# taz.de -- Berliner Nahverkehrslobbyist: „Ich bin kein Fahrradhasser“ | |
> Fahrgastvertreter Jens Wieseke im Interview über Fehler der Grünen in der | |
> Verkehrspolitik, Streiks im ÖPNV und das Pünktlichkeitselend der Tram. | |
Bild: „Ich gebe zu, dass der Einsatz für den ÖPNV manchmal fast sektiereris… | |
taz: Herr Wieseke, wir sitzen in Ihrem Wohnzimmer, da erübrigt sich die | |
klassische Einstiegsfrage, wie Sie als Nahverkehrslobbyist zum Interview | |
angereist sind. Wie bewegen Sie sich denn normalerweise in der Stadt? | |
Jens Wieseke: Fifty-fifty mit dem ÖPNV und dem Auto. Ich arbeite im | |
Briefzentrum 10 der Deutschen Post, Nähe Südkreuz, muss aber auch oft zu | |
meinen Kollegen ins Briefzentrum Schönefeld. Gelegentlich muss ich auch in | |
Zustellstützpunkte fahren. Das kann am Nordbahnhof sein, aber auch mal in | |
Vierlinden bei Seelow. Meine Schwester wohnt in Mahlsdorf, mein Freund in | |
Ahrensfelde – insgesamt ist diese Stadt so groß und wenig kompakt, dass das | |
Auto doch an vielen Stellen einen zeitlichen Vorteil bietet. Ich nutze es | |
aber auch, weil ich eine Gehbehinderung mit besseren und schlechteren | |
Phasen habe. | |
Sie wohnen am Engelbecken, der U-Bahnhof Heinrich-Heine-Straße ist nur ein | |
paar Minuten entfernt. Wer Sie kennt, weiß aber, dass Sie sich weigern, die | |
U8 zu nutzen. | |
Ja, die U8 tue ich mir nicht mehr an. Wenn ich zum Alex will, nehme ich den | |
etwas weiteren Weg zur U2 in Kauf, zum Märkischen Museum oder zum | |
Spittelmarkt. | |
Wieso? | |
Als ich 2001 hierher gezogen bin, war die Situation grundsätzlich in | |
Ordnung. In den letzten 15 Jahren hat dann ein Abwärtstrend eingesetzt, und | |
mittlerweile macht es einfach keinen Spaß mehr. Ich habe keine Lust, | |
morgens in der U-Bahn als erstes zu sehen, wie sich jemand einen Schuss | |
setzt. Ich bin nicht das typische Ziel für Kriminalität und weiß mich | |
hoffentlich zu schützen, aber es ist ein subjektives Gefühl völligen | |
Unwohlseins. | |
Dann ist die [1][Initiative für Sauberkeit und Sicherheit] auf der U8, die | |
der Regierende Bürgermeister Kai Wegner und Verkehrssenatorin Manja | |
Schreiner (beide CDU) gerade ausgerufen haben, ja genau Ihr Ding. | |
Ich finde es vollkommen richtig, dass sich Herr Wegner und Frau Schreiner | |
das auf die Fahnen geschrieben haben. Ich weiß noch, wie Sigrid Nikutta, | |
als sie 2010 als BVG-Chefin anfing, von uns wissen wollte, wo dringend | |
etwas unternommen werden müsste. Wir sagten: U8, Schönleinstraße. Und Sie | |
wissen, wie der bis heute aussieht. Einen Fahrstuhl hat er übrigens auch | |
noch nicht – dabei gibt es im benachbarten Graefekiez immer wieder | |
Initiativen, das Auto zurückzudrängen. Das passt nicht zusammen. | |
Kann die Sauberkeitsinitiative überhaupt Erfolg haben? | |
Wenn die Leute den Eindruck haben, auf einem Bahnhof passiert etwas, erhöht | |
das die subjektive Sicherheit. Und wenn jetzt regelmäßig abends um zehn | |
sauber gemacht wird, ist das eine Botschaft. Ich halte es da mit der | |
Broken-Windows-Theorie. Wobei man auf einem U-Bahnhof wie | |
Heinrich-Heine-Straße mit seinem Drogenpublikum auch morgens um zwei ein | |
Reinigungsteam durchschicken könnte. Die Clubs in der Nachbarschaft gehören | |
zur Kultur unserer Stadt, aber wenn das im Umfeld bestimmte Probleme | |
erzeugt, muss ich mich eben darum kümmern. | |
Und was ist Ihr Eindruck nach ein paar Wochen? Sie haben es sich jetzt | |
sicher doch mal angeschaut, oder? | |
Ich habe „mutig“ den Schritt auf die U8 gewagt und muss sagen, dass es | |
sauberer geworden ist. Nun muss dafür gesorgt werden, dass das dauerhaft so | |
bleibt. Auf Grund von Problemen mit der Infrastruktur musste allerdings die | |
BVG den Takt auf der U8 von 5 auf 6 Minuten ausweiten. | |
An diesem Dienstag wird mal wieder die S-Bahn von der GDL bestreikt, | |
während die Verhandlungen zum Manteltarifvertrag der BVG laufen, [2][hat | |
Verdi schon mehrfach Busse, Trams und U-Bahnen lahmgelegt]. Ist das aus | |
Ihrer Sicht legitim bei der BVG? | |
Ich denke, die Berliner Probleme erforderten keinen Streik, da ging es um | |
den bundesweiten Kontext. Ein stillstehender Bus Unter den Linden macht in | |
den Nachrichten mehr Eindruck als einer in Pirmasens. Das ist eben | |
Solidarität unter Gewerkschaftern. Was die Forderungen angeht, vertraue ich | |
der Expertise meiner Gewerkschaft Verdi. Klar ist: Gute Arbeitsbedingungen, | |
um die ja in diesem Fall gerungen wird, kosten schlicht und ergreifend | |
Geld. Als Busfahrer im Straßenverkehr unterwegs zu sein, ist ein harter, | |
stressiger Job, da muss auch das Umfeld stimmen. Die BVG ist ein Player in | |
einem ausgedünnten Arbeitsmarkt und muss ihrem Personal etwas bieten, um es | |
zu halten. | |
Und der [3][Streik bei der S-Bahn]? | |
Bei den Tarifkämpfen bei der Deutschen Bahn muss man eine Verhärtung der | |
Positionen konstatieren. Leider sind dabei die Fahrgäste die Leidtragenden. | |
Niemals würde ich die Tarifautonomie in Frage stellen. Allerdings fordern | |
die Fahrgastverbände schon lange einen verlässlichen Notfahrplan. So etwas | |
ist in Italien seit 1990 Pflicht und hat sich bewährt. Aber dazu müsste | |
sich der Bund bewegen und im Rahmen der Daseinsvorsorge so etwas gesetzlich | |
absichern. Mich irritiert aber auch, dass es aus dem Aufsichtsrat der | |
Deutschen Bahn nur dröhnendes Schweigen zu hören gibt. Von Stefan Gelbhaar | |
(Bundestagsabgeordneter der Grünen aus Berlin und Aufsichtsratsmitglied der | |
DB), der sonst um jeden Meter Radweg in seinem Wahlkreis kämpft, habe ich | |
jedenfalls noch nichts gehört, wie man dieses Problem lösen könnte. | |
Streiks im ÖPNV sind immer ein bisschen zweischneidig. Irgendwann fangen | |
sie an, das Bild von einem zuverlässigen Verkehrsmittel als Alternative zum | |
Auto zu unterhöhlen. | |
Wenn bei der Berliner S-Bahn gestreikt wird, kann das ruhig die Stadtbahn | |
betreffen, aber auf den Außenästen muss es noch ein Angebot geben, damit | |
zumindest eine U-Bahn-Linie erreicht werden kann. Bei einem BVG-Streik kann | |
der 147er bei mir um die Ecke ausfallen, d'accord. Aber es gibt Gegenden in | |
der Stadt, da sind die Menschen ohne Notfahrplan aufgeschmissen. Da muss | |
dann eben aus Kladow alle 20 Minuten ein Bus bis zum S-Bahnhof Spandau | |
fahren. Auch Kliniken müssen erreichbar bleiben. Es geht um | |
Daseinsvorsorge. | |
Wie soll das funktionieren? | |
Entweder setzt das Unternehmen Kollegen ein, die ohnehin nicht streiken, | |
oder es vereinbart mit der Gewerkschaft, dass bestimmte Linien auch bei | |
Streik aufrechterhalten werden. Dass so etwas zulässig ist, muss aber der | |
Bund erst regeln. Da erwarte ich auch vom Senat, eine solche Initiative auf | |
den Weg zu bringen. | |
Vor kurzem wurde eine [4][Pünktlichkeitsbilanz des Berliner ÖPNV] | |
veröffentlicht. Die Zahlen waren so schlecht wie lange nicht. Am | |
unpünktlichsten war 2023 ausgerechnet die Tram, die die IGEB doch als | |
Lösung für so viele Probleme betrachtet. | |
Sehen Sie sich nur mal die Verlängerung der M10 an, also im Prinzip alles, | |
was nach der Wende von der Eberswalder Straße bis heute zur Turmstraße | |
gebaut wurde. Da ist keine Kreuzung dabei, die sauber ist. Jede ist auf | |
ihre Art schlecht gelöst, an keiner hat die Straßenbahn Vorrang. Dann ist | |
an kritischen Stellen die Spur nicht frei, weil sie vom Autoverkehr | |
mitgenutzt wird, und es ergeben sich enorme Rückstaus. Das ist einfach nur | |
erbärmlich, und da wundert mich die schlechte Pünktlichkeit in keiner | |
Weise. Ein Freund, der in Österreich Straßenbahnplanung gemacht hat, sagte | |
mir mal, er staune immer, welche Ressourcen Berlin für den Ausbau eines | |
Verkehrsmittels verschleudert, das eigentlich hochleistungsfähig und | |
schnell ist, aber in der Praxis die Lebenszeit von tausenden Menschen | |
auffrisst. | |
Was könnte man denn konkret verbessern auf einer Linie wie der M10? | |
Wenn ich schon eine Mittelhaltestelle westlich vom U-Bahnhof Eberswalder | |
Straße anlege, wieso dann nicht für beide Richtungen? Das ist alles so | |
halbgar, weil man dem Autoverkehr nichts wegnehmen will. Im Großstadtalltag | |
wird es immer genug Behinderungen geben – sagen wir mal, weil eine | |
Touristengruppe die Bahn aufhält. Aber dass die Tram an jeder einfachen | |
Kreuzung Vorrang hat, das geht. Aber die Verwaltung hat das nicht gewollt, | |
egal wer am Köllnischen Park gerade regiert hat… | |
…dem Sitz der Senatsverkehrsverwaltung… | |
…und jetzt ist es am Dampfen. Frau Schreiner, die das Problem übernommen | |
hat, verspricht nun, Vorrangschaltungen zu reaktivieren, die zur Fußball-WM | |
2006 eingeführt und dann wieder abgeschaltet wurden. In homöopathischen | |
Dosen zwar, aber immerhin. Doch das kann nur der Anfang sein. | |
Ihr Verband schreibt, mit Vorrangschaltungen lasse sich der Personalbedarf | |
bei der BVG „sofort um hunderte Köpfe reduzieren“. Ist das nicht ein | |
bisschen dick aufgetragen? | |
Es gibt begründete Aussagen, dass die BVG um die 300 Fahrerinnen und Fahrer | |
anderweitig einsetzen könnte, wenn überall Vorrang gelten würde. Die BVG | |
selbst spricht von 100. Außerdem könnten Fahrzeuge eingespart werden, und | |
damit zum Beispiel Personal in den Werkstätten. | |
Das müsste doch im ureigensten Interesse der BVG sein. | |
Genau. Aber Sigrid Nikutta hat sich um dieses Thema zu spät gekümmert, Eva | |
Kreienkamp (BVG-Chefin von 2020 bis 2023) war eine ziemliche Fehlbesetzung, | |
und Rolf Erfurt (seit 2019 Vorstand Betrieb bei der BVG) hatte deshalb zu | |
viele Baustellen. Ich hoffe, dass [5][Henrik Falk (der neue BVG-Chef)] | |
jetzt mal auf den Tisch haut und zur Politik sagt: So nicht, Leute. Gebt | |
mir die Ressourcen, schaltet mir die Straßen frei, dann kriege ich das auch | |
hin. Es gibt ja noch viele andere Stellschrauben für einen effizienteren | |
Verkehr, wir als IGEB haben da konkrete Vorschläge gemacht. | |
Zum Beispiel? | |
Zum Beispiel fordern wir, für die M10 am Hauptbahnhof, aber auch an anderen | |
kritischen Stellen im Straßenbahnnetz Gleiswechsel einzurichten. | |
Was heißt das? | |
Die Zukunft der Straßenbahn gehört den Zweirichtungsfahrzeugen. Die können | |
dank eines solchen Gleiswechsels einfach wieder zurückfahren, wenn die | |
Strecke durch den Marathon oder eine andere Großveranstaltung unterbrochen | |
ist. Damit kann die Tram ihre Fahrgäste so nah wie möglich an das | |
betroffene Gebiet heranführen. Das Netz wird dadurch resilienter, und man | |
kann das Personal viel effizienter einsetzen. | |
Sie haben jetzt das frühere Führungspersonal der BVG kritisiert. In einem | |
persönlichen Positionspapier haben Sie kürzlich vor allem mit der grünen | |
Verkehrspolitik der letzten Jahre abgerechnet. | |
Ich hatte nach der Wahl 2016 große Erwartungen. Ich bin zu Zeiten eines | |
Michael Cramer in die IGEB eingetreten – mit Leuten wie ihm bei den Grünen | |
war völlig klar, dass der ÖPNV einen ganz hohen Stellenwert für die | |
Verkehrswende hat. Aber dann wurde 2016 Regine Günther Verkehrssenatorin, | |
eine Frau, die nicht kommunizieren konnte und völlig kritikunfähig war. So | |
hat Frau Günther mich zeitweise auf Twitter geblockt, weil ich sie dort | |
kritisiert habe – das war wirklich lächerlich. Der Wissenschaftliche Dienst | |
des Bundestags hat übrigens klargestellt, dass so etwas bei einem | |
persönlichen Account eines Mandatsträgers nicht geht, wenn der für die | |
politische Arbeit genutzt wird. | |
2021 folgte Bettina Jarasch als Verkehrssenatorin. | |
Ja, darauf mussten wir bis zur Wahl warten, weil die Grünen es nicht | |
geschafft haben, Frau Günther trotz fehlender Eignung abzusägen, auch nicht | |
nach dem viel kritisierten [6][Rauswurf ihres Staatssekretärs, Jens-Holger | |
Kirchner]. Mit Frau Jarasch habe ich dann zum ersten Mal persönlich | |
gesprochen, als wir uns in einem katholischen Gottesdienst begegnet sind. | |
Die Wege des Herrn sind bekanntlich unergründlich. Sie brachte tatsächlich | |
einen anderen Kommunikationsstil rein und rief mich auch schon mal an, um | |
sich etwas aus unserer Sicht erklären zu lassen. Genau dazu ist die IGEB ja | |
mal gegründet worden. | |
In Ihrem Papier kritisieren Sie die grüne Verkehrspolitik als „im Kern | |
unsozial“. | |
Ein harter Satz, ich weiß. Aber wissen Sie, auch wenn ich von meinem | |
Habitus klar zur Mittelschicht gehöre, bezeichne ich mich auf meinem | |
X-Account als „Briefträger mit Abitur“, und ich kenne durch meinen Beruf | |
viele systemrelevante Leute. Das ist eben nicht nur die berühmte | |
Krankenschwester, sondern auch der Briefzusteller oder die Verteilkraft bei | |
der Post. Und ich kenne deren Arbeitswege. Diese Leute haben vielleicht | |
Kinder und leben in einer Großsiedlung am Stadtrand, das sind berlinweit | |
hunderttausende Menschen, die hart produktiv arbeiten und bei den Grünen | |
nicht im Fokus stehen. | |
Für mich ist klar: Verkehr ist nicht nur Ökologie, sondern auch angewandte | |
Sozialpolitik. Da beziehe ich mich auch gern auf die katholische | |
Soziallehre, die sagt, dass ich den Menschen Möglichkeiten geben muss. In | |
diesem Fall heißt das, sie müssen gut an ihren Arbeitsplatz kommen. Der | |
Wohnungsmangel führt ja auch dazu, dass Arbeitswege immer weiter werden: | |
Wenn ich eine bezahlbare Wohnung im Märkischen Viertel finde, nehme ich | |
die, auch wenn ich in Adlershof arbeite. | |
Und die Grünen sehen das nicht? | |
Manche von ihnen sagen mir Dinge wie: „10 Kilometer auf dem Fahrrad sind | |
für den Alltag normal.“ Das mag für einige gelten, aber nicht unbedingt für | |
die alleinerziehende Mutter, die im Falkenhagener Feld wohnt und in | |
Schöneberg im Schichtdienst arbeitet. Maximal kann ich hoffen, dass die mit | |
dem Rad zur Haltestelle fährt. | |
Ist es ein Problem, dass Verkehrssenatorin Schreiner ebenso wenig wie ihre | |
Vorgängerinnen vom Fach ist? | |
Nein, entscheidend sind die Staatssekretäre und Abteilungsleiter. Die | |
müssen Ahnung haben. Mit einer Person an der Spitze, die Generalist ist und | |
Akten frisst, die sich einarbeitet und zuhören kann, habe ich überhaupt | |
kein Problem. Es muss auch einen Bänderdurchschneider geben, der die | |
Politik dann verkauft. | |
Von den [7][Magnetschwebeträumen der CDU] halten Sie aber auch nicht viel, | |
oder? | |
Die CDU kann, was die Grünen nicht können: sich als Macherpartei | |
darstellen. Magnetschwebebahn, das klingt für viele hip und modern, aber es | |
lenkt von den tatsächlichen Problemen ab, etwa davon, dass wir dringend den | |
Berliner Nordosten erschließen müssen. Ich glaube aber, dass die Senatorin | |
sich von der populistischen Verkehrspolitik ihrer Fraktion freischwimmen | |
will. Das Schreiner-Bashing mache ich nicht mit, ich bin von ihr in der | |
Summe angenehm überrascht. | |
Auch davon, dass Schreiner [8][die Tempo-30-Abschnitte auf | |
Hauptverkehrsstraßen] massiv reduziert? | |
Natürlich will sie sich auch mit der Rückkehr zu Tempo 50 profilieren, aber | |
da erfüllt sie einfach die Agenda, für die die CDU gewählt worden ist. Das | |
kann man ihr nicht vorwerfen. Trotzdem verstehe ich die Befürchtungen | |
vieler Menschen, dass der Ausbau der Radinfrastruktur stockt oder gar | |
fallen gelassen wird. | |
Sie haben nicht den Eindruck, dass die Mobilitätswende zurückgedreht werden | |
soll? | |
Ich habe den Eindruck, dass dem Mobilitätsgesetz eine zarte Novellierung | |
durchaus guttun würde, auch im Abschnitt zur Entwicklung des Radverkehrs. | |
Ein Gesetz ist ja etwas Lebendiges. | |
Da schreit jetzt die Fahrrad-Bubble auf. | |
Soll sie. Ich bin eben der Sprecher eines Fahrgastverbands, da liegen mir | |
die Interessen der Fahrgäste näher als die der Radfahrer. Wobei ich | |
natürlich weiß, dass auch unter den Fahrgästen viele Radfahrer sind. Und | |
ich bin definitiv kein Fahrradhasser, mir geht es nur um Ausgewogenheit. | |
Wenn auf der Kantstraße ein Pop-up-Radweg angelegt wird und dann der | |
Expressbus nach Spandau im Stau steht, macht mich das stinkig. Oder wenn | |
der Schienenersatzverkehr für die Nordsüd-S-Bahn nicht mehr am Bahnhof | |
Oranienburger Straße halten kann, weil das Bezirksamt die Tucholskystraße | |
unabgestimmt zur Fahrradstraße umgewidmet hat. | |
Ihr Verhältnis zu den RadaktivistInnen soll ja nicht so gut sein. | |
Das bezog sich in erster Linie auf [9][Heinrich Strößenreuther]… | |
…den Initiator des Volksentscheids Fahrrad. | |
Der hat mich gleich bei unserer ersten Begegnung 2016 im Rahmen eines | |
Streitgesprächs mit einer Unmenge von Beleidigungen überschüttet, das | |
verstieß gegen jede bürgerliche Konvention. Anlass war, dass die IGEB auf | |
seine Forderung nach einem „Gesetz zur Förderung des Radverkehrs“ mit einer | |
Pressemitteilung antwortete: „IGEB begrüßt Initiative für Fahrradverkehr, | |
kann den Gesetzentwurf aber nicht unterstützen“. Richtigerweise gab es dann | |
auch kein sektorales Radverkehrsgesetz, sondern ein Mobilitätsgesetz. | |
Die IGEB hat eine beachtliche Außenwirkung, aber nur rund 200 Mitglieder | |
und zwei Dutzend Aktive. Warum zieht das Thema nicht so viele Menschen an | |
wie das Fahrrad? | |
Das Fahrrad ist halt hip, als Radfahrer bin ich selbst aktiv, unabhängig | |
und zumindest auf kurzen Wegen schneller. Beim ÖPNV bin ich quasi nur | |
passiver Nutzer. Ich gebe auch zu, dass der Einsatz für den ÖPNV manchmal | |
fast sektiererisch wirken kann, wobei unsere Arbeit gar nicht so viel mit | |
den Expertenforen zu tun hat, an die da viele gleich denken. Herr | |
Strößenreuther hat mich als Pufferküsser bezeichnet. Das bin ich nicht. | |
Auch wenn ich in den 80ern mal unerlaubterweise eine S-Bahn nach | |
Oranienburg gefahren habe, weil mein Onkel Triebfahrzeugführer war. Ich | |
will ganz einfach – Achtung, jetzt wird es pathetisch – eine | |
funktionierende Stadt. | |
Aber Sie hatten schon sehr früh einen Bezug zum Thema, oder? | |
Ja, es gibt da eine gewisse frühkindliche Prägung durch ein großes, privat | |
gebautes Straßenbahnmodell aus der Zeit um 1930, das in der Familie | |
weitergereicht wird und das in meinem Wohnzimmer einen Ehrenplatz hat. Das | |
bekommt mal mein kleiner Neffe, die Erbfolge ist klar geregelt (lacht). | |
Machen Sie eigentlich dort Urlaub, wo besonders interessante Trams fahren? | |
Nö. Ich bin ein Kulturmensch: Ich fahre zum Beispiel nach Wien und gehe ins | |
Konzert eines Freundes. Aber natürlich fallen mir anderswo Dinge auf. Für | |
mich als Gehbehinderten ist die Pariser Metro mit ihren endlosen Wegen und | |
Treppen ein einziger Graus. In Turin habe ich beobachtet, wie die schicke | |
neue U-Bahn die Straßenbahn kannibalisiert hat. Und beim Zugfahren in den | |
USA war ich erstaunt, was für eine bauliche Katastrophe viele Bahnhöfe | |
sind. In Chicago liegt der Bahnsteig auf Schienenhöhe! Aber die | |
Angestellten kompensieren das durch ein extrem hohes Maß an Zugewandtheit | |
und Hilfsbereitschaft. | |
Sie müssen ja qua Amt über den hiesigen Nahverkehr meckern. Aber viele | |
BesucherInnen sagen oft, wir wüssten gar nicht, wie gut wir es hätten. | |
Die Wahrheit liegt wohl auch da wieder in der Mitte. Viele Probleme im | |
Nahverkehr sehen die Gäste nicht, denn die liegen oft außerhalb des | |
S-Bahn-Ringes. Unser Hauptproblem in Berlin ist und bleibt aber, dass wir | |
uns selbst ausbremsen. | |
12 Mar 2024 | |
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