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# taz.de -- Debatte Kruzifix: Unchristliches Abendland
> Die europäischen Werte gründen in der griechisch-römischen Antike und der
> modernen Aufklärung. Der Beitrag der Kirchen war, höflich gesprochen,
> ambivalent.
Bild: Hat das monotheistische Christentum einst die toleranten Kulturen der Ant…
Es war die Ministerin selbst, die am Montag den fragwürdigen Begriff
benutzte. Sie wisse um die Bedeutung der "christlich-abendländischen
Kultur", erklärte die neue niedersächsische Sozialministerin Aygül Özkan am
Montagnachmittag vor der CDU-Landtagsfraktion. Auch ihre Kritiker aus CDU
und CSU wurden nicht müde, Christentum und Abendland begrifflich in eins zu
setzen, gerne noch kombiniert mit Hinweisen auf Judentum oder Aufklärung.
Warum das Abendland ausschließlich christlich oder auch jüdisch-christlich
sein soll, wissen die Kritiker der Ministerin allerdings nicht schlüssig zu
erklären. Mit historischen Fakten oder der Mehrheitsmeinung in der
Geschichtswissenschaft lässt sich eine solche Sicht jedenfalls so schwer in
Einklang bringen wie Guido Westerwelles Thesen über spätrömische Dekadenz.
Bislang herrschte doch eigentlich Einigkeit darüber, dass die Wurzeln des
europäischen Denkens im antiken Griechenland zu suchen sind. Was wir heute
als okzidentalen Rationalismus bezeichnen, verbreitete sich dann mit Hilfe
römischen Machtbewusstseins über die gesamte mediterrane Welt. Politische
Selbstverwaltung, Debattenkultur, Toleranz gegenüber dem Andersartigen: das
alles war längst da, als eine intolerante Sekte die Grundlagen der antiken
Welt zu erschüttern begann.
Für seine These, mit dem Monotheismus sei eine neue Art von Hass in die
Welt gekommen, wurde der Ägyptologe Jan Assmann fast ebenso geprügelt wie
jetzt die niedersächsische Sozialministerin. Dabei war diese Sicht
keineswegs neu. Schon vor zweihundert Jahren wies der britische Historiker
Edward Gibbon darauf hin, dass vor allem der Aufstieg des Christentums die
tolerante Kultur der Antike zerstörte.
Die neuere Forschung sieht das vermeintlich christliche Mittelalter als
einen Prozess der gleichzeitigen Ausbreitung aller drei monotheistischen
Religionen - des Christentums im Westen, des Islams im Osten und des
Judentums in der Diaspora. Zur Wahrheit gehört auch, dass alle drei
Religionen Errungenschaften der Antike weitertrugen.
Dass der Islam, der dabei erst führend war, später ins Hintertreffen
geriet, dürfte auch mit älteren kulturellen Prägungen des östlichen
Mittelmeerraums zusammenhängen. Vor allem mit der zunehmenden Erstarrung
von byzantinischer Kultur und orthodoxer Religion, als deren legitimer Erbe
sich das heutige Griechenland versteht.
Erst die Emanzipation von der christlichen Dogmatik in Renaissance und
Aufklärung schuf die Grundlagen dessen, was wir heute das Projekt der
Moderne nennen. Der Weg dahin war lang und widersprüchlich. Während sich in
den katholischen Ländern die Sphären von Kirche und entstehenden
Nationalstaaten ausdifferenzierten, bedeutete die Reformation Luthers in
dieser Hinsicht einen historischen Rückschritt.
Sie begründete eine Einheit von Staat und Kirche, die in Preußen zwar 1918
formal endete, in zahlreichen Regelungen des deutschen Staatskirchenrechts
aber fortlebt. Auch Überbleibsel der weltlichen Herrschaft, die katholische
Bischöfe bis 1803 in den süddeutschen Fürstbistümern ausübten, finden sich
im bayerischen Konkordat bis heute. Dass ausgerechnet Verfechter dieser
Sonderregeln der kemalistischen Türkei Vorhaltungen über die Trennung von
Staat und Religion machen, erscheint einigermaßen bizarr.
Diese Vorgeschichte erklärt, warum man sich in Deutschland mit
laizistischen Ideen bis heute schwertut. Glaubensfreiheit wird in
Deutschland traditionell nicht im Konflikt zwischen Staat und Kirche
hergestellt, sondern durch den Antagonismus der beiden Konfessionen, die
sich gegenseitig in Schach halten - erst durch blutige Kriege, seit dem
Westfälischen Frieden von 1648 durch juristische Verträge.
Die bisherigen Versuche, die moderne Einwanderungsgesellschaft in
Deutschland staatskirchenrechtlich einzuhegen, zielen auf die Einbeziehung
des Islams in das bestehende konfessionelle System. Von den christlichen
Kirchen wird dieses Argumentationsmuster bewusst eingesetzt, um den
Säkularisierungsprozess einzudämmen und die wachsende Gruppe der Atheisten
und Agnostiker als Defizitwesen erscheinen zu lassen. Mit abendländischen
Werten hat das wenig zu tun, umso mehr dafür mit christlicher
Interessenpolitik.
28 Apr 2010
## AUTOREN
Ralph Bollmann
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