| # taz.de -- Kolumne Navigationshilfe: Der Traum von einer Straße | |
| > Tuschetien ist eine abgelegene georgischen Bergregion. Nach dem Zerfall | |
| > der Sowjetunion ist dort alles zusammengebrochen. | |
| Bild: Mariamabo, ein Fest zu Ehren der heiligen Maria, bei dem literweise selbs… | |
| Das Schaf baumelt eines Morgens vor unserer Tür. Es hängt tot an einem | |
| Strick, während zwei Artgenossen daneben grasen, ziemlich ungerührt, aber | |
| wer weiß das schon? Fleisch gibt es in Tuschetien, einer abgelegenen | |
| georgischen Bergregion, fast nur an Festtagen. Es ist Mariamabo, ein Fest | |
| zu Ehren der heiligen Maria, bei dem literweise selbst gebrannter Chacha | |
| gebechert wird. | |
| Die jungen Männer, die das Tier zerlegen, sind eigentlich Großstadtkids: Im | |
| Winter leben fast alle Tuschen längst unten in den Städten, aber im Sommer | |
| sind sie hier oben auf den Plateaus noch Selbstversorger. Unsere | |
| Gastgeberin, die einen ständig Chacha konsumierenden Mann hat, geht nicht | |
| zum Fest. Mit einer Freundin erzählt sie von den guten Tagen. | |
| Schroff ragen die Berggipfel von Dagestan in Sichtweite auf. Früher, sagt | |
| die Freundin, seien die Hirten von Dagestan Freunde gewesen. Im Sommer | |
| besuchte man einander. „Jetzt bekomme ich nicht mal mehr ein Visum.“ Die | |
| Übergänge sind gesperrt, die Beziehung zu Russland vom Konflikt um die | |
| abtrünnigen georgischen Provinzen Süd-Ossetien und Abchasien vergiftet. Und | |
| Tuschetiens bescheidener Wohlstand ist längst vergangen; nach dem Zerfall | |
| der Sowjetunion sei hier alles zusammengebrochen. „Im neuen Georgien | |
| interessiert sich niemand für uns.“ Und Symbol der Misere ist die Straße. | |
| Straße ist eigentlich das falsche Wort. Eher ein Weg voller Schlaglöcher, | |
| tiefer Abgründe und Schlamm, der sich nach Tuschetien windet. Große Teile | |
| des Jahres unpassierbar, die einzige Ader zur Außenwelt. Die Sowjets fingen | |
| an, den Weg zu asphaltieren; dann kam der Kollaps. „Die georgische | |
| Regierung will die Touristen haben, aber nicht für die Straße zahlen“, sagt | |
| ein alter Mann im Nachbardorf. Auch er sehnt sich zurück. | |
| Weiden voller riesiger Viehherden hätten sie hier im Sozialismus gehabt, | |
| Kolchosen, Schulen. Heute ist alles verfallen,geschlossen, ausverkauft. Nur | |
| der Chacha ist geblieben. Und die Sehnsucht. Ein Taxifahrer sagt: „Heute | |
| gibt es eine kleine Schicht von Millionären, und wir anderen wissen nicht, | |
| was Urlaub ist. Das ist der Kapitalismus.“ | |
| Stasi und Stalin verkaufen sich gut im Westen, die Erfolgsgeschichten des | |
| Sozialismus nicht so sehr. Wer will davon lernen? Der Westen nicht. Viele | |
| ältere Georgier wiederum schwanken zwischen Sowjetsehnsucht und | |
| Russlandfurcht. Ein Mann, der sich als Politiker vorstellt und auch so | |
| redet, hält uns Vorträge, wie er die verlorenen Provinzen zurückholen will. | |
| „Die Abgeordneten dort haben Interesse an einer Wiedervereinigung“, | |
| behauptet er. Auch die beiden Frauen im Dorf wünschen sich die Provinzen | |
| zurück. Aber eigentlich viel mehr eine gute Straße. | |
| 5 Jan 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Alina Schwermer | |
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