al-Jazi“. Die Menge ist bunt: junge Frauen in T-Shirts, Männer mit | |
Baseballcaps oder weißen Takkes, traditionellen Kopfbedeckungen. sie sind | |
jung, alt, konservativ, liberal. Chöre hallen durch die Luft, ein Lied | |
preist al-Jazi. „Er ist ein Held“, sagt ein 66-jähriger Mann. „Ich hoffe, | |
es wird mehr solcher Aktionen geben.“ Wer hier nach Verständnis für Israel | |
und sein Handeln sucht, wird lange suchen müssen. | |
Das Risiko einer politischen Extremisierung ist nach dem Krieg in Gaza auch | |
in Jordanien gestiegen. Expert*innen bestätigen das: In einem früheren | |
Interview sagte etwa der Sicherheitsexperte des Arab Institute for Security | |
Studies, Ayman Khalil, gegenüber der taz: „Die palästinensische Frage ist | |
einer der wichtigsten Faktoren überhaupt, wenn es um die Radikalisierung | |
von Jugendlichen geht.“ | |
Das zeigten auch frühere Untersuchungen, etwa unter jungen Jordanier*innen, | |
die in Syrien und dem Irak als ausländische Söldner kämpften. Die | |
US-amerikanische NGO Dawn zeigt sich ebenfalls besorgt: „Bewaffneter | |
Volkswiderstand gegen Israels Krieg in Gaza hat sich nun vom Libanon, Irak | |
und Jemen nach Jordanien ausgebreitet“, schreibt Dawn und plädiert für eine | |
Waffenruhe sowie ein US-Waffenexportverbot an Israel. | |
„Es besteht sicherlich das Risiko einer gesteigerten Radikalisierung wegen | |
des anhaltenden Kriegs in Gaza“, erklärt Sicherheitsexperte und | |
Ex-Geheimdienstoffizier Saud al-Sharafat. Es gebe bei den Menschen ein | |
„zunehmendes Gefühl von Wut“ und einen Wunsch nach Rache. Weitere solcher | |
Selbstmordaktionen könnten nicht ausgeschlossen werden, sollte der Krieg | |
andauern – genauso wenig eine Einmischung durch die Muslimbrüder. Der | |
Sprecher der Organisation sagt dazu lediglich, sie unterstützten „das Recht | |
der Palästinenser*innen, der israelischen Besatzung zu widerstehen“. | |
Sicherheitsexperte al-Sharafat findet indes nicht, dass die Bevölkerung | |
weiter in den Extremismus abdriftet. „Ich glaube, dass es nicht außer | |
Kontrolle geraten wird.“ | |
Auf dem Rückweg aus dem Dorf und dem Gedenkzelt al-Jazis, als der Wagen die | |
Autobahn entlangsaust, ballt sich der Sand am Horizont zusammen, bis Himmel | |
und Erde ineinander verschwimmen. Ein Sturm zieht auf, wächst langsam um | |
uns herum. Und wir befinden uns mittendrin. | |
14 Nov 2024 | |
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