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# taz.de -- Palästinenser:innen auf der Flucht: Fliehen oder bleiben?
> Die israelische Armee setzt ihre Offensive im belagerten Norden des
> Gazastreifens fort. Die Flucht bringt keine Sicherheit.
Bild: Gaza-Stadt am 12. November: Eine Palästinenserin flieht vor den Bomben d…
Als die israelische Armee Anfang Oktober ihre Offensive in Nordgaza
startet, stehen die Geschwister Enas und Kassim vor einer schweren
Entscheidung: Fliehen oder bleiben? Das Haus ihrer Familie liegt am
nördlichsten Rand von Beit Lahia, unweit der israelischen Grenze. Ihr
ganzes Leben haben sie dort verbracht. Ihr Großvater will und kann das Haus
nicht verlassen,und auch sie selbst fürchten, vielleicht nie wieder
zurückkehren zu dürfen.
Sie kennen die Bilder religiös-extremistischer israelischer Aktivisten, die
sich hinter der Grenze darauf vorbereiten, jüdische Siedlungen auf den
Trümmern der palästinensischen Städte zu errichten, erzählen Enas und
Kassim der taz. Doch die Explosionen und die israelischen Soldaten rücken
näher.
Hinzu kommt: Seit Wochen haben kaum noch Hilfslieferungen den nördlichsten
der fünf Bezirke des Gazastreifens erreicht. Laut UN halten sich derzeit
noch rund 95.000 Menschen im Bezirk Nord-Gaza auf, etwa ein Fünftel der
Vorkriegsbevölkerung. Die unabhängige IPC-Initiative für
Nahrungsmittelsicherheit warnt, dort stehe eine Hungersnot „unmittelbar
bevor“. Nach Gaza-Stadt sind es nur wenige Kilometer.
Den Oktober über beobachten Enas, Kassim und ihre Nachbarn in Beit Lahia,
wie die Armee in die Nachbarstadt Dschabalija vorrückt. Laut Israel gilt
die Offensive neu gruppierten Hamas-Mitgliedern in dem Gebiet. Soldaten
stürmen die letzten teilweise noch arbeitenden Krankenhäuser, Bomben fallen
auf Wohnhäuser und auf zu Flüchtlingsunterkünften umfunktionierte Schulen.
Am 6. November, als die Armee die Bodenoffensive auf Beit Lahia ausweitet,
entschließen sich die 24-jährige Enas und ihre Familie zur Flucht in den
Süden. Kassim, der 26-jährige Bruder, bleibt mit dem 75-jährigen Großvater
zurück. Der volle Name ihrer Familie ist der Redaktion bekannt, aus
Sicherheitsgründen soll er nicht in der Zeitung stehen.
## Quadrokopter-Drohnen, die „auf alles schießen, was sich auf der Straße
bewegt“
Allen ist klar, worauf der Bruder sich einlässt. Es ist bereits das dritte
Mal binnen eines Jahres, dass die Armee in das heute weitgehend zerstörte
Beit Lahia eindringt. „Bei Luftangriffen kommen mittlerweile keine
Krankenwagen mehr“, berichtet Kassim eine Woche nach der Flucht seiner
Schwester am Telefon. In den Krankenhäusern können die wenigen verbliebenen
Ärzte kaum noch etwas für Kranke und Verletzte tun. „Wir wickeln die Toten
in Plastiktüten statt in Tücher und wir begraben sie auf der Straße
[1][statt auf Friedhöfen]“, erzählt Kassim.
Enas und ihre Familie fliehen zu Fuß. „Wir sind aufgebrochen mit Hunderten
anderen, haben nur mitgenommen, was wir tragen konnten“, sagt sie am
Telefon. Der Fluchtweg führt durch das belagerte Dschabalija. Als sie die
Salah al-Din-Straße im Osten der Stadt erreichen, stoppen Soldaten die
Fliehenden. „Sie haben Frauen und Kinder auf die eine Seite und meinen
Vater und meinen 15-jährigen Bruder auf die andere geschickt“, sagt Enas.
Als die Familie auf die beiden warten will, fordert eine
Quadrokopter-Drohne sie per Lautsprecher auf, weiterzugehen.
„Ich erinnere mich an die schweren Taschen auf meinen Schultern, die Bitten
meiner elfjährigen Zwillingsschwestern, die ihre Rucksäcke nicht mehr
tragen konnten und die Angst vor der surrenden Drohne über unseren Köpfen“,
sagt Enas. Sie habe zuvor gesehen, wie solche Quadrokopter-Drohnen „auf
alles schießen, was sich auf der Straße bewegt“.
Zahlreiche Palästinenser haben von Schüssen auf Fliehende berichtet. Die
New York Times hat ein Video verifiziert, das eine Gruppe Fliehender am 7.
Oktober zeigt, die in Dschabalija unter Beschuss kommt. Palästinenser
haben israelische Soldaten dafür verantwortlich gemacht. Die Armee hingegen
wirft der Hamas vor, Menschen von der Flucht abhalten zu wollen. Beides
lässt sich nicht verifizieren. Enas’ Gruppe gerät während der Flucht nicht
unter Beschuss. „Einige Soldaten haben uns gedroht, auf uns zu schießen,
wenn wir nicht weitergehen“, sagt sie. Ein anderer Soldat habe ihnen auf
ihre Bitte hin Wasser gegeben.
Am Abend stoßen Vater und Bruder in Gaza-Stadt wieder zu Enas und ihrer
Familie. Sie berichten, wie Dutzende der Männer gezwungen wurden, sich
auszuziehen. Ihnen seien weiße Kittel angezogen und Augenbinden angelegt
worden. Ein vom britischen Sender Sky News verifiziertes, am 23. Oktober
veröffentlichtes Video zeigt eine solche Verhaftung in Dschabalija. Die
genauen Umstände der Aufnahme sind unklar. Als der Bruder an die Reihe kam,
habe ihm der Soldat mit dem Gewehrkolben auf den Kopf geschlagen und ihm
befohlen, sich vor eine Kamera zu stellen, erzählt Enas. Einige seien
gefesselt abgeführt worden. Laut der israelischen Armee würden Verdächtige
für weitere Befragungen nach Israel gebracht. Israel hat nach eigenen
Angaben im Oktober laut einem Bericht der New York Times 500 Hamas-Kämpfer
festgenommen und 750 getötet.
## „Systemischer Missbrauch und Folter“ palästinensischer Häftlinge
Laut der palästinensischen Menschenrechtsorganisation Addameer sitzen in
israelischen Gefängnissen derzeit rund 10.000 Palästinenser, mehr als 3.000
von ihnen in Administrativhaft ohne Anklage oder bekannte Vorwürfe. Hinzu
kommt eine unbekannte Anzahl gefangener Palästinenser aus Gaza. Die
israelische Armee sagt, in Gaza festgenommene Palästinenser würden „in
Übereinstimmung mit internationalem Recht“ behandelt. Freigelassene
berichten jedoch von Gewalt und erniedrigenden Behandlungen.
Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem spricht unter Berufung
auf 55 Aussagen von freigelassenen Palästinensern von „systemischem
Missbrauch und Folter“. Enas erzählt, ihr 15-jähriger Bruder habe vor Angst
gezittert, als ihn die Soldaten von der Familie trennten.
Seit ihrer Ankunft ist die Familie im zerstörten Gaza-Stadt auf der Suche
nach einem Ort, wo sie bleiben können. Die Frauen schlafen jeden Tag in
anderen Unterkünften oder Hausruinen, der Vater und der Bruder in einem
kleinen Zelt, das sie bei der Flucht mitnehmen konnten.
Kassim hat mit seinem Großvater schließlich doch Zuflucht in einer
Unterkunft für Geflüchtete im Zentrum von Beit Lahia gesucht. „Auf dem Weg
dahin haben wir Leichen auf der Straße liegen sehen, an denen Hunde und
Katzen gefressen haben. Eine haben sie in zwei Teile zerrissen. Ich werde
diese Szene nie vergessen“, sagt er. Jetzt schläft Kassim mit seinem
Großvater in einer ehemaligen Schule. Sicher sind sie auch dort nicht.
Israel hat in den vergangenen Monaten regelmäßig solche Unterkünfte
bombardiert und von Angriffen auf Hamas-Kontrollzentren gesprochen.
Das UN-Menschenrechtsbüro legte Anfang des Monats eine Berechnung vor, der
zufolge Fünf- bis Neunjährige die größte Altersgruppe unter den laut
palästinensischen Angaben mehr als 43.000 getöteten Bewohnern des
Gazastreifens ausmachen. Mehr als 100.000 sollen verletzt worden sein.
## „Plan der Generäle“
Hinzu kommen Hunger und Durst: „Es gibt kaum noch Nahrungsmittel, die
Marktstände sind verschwunden“, sagt Kassim. Für ein Kilo Gurken, das
früher umgerechnet 50 Cent gekostet habe, könne man heute 30 Euro bezahlen.
Auch Konserven seien teuer und oft abgelaufen, besonders Kinder seien
unterernährt. „Meine Großmutter ist gestorben, weil wir zu wenig zu essen
hatten und sie keine Diabetesmedikamente mehr bekam“, sagt Kassim. Seine
Tante starb an einem Herzinfarkt, der nicht behandelt werden konnte.
Menschenrechtsgruppen und Hilfsorganisationen werfen Israel vor, durch
seine Blockade von Hilfslieferungen in den Norden Hunger als Kriegswaffe
einzusetzen. Seit Monaten ist die Zahl der humanitären Hilfstransporte
drastisch gefallen. Eine 30-tägige Frist der USA, täglich mindestens 350
Lastwagen nach Gaza zu lassen, verstrich weitgehend wirkungslos. Gerade
einmal 12.600 Tonnen Nahrungsmittel gelangten nach israelischen Angaben bis
Mitte November in den Küstenstreifen. Im Mai waren es noch 117.000 Tonnen.
Kaum etwas davon erreicht den Norden.
Auch wenn die israelische Regierung es mehrfach dementiert hat: All das
klingt im Wesentlichen wie eine teilweise Umsetzung dessen, was in Israel
im September als „Plan der Generäle“ bekannt geworden ist. Dieser Vorschlag
ehemaliger Offiziere sieht vor, alle Zivilisten aus dem Norden zu
evakuieren und anschließend alle [2][verbliebenen Menschen auszuhungern].
„Die israelische Armee sagt, dass sie nur gegen die Militanten im Norden
vorgehen will, aber stattdessen zerstören sie alles: Zivilisten, Häuser,
Felder“, sagt Kassim. „Unsere Lebensgrundlagen wurden zerstört, um uns
[3][zur Flucht zu zwingen].“
Experten bezweifeln den militärischen Nutzen der Maßnahme: Die Hamas könne
nach der Umsetzung schlicht zurückkehren, wie sie das nach den zwei
vergangenen Offensiven im Norden getan hat. „Wir haben Angst, dass Israel
das Gebiet besetzen wird“, sagt Kassim. „Ich bin im Norden geblieben, damit
es für meine Familie eine Hoffnung auf Rückkehr gibt.“
## UN-Generalsekretär António Guterres warnt vor „ethnischen Säuberungen“
Seine Befürchtungen sind nicht ohne Grund. Am 21. Oktober veranstaltete die
israelische Siedlerorganisation Nachala eine Konferenz zur
Wiederbesiedlung Gazas in direkter Nähe zum Grenzzaun. Unter den
Teilnehmern waren auch mehrere Minister und Abgeordnete aus Netanjahus
Likud-Partei. Je nach Umfragen befürworten 30 bis 40 Prozent der
israelischen Bevölkerung eine Wiederbesiedlung des Gazastreifens.
Zusätzlichen Schwung könnte die Bewegung zudem durch die Wiederwahl von
Donald Trump zum US-Präsidenten bekommen. Und: Der rechtsnationale Israeli
Yechiel Leiter soll zum neuen US-Botschafter in Washington werden.
In einem Pressebriefing äußerte ein israelischer General vergangene Woche,
es gebe „keine Absicht, den Bewohnern aus dem Norden eine Rückkehr zu
erlauben“. Die Armee ruderte bereits einen Tag später zurück. Die Zitate
seien aus dem Kontext gerissen und würden „nicht die Werte und Ziele der
Armee widerspiegeln“. Israels neuer Außenminister Gideon Saar sagte, die
Bewohner könnten nach dem Krieg zurückkehren.
In Gaza, wo viele Nachkommen von 1948 aus dem heutigen Israel vertriebenen
Palästinensern leben, schenkt man solchen Beteuerungen nur wenig Vertrauen.
Sowohl UN-Generalsekretär António Guterres als auch die israelische Zeitung
Haaretz warnten angesichts der vollständigen Abriegelung des Nordens
eindringlich vor [4][„ethnischen Säuberungen“]. Dem will Kassim nicht
nachgeben: „Am Ende ist es nirgendwo in Gaza für uns sicher“, sagt er. Er
habe auch Freunde verloren, die in die humanitäre Zone im Süden geflohen
seien. „Der Tod wartet hier überall.“
Enas in Gaza-Stadt bereut ihre Flucht, trotz der großen Gefahr im Norden:
„Ich glaube nicht, dass sie uns in unser Haus zurückkehren lassen.“ Der
Krieg hat so viel zerstört, im Gazastreifen und in den Menschen. „Was
wollen sie noch von uns?“, fragt sie an Israel gerichtet und fügt hinzu:
„Ich wünschte, ich wäre geblieben. Wenn der Tod mich dort erreicht hätte,
ich wäre zufriedener, als ich es hier bin.“
16 Nov 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Malak Tantesh
Felix Wellisch
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