| # taz.de -- Politisches Buch von Aleida Assmann: Was du nicht willst, das man d… | |
| > Höflichkeit, Anstand, Zivilität, Anerkennung, Respekt und Empathie: | |
| > Aleida Assmann über Menschenpflichten und die drohende „Leitkultur“. | |
| Bild: Ob Obdachloser oder Hipster – Menschenrechte und -pflichten gehen alle … | |
| Die Höflichkeit ist wieder da. Zusammen mit Begriffen wie Anstand, | |
| Zivilität, Anerkennung, Respekt und Empathie bildet sie einen Cluster von | |
| (wieder) als wünschenswert erachteten Verhaltensweisen, die das Gegenüber | |
| im Blick haben. Das konstatiert Aleida Assmann in ihrem Buch | |
| „Menschenrechte und Menschenpflichten. Schlüsselbegriffe für eine humane | |
| Gesellschaft“. | |
| „Menschenpflichten“ klingt erst einmal merkwürdig. Doch Aleida Assmann | |
| zeigt erstens, dass es einen Jahrtausende alten Kanon der guten | |
| Lebensführung gibt und dieses Wissen „über Räume und Zeiten hinweg | |
| verlustlos übertragbar ist, weil es universelles Wissen ist“. Und zweitens, | |
| dass die Menschenpflichten die notwendige Rückseite der Menschenrechte | |
| sind. Sie bedingen sich gegenseitig. | |
| Die Menschenrechte seien keine Privilegien, sondern grundlegende | |
| Bedingungen menschlicher Existenz, schreibt Assmann. Während sie | |
| Grundrechte „festhalten und Ansprüche formulieren, fixieren die | |
| Menschenpflichten Formen eines geregelten sozialen Umgangs“. Frühe | |
| Formulierungen dieser Pflichten finden sich in den altägyptischen | |
| Weisheitslehren. 3.000 Jahre lang beanspruchten sie Gültigkeit, bis sie in | |
| den christlichen „Sieben Werken der Barmherzigkeit“ neu formuliert wurden. | |
| In der Lehre des Ägypters Cha-Scheschonqui etwa sind Maximen versammelt, | |
| die von Ratschlägen für ein kluges, dem eigenen Wohlbefinden zuträgliches | |
| Verhalten bis zu Antikorruptionsklauseln reichen: „Wer gerne streitet, | |
| findet keine Ruhe. Bekämpfe das Falsche in dir. Lindere den Schmerz des | |
| Leidenden. Nimm kein Geschenk von einem Mächtigen, und sei nicht um | |
| seinetwillen ungerecht gegen einen Schwachen.“ | |
| In den Werken der Barmherzigkeit wird ein Basiskatalog formuliert: „Die | |
| Törichten ermahnen. Die Hungrigen speisen, die Dürstenden tränken. Die | |
| Nackten kleiden. Den Obdachlosen Quartier geben. Die Kranken besuchen. Die | |
| Gefangenen besuchen. Die Toten bestatten.“ Hier werden basic needs | |
| beschrieben, aus denen sich der Auftrag ableitet, die Grundbedürfnisse | |
| jener im Blick zu haben, „die davon vorübergehend abgeschnitten sind“. | |
| ## Die totalitären Neigungen | |
| Jahrtausende war man sich über den zentralen Wert der guten Werke einig. | |
| Dann stellte Luther den Glauben über die guten Werke, „denn alle anderen | |
| Werke kann ein Heide, Jude, Türke, Sünder auch tun“. Aleida Assmann | |
| schreibt es nicht, aber man kann auf die Idee kommen, dass hier die Ursache | |
| für den Umstand zu finden ist, warum ein guter Christ wie Luther es für | |
| richtig hielt, seine Mitchristen dazu aufzurufen, dass man die Synagogen | |
| der Juden „mit Feuer anstecke“ und „dass man auch ihre Häuser desgleichen | |
| zerbreche und zerstöre“. | |
| Denn wo die guten Werke wenig gelten, der rechte Glaube aber alles ist, ist | |
| der Grundstein für die totalitären Neigungen der Moderne gelegt. Im Besitz | |
| einer höheren Wahrheit kann man sich über die goldene Regel hinwegsetzen: | |
| Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. | |
| Aleida Assmanns Buch ist vor einem Jahr erschienen. Anlässlich der | |
| Verleihung des Friedenspreises an sie und ihren Mann Jan Assmann ist es nun | |
| um einen zweiten Teil erweitert worden. Darin beschäftigt sich die Autorin | |
| mit den Begriffen Höflichkeit, Anstand, Zivilität, Anerkennung, Respekt und | |
| Empathie. Sie zeigt, wie Höflichkeit in der sich ausprägenden | |
| Bürgergesellschaft zu einem zentralen Wert wird. Im London des frühen 18. | |
| Jahrhunderts verweist „politeness“ nicht nur auf die Polis, sondern auch | |
| auf das Verb „to polish“. Höflichkeit ist zuerst Arbeit am Selbst. | |
| Empathie dagegen sei mit Vorsicht zu genießen, da der Empathie | |
| Selektionsmechanismen eigen sind: Ihr Motor springt bei einem Gegenüber an, | |
| das als ähnlich erkannt wird. Was den Spiegelneuronen fremd erscheint, darf | |
| nicht auf hormonell induzierte Barmherzigkeit hoffen. Auch der Respekt ist | |
| nicht unproblematisch, da er ursprünglich hierarchisch gedacht ist. Im | |
| Begriff des kulturellen Respekts wiederum lauert die Gefahr des | |
| Kulturrelativismus. Er will ominösen „kulturellen Besonderheiten“ Vorrang | |
| vor den Werten der Zivilisation einräumen. | |
| Hilft dagegen Leitkultur? In ihrer Auseinandersetzung mit den „Zehn Thesen | |
| zu einer deutschen Leitkultur“ von Thomas de Maizière kritisiert Assmann, | |
| dass diese drei unterschiedliche Diskurse um Identität, Verfassung und | |
| Sozialität munter durcheinanderwerfen. Die Anrufung eines „Wir“, das sich | |
| nur auf Tradition und Sitte stützt, untergräbt in der Tat den | |
| Verfassungsdiskurs. Wer sind „wir“ denn? Die Deutschen, die schon deutsche | |
| Urgroßeltern haben, die deutschen Staatsbürger, das Volk, die Bevölkerung, | |
| the people? | |
| De Maizières Dekalog erscheine hier als „symbolische Grenzmarkierung, die | |
| gelegentlich polemische Töne anschlägt und sogar den Charakter einer | |
| Drohung annimmt“, schreibt Assmann richtig. Denn die Ausrufung einer | |
| „Leitkultur“ beinhaltet immer eine Zurechtweisung aller, die nicht so sind, | |
| wie sich selbsternannte Leit-Deutsche das vorstellen. | |
| Dass umgekehrt ein Schuh draus wird, kann man von Aleida Assmann lernen: | |
| Wer sich an Menschenrechten und -pflichten orientiert, kommt gut in einer | |
| pluralistischen, demokratischen Gesellschaft zurecht. Dieser Kanon hat | |
| jeder Leitkultur Jahrtausende voraus. | |
| 12 Oct 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
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