# taz.de -- Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Radikal gegen Nationalismus | |
> Ägyptologie, Erinnerung und Toleranz: Der deutsche Buchhandel ehrt die | |
> KulturwissenschaftlerInnen Aleida und Jan Assmann. | |
Bild: Gegenseitige intellektuelle Inspiration: Aleida und Jan Assmann | |
Kaum je war es in der Geschichte der [1][Bundesrepublik wichtiger als | |
jetzt, den Friedenspreis zu verleihen – und zwar an diese beiden | |
Intellektuellen und Wissenschaftler.] Jan und Aleida Assmann, die zusammen | |
fünf Kinder haben, lernten sich im Jahr der Revolte, 1968, kennen. Obwohl | |
ihre Interessen – allerdings nur auf den ersten Blick – weit voneinander | |
entfernt lagen, gelang es ihnen doch, ein gemeinsames wissenschaftliches | |
Lebenswerk zu schaffen, das seinesgleichen sucht. | |
Indes: Was haben die Thesen eines wenn auch berühmten Vertreters eines | |
typischen „Orchideenfachs“, der von Jan Assmann betriebenen „Ägyptologie… | |
mit der vermeintlich wichtigeren „Geschichte literarischer Kommunikation“ �… | |
Aleida Assmanns Thema – zu tun? Beim näheren Blick auf die systematischen | |
Grundlagen derartiger Forschungen tun sich jedoch schnell überraschende | |
Gemeinsamkeiten auf: nicht nur, dass es in beiden Fächern um kulturelle | |
Ausdrucksformen, sondern vor allem doch auch, dass es beiden um eine Kultur | |
der Erinnerung, also um Ausdrucksformen des kollektiven Gedächtnisses, | |
geht. | |
Dabei hat jedenfalls Jan Assmann auch heikle Themen nicht gescheut; etwa | |
als er vor mehr als zwanzig Jahren eine Theorie der „mosaischen | |
Unterscheidung“ vorlegte, die den biblischen Monotheismus, die Wahrheit des | |
einen Gottes Israels, als wesentliche Ursache politischer Intoleranz | |
haftbar zu machen suchte. | |
Nach öffentlichen und wissenschaftlichen Kontroversen modifizierte Jan | |
Assmann schließlich dieses Theorem, um zuletzt gerade die biblische | |
Exodusgeschichte zum Ursprungsnarrativ der modernen westlichen | |
Freiheitsidee zu erklären. Parallel dazu befasste sich Aleida Assmann | |
zunehmend eindringlicher mit dem kulturellen Gedächtnis Deutschlands, | |
seinen Untaten und – nicht zuletzt – seinen jüdischen Opfern und damit – | |
das Thema könnte aktueller nicht sein – [2][mit dem weit verbreiteten | |
Unbehagen an der deutschen Erinnerungskultur der Schoah.] | |
## „Dialektik der Aufklärung“ | |
Jan Assmanns These von der mosaischen Unterscheidung, wonach der | |
biblische Monotheismus die wesentliche Ursache systematischer Intoleranz | |
sei, war zunächst durchaus respektabel und anregend. Respektabel, weil | |
diese Überlegung an die Selbstkritik der westlichen Moderne anschließt, die | |
spätestens in Horkheimer/Adornos „Dialektik der Aufklärung“ einen ersten | |
Höhepunkt erreicht hat. | |
Anregend, weil sie dazu provozierte, erneut über die Grundlagen unserer | |
Kultur nachzudenken. Freilich traf es nicht zu, dass die „mosaische | |
Unterscheidung“ – also die Unterscheidung von „wahr“ und „falsch“ i… | |
Religion – eine welthistorische Singularität gewesen sei – derlei gab es | |
auch in anderen, keineswegs monotheistischen Kulturen, etwa den Religionen | |
der Hindu. | |
Allerdings hat Jan Assmann schon 2003 in einem Diskussionsband [3][zu | |
seiner Monografie „Moses der Ägypter“] deutlich zu machen versucht, dass es | |
ihm gar nicht um eine Kritik des Monotheismus, sondern „um die historische | |
Analyse seines revolutionären Charakters als einer weltverändernden | |
Innovation“ gegangen sei. Also nicht um die „recht grobe“ – so Assmann … | |
„Behauptung“, dass der Monotheismus „von Haus aus und notwendigerweise | |
intolerant sei […], sondern um den Aufweis der ihm innewohnenden Kraft zur | |
Negation“, die ihn dann – im Unterschied zu anderen Religionen des alten | |
Orients – zu einer „Gegenreligion“ habe werden lassen. | |
Gleichwohl legte er sich damals auf die Behauptung fest, dass der | |
Monotheismus „die Geschichte seiner Durchsetzung als eine Geschichte der | |
Gewalt in einer Serie von Massakern“ erzähle. Freilich: Assmanns strikte | |
Betonung des fiktionalen Charakters dieser „Gegenreligion“ erhob gerade | |
nicht den Anspruch, etwas über die reale Durchsetzung des israelitischen | |
Monotheismus zu behaupten, sondern nur, eine Hypothese über einen | |
weltgeschichtlich neuen Begründungsmodus für (massenhafte) Gewalt | |
aufzustellen. | |
## „Monotheismus der Treue“ | |
Bei alledem folgt Assmann sowohl [4][mit seiner These über den | |
„Monotheismus der Wahrheit“] als auch mit seiner in späteren Schriften | |
entfalteten These vom revolutionären „Monotheismus der Treue“ dem | |
Philosophen Friedrich Nietzsche mit dessen Überlegungen „Zur Genealogie der | |
Moral“ aus dem Jahr 1887. | |
„Religion“, so Assmann mit Blick auf Exoduserzählung und Bundestheologie, | |
„wird nun von ‚Kultur‘ unterscheidbar und ihr als kritische Instanz | |
gegenübergestellt, zugleich aber auch – zumindest der Möglichkeit nach – | |
als ein hegemoniales Prinzip allen anderen ‚Wertsphären‘ wie Politik, | |
Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst usw. übergeordnet.“ Das kann | |
tatsächlich, wie auch der sich ganz und gar der Moderne verdankende | |
Fundamentalismus jeglicher Art beweist, zu einer totalitären, | |
freiheitseinschränkenden Politik führen, zu einem nicht mehr korrigierbaren | |
Fanatismus. | |
Ist es mit Blick auf die Exoduserzählung treffender, von einem | |
„Monotheismus der Treue“ (Gottes) als von einem „Monotheismus der Wahrhei… | |
zu sprechen? Immerhin – dies meint Assmann erkannt zu haben – sei ein | |
„Monotheismus der Wahrheit“ Argumenten zugänglich, was für einen | |
„Monotheimus der Treue“ nicht gelte. | |
Wirklich nicht? Ließe sich nicht sagen, dass auch der biblische | |
„Monotheismus der Treue“ einer Überprüfung fähig ist? Setzt nicht gerade | |
die von Assmann so hervorgehobene weltgeschichtliche Neuartigkeit der | |
biblischen „Bundestheologie“ eine Reziprozität zwischen Gott und Menschen | |
voraus, die es beiden ermöglicht, zu überprüfen, ob ihre Treue angemessen | |
anerkannt wird? | |
## Kulturelles Gedächtnis | |
Beiden, Aleida und Jan Assmann, verdanken wir dabei eine theoretische | |
Unterscheidung, die zunehmend an Aktualität gewinnt: die Unterscheidung | |
zwischen dem „kommunikativen Gedächtnis“ von Zeitgenossen und Zeitzeugen | |
hier sowie dem nur noch symbolisch kodierten „kulturellen Gedächtnis“ der | |
Nachgeborenen dort. | |
Dabei soll unter kommunikativem Gedächtnis der Kontext alltäglicher Rede | |
und die in alltäglicher Rede geäußerte, selbst erlebte Erinnerung an | |
historische Ereignisse verstanden werden – das kulturelle Gedächtnis | |
unterscheidet sich vom kommunikativem Gedächtnis nicht nur dadurch, dass es | |
etwas später auftritt, sondern vor allem dadurch, dass es in aller Regel | |
strengen, kodifizierten und veröffentlichten Formen genügt: als | |
wissenschaftliche Studie, als Kunstwerk oder als öffentliches Ritual mit | |
gesellschaftlich-politischem Anerkennungsanspruch. | |
Allerdings stehen kommunikatives und kulturelles Gedächtnis nicht | |
unverbunden nebeneinander – beide beeinflussen einander: Akteure des | |
kulturellen Gedächtnisses sind allemal auch von Erfahrungen ihres | |
kommunikativen Familiengedächtnisses geprägt, während umgekehrt Formen und | |
Inhalte des kulturellen, des öffentlichen Gedächtnisses Eingang in die | |
familiale Kommunikation finden. | |
Nur auf den ersten Blick deutlicher gegenwartsbezogen erweist sich das Werk | |
von Aleida Assmann. Als Tochter des evangelischen Neutestamentlers Günther | |
Bornkamm, dessen Deutungen der paulinischen Theologie seiner Mitgliedschaft | |
in der Bekennenden Kirche zum Trotz von massivem Antijudaismus durchzogen | |
sind, widmet sie sich in immer neuen Anläufen einer Theorie des kollektiven | |
deutschen Gedächtnisses vor dem Hintergrund des Holocaust. | |
## Humanes Engangement | |
Zuletzt, vor einem Jahr, befasste sie sich in einer großen Rede mit dem | |
Verhältnis von Menschenrechten und Menschenpflichten. In dieser Wiener | |
Rede, in der es vor dem Hintergrund deutscher Verantwortung für die Gräuel | |
des 20. Jahrhunderts um so aktuelle Themen wie Flucht und Migration geht, | |
bezieht sich Assmann systematisch auf die Forschungen von Jan Assmann. | |
Indem Aleida Assmann schon die in die biblischen Weisheitsbücher | |
eingegangenen Weisheitssprüche des Alten Ägypten als universalistische | |
Prinzipien postuliert, gewinnt sie ein historisch begründetes Argument für | |
die eine, für alle Menschen verbindliche Form praktischer Vernunft und | |
beweist damit zugleich, wie sehr die wissenschaftliche Kooperation zwischen | |
Jan und Aleida Assmann lebenslang beider Werk geprägt hat und prägt. | |
Mit der Verleihung des Friedenspreises an Jan und Aleida Assmann werden | |
zwei innigst miteinander kooperierende Intellektuelle geehrt, die wie nur | |
wenige andere lebenslang für Moral, politische Verantwortung und humanes | |
Engagement eingestanden sind – radikal gegen jede Form nationalistisch | |
bornierten Denkens. | |
In Zeiten, in denen der Führer einer rechtsextremen Partei, Alexander | |
Gauland, die Deutschen unwiderrufen dazu auffordert, [5][auf die Verdienste | |
der Angehörigen einer der größten Mordmaschinen der Geschichte, der | |
deutschen Wehrmacht, stolz zu sein,] und im gleichen Atemzug die | |
nationalsozialistischen Morde an Geisteskranken, Sinti und Roma, | |
europäischen Juden und sowjetischen Kriegsgefangenen zum „Vogelschiss“ | |
erklärt, stellt die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen | |
Buchhandels ein unübersehbares Zeichen für eine Kultur der Trauer, der | |
Erinnerung und der aus beidem erwachsenden Kultur der Toleranz und | |
Akzeptanz dar. | |
12 Oct 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Vergabe-des-Friedenspreises/!5509410 | |
[2] /Aleida-Assmann-ueber-Erinnerungskultur/!5057429 | |
[3] http://www.fr.de/kultur/gespraech-mit-jan-assmann-gott-braucht-mose-a-437825 | |
[4] /Debatte-Kruzifix/!5143599 | |
[5] /AfD-zum-Nationalsozialismus/!5447579 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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