# taz.de -- Autorin Ekvtimishvili über Georgien: „Frauen ertragen den Stills… | |
> Georgien ist das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse. Junge | |
> Autorinnen wie Nana Ekvtimishvili streben nach Europa. | |
Bild: Nana Ekvtimishvili stellt auf der Buchmesse ihren Roman „Birnenfeld“ … | |
taz am wochenende: Frau Ekvtimishvili, Ihr Romandebüt „Das Birnenfeld“ | |
erscheint jetzt zur Frankfurter Buchmesse in deutscher Übersetzung im | |
Suhrkamp Verlag. Sie erzählen von der fast erwachsenen Lela und ihren | |
jüngeren Mitschülern. Sie wachsen am Rande von Tbilissi in einer | |
sogenannten Debilenschule auf, einem Internat für lernbehinderte Kinder. | |
Was für eine Welt beschreiben Sie da? | |
Nana Ekvtimishvili: Vor allem eine vergessene. Ich bin in Tbilissi ganz in | |
der Nähe von einem Kinderheim aufgewachsen. Uns trennte nur ein Zaun, die | |
Höfe der Häuser stießen aneinander. Ich bin mit diesen Kindern groß | |
geworden. Wir haben zusammen gespielt. Und trotzdem schienen sie für die | |
Erwachsenen unsichtbar zu sein. | |
Welchen historischen Moment skizzieren Sie in der Geschichte über das | |
Kinderheim? | |
Nach 70 Jahren Kommunismus hatte sich die Sowjetunion aufgelöst. Die | |
Entwicklung in Georgien Mitte der neunziger Jahre war chaotisch und | |
richtungslos. Es gab bürgerkriegsähnliche Zustände. Das Rechtssystem | |
funktionierte nicht. Selbst in meiner Schule sind wir irgendwann nicht mehr | |
zum Unterricht gegangen. Doch von der Außenwelt komplett übersehen wurden | |
Kinder, die in Einrichtungen gingen wie jene, von der mein Buch erzählt. | |
Sie beginnen Ihren Roman mit einem historischen Exkurs über die ukrainische | |
Stadt Kertsch. Die wurde von der deutschen Wehrmacht zerstört und später | |
vom Stalinismus beherrscht. Dieser Ort gab der Straße, in der Ihre | |
Geschichte spielt, den Namen. Worum wählten Sie diesen Einstieg? | |
Diese Schule ist für mich wie ein Relikt der Sowjetunion. Was dort | |
passiert, ist eine Fortsetzung der Unmenschlichkeit totalitärer Systeme. | |
Wie geht man mit den Schwachen und Bedürftigen um? Es war mir wichtig, | |
diesen Ort konkret zu benennen. Denn: Das ist Georgien, das ist Tbilissi, | |
das ist ein Randbezirk von Tbilissi. In Georgien kämpfen wir uns nicht nur | |
physisch an den Hinterlassenschaften der Sowjetunion ab, sondern auch mit | |
den Werten, die dageblieben sind. | |
Der Roman verfolgt das Leben der heranwachsenden Lela. Sie ist von | |
emotionaler Härte, von Missbrauch und Hass geprägt – aber auch von großem | |
Verantwortungsbewusstsein, Fürsorge und Zärtlichkeit. Was hat Sie an der | |
Darstellung emotional so konträrer Erfahrungen interessiert? | |
„Das Birnenfeld“ ist nicht der Versuch, die Lage dieser vergessenen Kinder | |
begreifbar zu machen. Sie wurden misshandelt, betrogen und verlassen. Für | |
sie gibt es keine Eltern, keine Lehrer oder Vorbilder, die ihnen etwas | |
geben würden. Dennoch sind sie in der Lage zu lieben. Obwohl es angesichts | |
der Härte jeder Gesetzmäßigkeit zu widersprechen scheint, kann ich mich an | |
dieses Licht in den Augen der Kinder erinnern. Von diesem Widerspruch | |
wollte ich erzählen. | |
Um ihrem Schützling Irakli den Englischunterricht für seine bevorstehende | |
Adoption in die USA zu bezahlen, lässt sich Lela auf bezahlten Sex mit | |
Koba, einem Nachbarn, ein. Doch beim zweiten Treffen am Waldrand erlebt sie | |
überraschend einen Orgasmus. Als Lela Koba danach das Geld zurückgeben | |
will, rastet der aus und schlägt sie zusammen. Als was für einen Menschen | |
sehen Sie Lela? | |
Sie ist ein freies Wesen, selbst wenn sie in ihrer Freiheit eingeschränkt | |
im Internat leben muss, kein Geld hat und sich verkaufen muss. Niemand hat | |
ihr beigebracht, wie sie auf Gewalt und Erniedrigung reagieren soll. Doch | |
sie hat die Kraft, im richtigen Moment Schwarz von Weiß zu unterscheiden | |
und sich zu verteidigen. Sie kennt das Leben am Rande der Gesellschaft. Sie | |
hat nichts zu verlieren. Inzwischen ist sie 18 Jahre alt und unter den | |
Kindern die Stärkste im Internat. Und sie hat einen Plan. | |
In Deutschland sind Sie vor allem als Filmemacherin bekannt. Ihre | |
Spielfilme „Die langen hellen Tage“ und [1][„My Happy Family“] wurden | |
2013 und 2017 im Forum der Berlinale gezeigt. Beide Produktionen | |
realisierten Sie zusammen mit Ihrem Partner Simon Groß. Wieso entstand | |
dazwischen ein Buch? | |
Zum Film bin ich eigentlich durchs Schreiben gekommen. Es gab ein paar | |
Veröffentlichungen von Kurzgeschichten, bevor ich auf die Filmhochschule | |
nach Deutschland ging. Die Phase in Babelsberg war geprägt von Studium, | |
Drehbuch und Film. Trotzdem war mir das Schreiben von Prosa immer wichtig. | |
Es gibt Stoffe, wo ich sofort sage, das ist ein Film, das muss auf die | |
Leinwand. Da brauchen wir Schauspieler, das soll visualisiert werden. Wenn | |
ich aber das Gefühl habe, ich schreibe etwas nieder und nichts fehlt der | |
Erzählung, dann ist es ein Buch. Bei der Idee zum „Birnenfeld“ war schnell | |
klar, dass es ein Roman sein würde. | |
Ihre präzisen Beschreibungen der Orte und Personen rufen sehr filmische | |
Bilder auf. Vieles im Roman wird nicht ausformuliert. Doch die | |
„lernbehinderten“ Kinder erfassen unmittelbar, was um sie herum geschieht. | |
Als ich von Berlin und Babelsberg nach Tbilissi zurückkehrte, sah ich diese | |
Kinder als erwachsene Frauen bettelnd auf der Straße. Ich konnte mich daran | |
erinnern, wie sie als Kinder waren, und wollte das unbedingt festhalten. | |
Dabei war mir wichtig, nur das Notwendige zu erzählen, die Welt roh zu | |
zeichnen, denn diese Welt, von der ich erzähle, braucht nicht viel Gerede | |
drum herum. | |
Auch in Ihren Filmen sind die tragenden Rollen weiblich. Was interessiert | |
Sie an dieser Perspektive heranwachsender Mädchen und Frauen? | |
Das passiert fast automatisch. Ich beobachte als Frau die Frauen in meiner | |
Familie. Und ich sehe, was für ein Schicksal georgische Frauen haben. | |
Georgien ist immer noch ein patriarchal geprägtes Land. Aber allmählich | |
entdecken die Frauen, dass sie etwas zu sagen haben, und brechen die | |
Verhältnisse auf. Dass Frauen ihren eigenen Willen entwickeln und sich | |
dabei Richtung Westen orientieren, das muss die georgische Männerwelt nach | |
und nach begreifen. [2][Georgien] ist nicht mehr wie in der Sowjetunion ein | |
geschlossener Raum mit komischen Werten. Es ist ein freies Land, das sich | |
nach Europa öffnet. Und dazu gehört auch, dass die Geschlechter | |
gleichberechtigt sind. Für mich sind Männer oft Figuren, die auf der Stelle | |
treten, während Frauen den Stillstand nicht mehr ertragen und nach vorne | |
drängen. | |
Am 9. Oktober eröffnet die Frankfurter Buchmesse mit [3][Georgien als | |
diesjährigem Ehrengast]. Welche Rolle spielt Literatur im kulturellen Leben | |
des Landes? | |
Die Frankfurter Buchmesse hat für Georgien eine sehr große Bedeutung. Nach | |
Litauen oder Ungarn ist es ein weiteres Land der ehemaligen Sowjetunion, | |
das die Ehre hat, dort zu Gast zu sein. Georgien bekommt dadurch viel | |
Aufmerksamkeit und Raum, um Literatur zu präsentieren. Aber auch um zu | |
diskutieren, in welche Richtung es sich entwickeln will. | |
Sie spielen auf die Konflikte mit Russland an? | |
Ja, momentan sind zwanzig Prozent des Landes von Russland okkupiert, und | |
sie versuchen die ganze Zeit antieuropäische Propaganda zu betreiben. Ein | |
Aufbruch in die europäische Kulturszene ist für uns fast | |
überlebensnotwendig. Die Einladung nach Frankfurt zur Buchmesse hat die | |
Prozesse in Georgien tatsächlich belebt. Sehr viele Bücher wurden | |
veröffentlicht und viele jetzt aus dem Georgischen übersetzt. Nach siebzig | |
Jahren unter sowjetischer Führung war georgische Literatur fast unbekannt. | |
Und das ändert sich jetzt? | |
Wenn man in Europa verstehen will, wo Georgien herkommt – wir haben | |
schließlich diese schwierige geopolitische Situation im Südkaukasus –, dann | |
muss man sich unter anderem mit der Literatur des Landes beschäftigen. | |
Fragen zu Liberalismus, Demokratie, Religion oder Geschlechterrollen, die | |
heute sehr aktuell sind, tauchen bereits in den ältesten literarischen | |
Werken auf. Georgien fängt also nicht erst heute an, darüber nachzudenken. | |
Wir wollen daran anknüpfen und das schwierige postsowjetische Erbe | |
überwinden, um uns weiter in Richtung Westen zu entwickeln. | |
7 Oct 2018 | |
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## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
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