# taz.de -- Massengräber in Syrien: Graben nach Antworten | |
> Mehr als ein Dutzend Massengräber sind in Syrien nach dem Fall Assads | |
> entdeckt worden. Verzweifelte Menschen suchen nun nach den Überresten | |
> ihrer Angehörigen. | |
Bild: Angehörige suchen an einem mutmaßlichen Massengrab nahe Damaskus nach S… | |
Adra taz | Auf einer weiten Fläche, etwa so breit wie ein Fußballfeld, | |
gräbt ein Mann mit nackten Händen in der Erde, im Gesicht eine Mischung aus | |
Wut und Verzweiflung. Er steht in einem hüfthohen Loch, das bis vor Kurzem | |
mit Steinplatten bedeckt war. Schotter lag darauf, wie überall auf dem | |
Gelände. Mit Geröll überzogene Graben wellen die Oberfläche ringsum. | |
Der Mann, Tarnfleck und Bart, gräbt nach Antworten, könnte man sagen. Er | |
will eine Vergangenheit ans Licht bringen, die manche am liebsten der | |
Dunkelheit überlassen möchten. Der Mann sucht die Überreste seines Vaters, | |
im [1][berüchtigten Gefängnis Sednaya] inhaftiert, seit 2018 verschollen. | |
Ein Ex-Gefangener hätte ihn erkannt. „Jemand hat gesagt, er sei hier, aber | |
ich finde ihn nicht“, antwortet der Mann aufgeregt auf die Frage, was er | |
hier gerade tue. Gestern habe er in einem Facebook-Video gesehen, wie | |
Menschen die Massengräber hier auf dem Gelände öffnen. Sieben Skelette | |
hätte man aus der Erde geborgen. Er sei sofort herbeigeeilt. | |
Kühle, klare Luft liegt an diesem Morgen über dem Feld, die Berge des | |
Qalamoun ragen im Hintergrund, jenseits der Mauer, die die Fläche | |
umschließt. Leere Häuschen, wie Kontrollposten, stehen verwaist am Eingang, | |
über den Gräben liegen ein paar Steinplatten. Sie ähneln Grabsteinen. „Sie | |
sind fake“, sagt der Mann. „Dies ist ein Massengrab.“ | |
## Mitten im Schmutz liegen Knochen | |
In dem Loch, in dem der Mann steht, liegen mehrere Säcke. Er holt einen | |
heraus, einen industriellen Schwerlastsack aus weißem Kunststoff, | |
„texturiertes Soja“ ist darauf in Englisch und Spanisch gedruckt. Daneben | |
liegen andere, auf ihnen stehen arabische Namen. Und Zahlen. Sie sollen den | |
Häftlingsnummern der Gefangenen in Sednaya entsprechen, aus den Registern, | |
so sagt es der Mann, der anonym bleiben möchte, und gerade den weißen Sack | |
öffnet. | |
Hier, mitten im Schmutz, liegt etwas, das wie die Knochen eines erwachsenen | |
Menschen aussieht. Doch anscheinend lässt weder der Name noch die Zahl auf | |
der industriellen Verpackung auf den Vater schließen. Der Mann verschließt | |
den Sack wieder und legt ihn in das anonyme Grab zurück. Irritiert, | |
entmutigt. „Ich habe keine Kontakte, aber ich appelliere an den | |
Zivilschutz, die Weißhelme, hierher zu kommen und die Leichen zu | |
registrieren, ihre Namen, Nummern, damit ihre Familien sie finden können.“ | |
Doch den Weißhelmen, [2][einer privaten Hilfsorganisation], ist der Ort | |
bekannt. Er liegt neben der Bagdad-Brücke in der Nähe des Dorfs Adra, etwa | |
25 Kilometer von der syrischen Hauptstadt Damaskus und nur 20 Kilometer von | |
[3][Sednaya entfernt, dem Militärgefängnis, in dem Tausende Männer und | |
Frauen in den vergangenen 37 Jahren verschwunden sind]. Viele von ihnen, | |
vor allem nach Beginn des Bürgerkriegs 2011, politische Gefangene. | |
Ein Foltergefängnis, in dem Schmerz und Demütigung auf der Tagesordnung | |
standen und in dem laut Menschenrechtsorganisationen allein zwischen 2011 | |
und 2015 mindestens 13.000 Menschen außergerichtlich hingerichtet wurden. | |
Informanten und ehemalige Inhaftierte berichten, dass die Leichen teilweise | |
in Massengräbern verscharrt wurden. Mehr als ein Dutzend von ihnen kamen in | |
den letzten zwei Wochen ans Licht, nach dem Sturz von Diktator Baschar | |
al-Assad. Viele weitere könnten noch unter der Erde warten. | |
## Organisierte Massengräber | |
Denn Sednaya war nicht das einzige Militärgefängnis. Von mehr als 100.000 | |
Gefangenen im ganzen Land ist das Schicksal unklar, weitere Menschen sind | |
sogenannten enforced disappearances, dem gewaltsamen Verschwindenlassen, | |
zum Opfer gefallen. Insgesamt 150.000 werden laut Schätzungen verschiedener | |
NGOs vermisst. | |
Das Massengrab neben der Bagdad-Brücke liegt auf dem Gelände eines | |
ehemaligen Militärpostens. „Es gab vorne Checkpoints, das Gebiet wurde vom | |
syrischen Militär überwacht“, erzählt Ammar al-Selmo von den Weißhelmen. | |
Niemand sonst dürfte sich dem Gelände nähern. „In jedem Loch gibt es sieben | |
bis acht Säcke. Wir kamen, weil ein Zivilist eines dieser Löcher öffnete.“ | |
Die Skelette seien zur Identifikation in ein Krankenhaus gebracht worden. | |
Die Namen und Zahlen auf den Säcken deuteten auf ein organisiertes, | |
systematisches Massengrab hin. Einer vollständigen Untersuchung will der | |
Weißhelme-Mitarbeiter aber nicht vorgreifen. | |
Derzeit gräbt die Organisation keine Massengräber aus. Nur freiliegende | |
Leichen würden geborgen, 600 hätten sie bislang gefunden. An manchen Orten | |
seien sie einfach in Gruben geworfen worden, ohne Säcke. An manchen rechnet | |
man mit Tausenden Körpern. 36 Massen- und individuelle Gräber habe man | |
bislang entdeckt, sagt al-Selmo. [4][Am Standort al-Qutayfah vermutet die | |
US-Menschenrechtsorganisation Syrian Emergency Task Force die Überreste von | |
mindestens 100.000 Menschen]. Die Schätzung beruht auf Berichten von | |
Augenzeugen, nach denen Bulldozer die Körper mehrfach komprimierten, um | |
Platz für neue zu schaffen. | |
## NGOs fordern Beweise zu sichern | |
Nicht nur das Regime habe Leichen verschwinden lassen, sondern auch die | |
Milizen, sagt al-Selmo. Niemand weiß so richtig, wie viele Grabstätten und | |
wie viele Leichen sich noch unter der syrischen Erde verstecken. „Es sind | |
viele. Bis jetzt sind wir am Dokumentieren und Verhandeln“, sagt al-Selmo. | |
Er hofft, dass eine nationale Untersuchungskommission ins Leben gerufen | |
wird. Bis dahin appellieren die Weißhelme an die Bevölkerung, die | |
Massengräber nicht zu öffnen. „Es ist nicht gesund.“ | |
Zusammen mit den Leichen liegen auch die Hoffnungen Tausender Familien | |
begraben, ihre vermissten Angehörigen irgendwo noch am Leben zu finden. | |
NGOs wie Human Rights Watch haben jüngst an die syrischen Behörden | |
appelliert, die Beweise der Grausamkeiten von Assads Regime zu sichern. | |
Nicht nur Geheimdienstdokumente, sondern auch die Funde aus den | |
Massengräbern. | |
Mit jeder Sekunde, die vergeht, steige das Risiko, dass Familien nie das | |
Schicksal ihrer Liebsten erfahren, sagte Shadi Haroun vom Verein für | |
Verschwundene und Gefangene in Sednaya. Ein Bericht von Amnesty | |
International aus dem Jahr 2017 stellte fest, dass Hingerichtete und zu | |
Tode Gefolterte aus dem Gefängnis in anonymen Massengräbern an geheimen | |
Orten verschwanden, ohne dass die Familien Kenntnis davon bekamen. | |
Auf der trostlosen Weite neben der Schnellstraße sind plötzlich entfernte | |
Explosionen zu hören. Der Mann in Tarnfleck schüttet wieder zu, was er | |
ausgegraben hat, dann verlässt er das öde Gelände. Ohne die Antworten, nach | |
denen er sucht. Die liegen vermutlich irgendwo anders begraben. | |
4 Jan 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Foltergefaengnis-in-Syrien/!6052798 | |
[2] /Aufnahme-syrischer-Zivilschuetzer/!5519590 | |
[3] /Foltergefaengnis-in-Syrien/!6052798 | |
[4] https://www.reuters.com/world/middle-east/least-100000-bodies-syrian-mass-g… | |
## AUTOREN | |
Serena Bilanceri | |
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