| # taz.de -- Buchmesse-Gastland Georgien: Die Zukunft liegt im Westen | |
| > Der Historiker Timothy Snyder beschreibt den russischen Einfluss auf | |
| > postsowjetische Länder. Georgiens Aufbruch lässt sich in der Literatur | |
| > ablesen. | |
| Bild: Ein Plakat auf einer Kundgebung gegen den russischen Südossetien-Einmars… | |
| „Die Quintessenz der russischen Außenpolitik“, so Timothy Snyder, „ist e… | |
| strategischer Relativismus: Russland kann nicht stärker werden, also muss | |
| es andere schwächen.“ Detailliert beschreibt der nordamerikanische | |
| Historiker und Osteuropa-Experte in „Der Weg in die Unfreiheit“, wie die | |
| russische Führung in den letzten Jahren dabei vorging. Und was im Westen so | |
| viele schlafwandlerisch bis heute ignorieren. Die vollzogene | |
| Gleichschaltung im Inneren Russlands (2011/2012) begleiteten im Äußeren | |
| Desinformationskriege gegen den „westlichen Liberalismus“, gegen USA und | |
| Europäische Union. | |
| Wladimir Putins Propagandaspezialisten greifen dabei je nach Adressat | |
| gezielt auf antiwestliche Stereotype der alten Linken oder der | |
| faschistischen Rechten zurück, um jeweils besser anzudocken. Putin bezieht | |
| sich, so Snyder, in seiner rotbraunen Mixtour, für sein neues Russland auf | |
| faschistische Denker wie Iwan Iljin, die er mit Stalinismus und | |
| christlich-völkischen Traditionen der russischen Orthodoxie verschränkt. | |
| Den „naiven Umgang“ (Snyder) der westlichen Öffentlichkeit mit den neuen | |
| sozialen Medien nutzten (und nutzen) Putins Medien-Trolle und | |
| Manipulationsspezialisten gnadenlos aus. Systematisch streuen sie über die | |
| sozialen Netzwerke ihre Fake News. Ob russische Söldner ein | |
| Passagierflugzeug abschießen oder Territorien unabhängiger Staaten (wie in | |
| Georgien oder der Ukraine) besetzen, ob Propagandaspezialisten die Stimmung | |
| bei Wahlen wie in den USA zugunsten Donald Trumps beeinflussen oder den | |
| staatsterroristischen Luftkrieg gegen die Bevölkerung Syriens rechtfertigen | |
| – in wichtigen strategischen Momenten werden Unwahrheiten gestreut, um die | |
| offenen Systeme des Westens und deren Gesellschaften so zu attackieren, zu | |
| verunsichern und zu schwächen. | |
| Und immer wieder finden sich die Querdenker an den Rändern der orthodoxen | |
| Linken wie der extremen Rechten (von Oskar Lafontaine/Sahra Wagenknecht | |
| über Peter Gauweiler bis Alexander Gauland) um aus den Echoräumen alter | |
| (national)sozialistisch geprägter Klassenkampf-Ideologien eifrig zu | |
| sekundieren. Der rechte Teil der Mitte in Deutschland träumt dabei | |
| mittlerweile offen [1][von einer Koalition aus CDU und AfD,] die extreme | |
| Rechte wie die orthodoxe Linke von einer Zerschlagung der Europäischen | |
| Union zugunsten einer Annäherung (völkischer Nationalstaaten) an Putins | |
| Russland. | |
| ## Eine erfolgreiche Waffe | |
| Für Russlands Rechte ist die Demokratie „ein Stand der Sünde“, die | |
| russische Nation heilig, Putin ihr unumstrittener „Führer“ und „Erlöser… | |
| Der Westen sei schwach, schwul und verkommen – Homosexualität eine perfide | |
| bevölkerungspolitische Waffe der westlichen Globalisierung, um den | |
| russischen Volkskörper zu schrumpfen. Für Snyder stellt Putins | |
| männlich-nationalistischer Überlegenheitskult eine simple, aber leider auch | |
| sehr erfolgreiche Waffe dar. Die Staatspropaganda übertüncht somit, wie | |
| ungleich Russland heute ist, wie sehr sich die regierenden korrupten | |
| inländischen Oligarchen-Clans an der Allgemeinheit bereichern. | |
| Snyder erinnert daran, wie ein demokratiefähiger Institutionenaufbau in | |
| Russland in den 2000er Jahren scheiterte und Putin die rechtsstaatliche | |
| Entwicklung verwarf. Außenpolitisch machte sich die Abkehr mit zunehmenden | |
| Cyberattacken auf die baltischen Staaten, die EU und die USA bemerkbar. Mit | |
| dem Georgienkrieg 2008 und der Besetzung der georgischen Provinzen | |
| Abchasien und Südossetien verwarf Russland eine europäische | |
| Entwicklungsperspektive. | |
| Seither heißt das Projekt nicht mehr Transformation zu einer Demokratie und | |
| allmähliche Integration nach Europa sondern „Eurasien“. Es beinhaltet die | |
| Rückbesinnung auf den zaristischen und zwischenzeitlich sowjetisch | |
| firmierenden russischen Imperialismus, dessen Großraum- und | |
| Kolonialpolitik. | |
| Die Georgier bekamen dies zu spüren, sechs Jahre bevor Putins Armee dann | |
| die Ukraine überfiel und die Krim besetzte. Durch konstruierte | |
| Minderheitenkonflikte will Putin eine weitere demokratische Entwicklung und | |
| West-Integration in seinen Nachbarschaften verhindern. Wo die Grenzen | |
| wandern und jederzeit heiß zu machende Territorialkonflikte bestehen, ist | |
| eine Mitgliedschaft in EU und Nato nur schwer vorstellbar. | |
| ## „Politik der Unausweichlichkeit“ | |
| Georgiens Intellektuelle sind nicht antirussisch, so sie sich nach Westen | |
| orientieren. Sie wollen eine offene und gerechtere Gesellschaft, in denen | |
| die Menschenrechte staatlich garantiert sind. Zu Sowjetzeiten waren sie das | |
| nicht. In Frankfurt auf der Buchmesse werden Persönlichkeiten aus Georgien | |
| wie Lewan Berdsenischwili von ihren Erfahrungen mit Büchern wie „Heiliges | |
| Dunkel. Die letzten Tage des Gulag“ berichten. Es lohnt sich, ihnen | |
| zuzuhören. Genauso Schriftstellern wie Aka Mortschiladse, der mit seinem | |
| Roman „Die Reise nach Karabach“ in den 1990ern einen Klassiker für das | |
| Chaos der frühen Nach-Sowjet-Zeit in Georgien schuf. | |
| [2][Georgien hat sich eine eigenständige Architektur, Kultur und Literatur] | |
| über die Sowjetzeit hinaus bewahrt. Die periphere Lage am Südkaukasus war | |
| für die etwa 4 Millionen Einwohner wohl eher günstig. Heute strömen die | |
| Touristen wieder in Massen in das Land. Sie genießen den georgischen Wein, | |
| das gute Essen, die Gastfreundschaft, das milde Klima an der Küste und die | |
| malerischen Gebirgszüge mit den zahlreichen mittelalterlichen Stätten. | |
| Wie sehr diese postsowjetische Gesellschaft heute in Aufbruch begriffen | |
| ist, um sexuelle und materielle Freiheiten ringt, lässt sich gerade an | |
| ihrer Gegenwartsliteratur ablesen. An den Büchern der seit Jahren in | |
| Deutschland lebenden Nino Haratischwili etwa oder an den Romanen | |
| [3][jüngeren georgischer Autor*innen wie Nana Ekvtimischvili] oder Davit | |
| Gabunia. | |
| Historiker Snyder definiert den früheren Stalinismus als eine „Politik der | |
| Unausweichlichkeit“. Sie hatte sich den Mantel eines unhinterfragbaren | |
| Fortschrittsglaubens umgehängt. Die neuen Oligarchen und Putin | |
| transformieren diese Idee, so Snyder, in eine „Politik der Ewigkeit“, eine | |
| quasi spirituell, völkisch und natürlich begründete Überlegenheitstheorie | |
| der Russen samt ihres großen Führers. | |
| In deren Augen ist der „Westen“ kein geografischer Begriff, sondern eine | |
| abzulehnende, liberale und dekadente Wertegemeinschaft. Nach Snyder steht | |
| Wladimir Putin jemanden wie Donald Trump von daher sehr viel näher, als es | |
| die gegenwärtigen Regierungen in Tiflis oder Moskau tun. Nur sind weder | |
| Putins noch Trumps Vorstellungen von Politik sehr reform- oder | |
| nachfolgefähig. In diesem Sinne: Georgiens Zukunft liegt im Westen. | |
| 9 Oct 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
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