# taz.de -- Berliner Bezirk als Konfliktzone: Schicksal Neukölln | |
> Wie kaum ein anderer eignet sich der Bezirk als Projektionsfläche für | |
> Kulturkämpfe. Nun hat ein CDU-Politiker ein kontroverses Buch vorgelegt. | |
Bild: Weil man in Neukölln hart im Nehmen sein muss? Boxhandschuhe als Werbung | |
Herr Liecke, ist Neukölln ein Schicksal?“ Falko Liecke, 49, groß, schlank, | |
kurzes graues Haar, guckt nachdenklich. „‚330.000 Menschen, die | |
unterschiedlicher nicht sein könnten, und dennoch ein Schicksal teilen‘: | |
Das sagen Sie in einem [1][Video zu Ihrem Buch].“ Liecke kommt in Fahrt: | |
„Viele Leute hier kommen nicht aus ihren Kiezen raus – nehmen Sie die | |
High-Deck-Siedlung: Da leben Menschen, die verbringen ihr Leben dort, haben | |
nie das Meer gesehen, vielleicht mal den Zoo. Und die können sich selber | |
nicht daraus befreien.“ | |
Ihnen will er helfen. Der CDU-Politiker war bis zur letzten Berlin-Wahl im | |
September 2021 Neuköllner Stadtrat für Jugend und Gesundheit, jetzt ist er | |
Sozialstadtrat des Bezirks. Sein Buch heißt „Brennpunkt Deutschland. Armut, | |
Gewalt, Verwahrlosung – Neukölln ist erst der Anfang“. | |
Neukölln, das ist an diesem kalten Februartag ein sogenanntes Mischgebiet | |
am Schifffahrtskanal. Zwischen Mietshäusern und Kleingärten ist hier, nah | |
zum Nachbarbezirk Treptow, Gewerbe angesiedelt, eine Autowerkstatt, ein | |
Verpackungsbetrieb, ein Hochzeitssaal. Und seit Kurzem: die Berliner Berg | |
Brauerei. Hinter einem nagelneuen Zaun steht deren frisch erbaute | |
dunkelgrüne Halle, vor dem Zaun steht Liecke und wirkt angespannt. | |
Der einzige Christdemokrat unter den sechs Mitgliedern des Neuköllner | |
Bezirksamts – [2][fünf Stadträt*innen und ein Bürgermeister] –, hat eine | |
ganze Menge Probleme. Eins ist, dass er jetzt Sozialstadtrat ist: In den | |
Bereichen Gesundheit und Jugend hatte sich Liecke in zwölf Jahren Amtszeit | |
über Partei- und Bezirksgrenzen hinweg Anerkennung erworben, für sein | |
Pandemie-Management und weil er sich für den Neubau eines Jugendzentrums | |
und ein neues Treffs für queere Jugendliche eingesetzt hat. | |
Dass er nun Sozialstadtrat sein muss, liegt am Abwärtstrend der CDU bei | |
Wahlen im Bezirk. Auch der gehört zu seinen Problemen – Liecke ist | |
Vorsitzender der CDU Neukölln. Vor allem aber hat er in seinem neuen | |
Ressort den ganz großen Berg von Problemen des Bezirks auf dem Tisch – aber | |
kaum Geld, ihn anzugehen. | |
Bei dem Termin in der Brauerei spielt auch das eine Rolle. Nach einem Gang | |
durch die neue Brauhalle sitzt Liecke im kleinen Schankraum des | |
Unternehmens. Die Brauer*innen wollen ein soziales Projekt im Bezirk | |
anstoßen: Aufsätze für öffentliche Abfalleimer, die Pfandsammler*innen | |
ersparen, Flaschen aus dem Müll wühlen zu müssen. „Das ist weniger | |
demütigend“, sagt Michéle Hengst, Mitte 30 und [3][Geschäftsführerin der | |
Berliner Berg GmbH]. | |
## Angesagte Destination | |
Falko Liecke trägt ein blaues Sakko, trinkt Limo und ist interessiert. | |
Hengsts Sakko ist schwarz, unter den Ärmeln lugen Tattoos bis zu den | |
Handgelenken hervor. 16 Beschäftigte hat ihr Betrieb, rund vier Millionen | |
Euro haben die Brauer*innen in den Standort investiert. | |
Bier hat Tradition im Bezirk. Die 2005 stillgelegte Kindl-Brauerei im | |
Neuköllner Norden ist heute Kunst- und Kulturstandort. Berliner Berg | |
bedient das Publikum, das solche Veränderungen in den Bezirk locken soll, | |
als neue Anwohner*innen wie als Tourist*innen. In immer mehr Straßen | |
reihen sich Cafés, Restaurants, Bars und Hostels aneinander, neu zugezogene | |
Hipsterpärchen führen die gleichen handtaschengroßen Hunde Gassi wie | |
alteingesessene Neuköllnerinnen. In der Sonnenallee, wegen ihrer vielen | |
arabischen Läden „arabische Straße“ genannt, eröffnen Bio-Supermärkte n… | |
Geschäften für islamische Bekleidung, alte Einwanderer aus der Türkei und | |
dem Libanon rauchen neben jungen aus Spanien und den USA Shisha. | |
Nord-Neukölln steht als hippe Destination in internationalen Reiseführern, | |
alte Eckkneipen bieten ihr Logo als Souvenir auf T-Shirts an. In den | |
Spätis, angesagte Treffs der Partyszene, kostet das Pils von Berliner Berg | |
um die 1,90 Euro, dreimal mehr als das billigste. | |
In Lieckes Buch kommen Gründer*innen wie Hengst und ihre Zielgruppe | |
nicht vor, ebenso wenig wie andere Veränderungen Nord-Neuköllns. Um | |
[4][fast 150 Prozent] stiegen die Wohnungsmieten bei Neuverträgen hier im | |
letzten Jahrzehnt. Nicht nur für arme Leute, von denen es hier viele gibt – | |
„fast jedes zweite Kind in Neukölln wächst in einem Hartz-IV-Haushalt auf�… | |
schreibt Liecke –, ist Gentrifizierung ein Problem. | |
Der Begriff taucht in seinem Buch nur ein Mal auf. Sieht er den | |
Zusammenhang nicht? „Doch“, sagt Liecke, aber „das ist nicht mein | |
fachlicher Schwerpunkt“ – also mal nicht sein Problem. Gentrifizierung | |
bringt Geld in den Bezirk, etwa über Gewerbesteuern. Und um die | |
Neu-Neuköllner*innen, die sich die hohen Mieten leisten können, muss sich | |
sein Sozialamt nicht kümmern. Um die Obdachlosen schon. Die „Beendigung | |
unfreiwilliger Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030“ hat sich Berlins | |
rot-grün-roter Senat zum Ziel gesetzt und mit den Bezirken dazu | |
Vereinbarungen geschlossen. | |
1.018.845.600 Euro beträgt der Haushalt des Bezirks 2022. Der Amtsbereich | |
Soziales bekommt davon viel: 461.364.000 Euro, 45,2 Prozent. Doch davon, | |
rechnet die Pressestelle des Bezirks vor, sind „circa 460.842.800 Euro“ | |
„festgeschriebene gesetzliche Leistungen und Personalmittel“, ein Anteil | |
von 99,88 Prozent. Gut eine halbe Million bleibt Liecke für andere | |
Projekte, für Senior*innen oder Obdachlose etwa. Spielraum für eigene | |
politische Zielsetzungen bleibt da kaum. | |
„Ein Sozialstadtrat hat nicht viele Möglichkeiten“, sagt Bernd Szczepanski, | |
Mitglied im Neuköllner Bezirksparlament und von 2011 bis 2016 selbst | |
Sozialstadtrat. Der Grüne sieht „bei aller grundsätzlichen Kritik“ auch | |
einen „positiven Ansatz“ bei Liecke: „Der [5][Podcast des Gesundheitsamts] | |
mit Informationen zur Coronapandemie: Das war eine gute Sache, das muss ich | |
anerkennen.“ | |
Neukölln habe die Pandemie im Vergleich zu anderen Bezirken ganz gut | |
gemanagt, sagt auch die Grüne Anja Kofbinger. Sie saß bis September für den | |
Neuköllner Norden – wo längst [6][Grün gewählt wird] – im Berliner | |
Abgeordnetenhaus und hatte dort als Mitglied im Gesundheitsausschuss | |
Einblick ins Coronamanagement der Bezirke. Sie ergänzt: „Liecke war eben so | |
klug, auf seine Verwaltung zu hören!“ | |
Das zeichne einen guten Kommunalpolitiker ja gerade aus, heißt es dazu aus | |
der Neuköllner Gesundheitsverwaltung. Auch politische Gegner im Bezirksamt | |
bescheinigen Liecke, gebürtiger Berliner und Diplom-Verwaltungswirt, guten | |
Umgang mit seinen Mitarbeiter*innen. | |
Am Tag vor dem Besuch in der Brauerei hat Liecke aber „Mist gebaut“, wie er | |
später in seinem Büro in Neuköllns Rathaus selbst sagt. Per Twitter hatte | |
er der neuen Spitze der Bundesgrünen, Ricarda Lang und Omid Nouripor, ein | |
„fröhliches ‚ALLAHU AKBAR‘“ gewünscht. „Das war vielleicht nicht so… | |
gute Idee“, sagt Liecke jetzt, und dass er den Tweet bald gelöscht und sich | |
bei Nouripour entschuldigt habe. | |
Der Grüne hatte 2018 bei einer Bundestagsdebatte über einen AfD-Antrag zur | |
„Unvereinbarkeit von Islam, Scharia und Rechtsstaat“ gesagt: „[7][Unser J… | |
hier ist, dafür zu sorgen, dass die Teile (der Scharia, die Red.), die mit | |
dem Grundgesetz vereinbar sind, auch angewendet werden können, aber | |
diejenigen nicht, die dies nicht sind].“ Das wurde in rechten Kreisen | |
schnell zu: Nouripour wolle in Deutschland die Scharia, also islamisches | |
Recht, einführen. | |
Liecke als Islamfeind: Das sehen einige in Neukölln so. 20 Prozent hier | |
sind Menschen, die oder deren Vorfahren aus mehrheitlich islamischen | |
Ländern stammen, was nichts über ihre Verbundenheit zum Islam aussagt. | |
Liecke kämpft gegen eine [8][Moschee im Bezirk], die wegen vermuteter | |
Verbindungen zur islamistischen Muslimbruderschaft im Berliner | |
Verfassungsschutzbericht genannt wurde, dagegen aber erfolgreich geklagt | |
hat. | |
Und er kämpft für das Berliner Neutralitätsgesetz, das Beschäftigten im | |
Staatsdienst das sichtbare Tragen religiöser Symbole verbietet – etwa das | |
Kopftuch, weshalb vor allem [9][muslimische Lehrerinnen dagegen klagen]. | |
„Nicht unter jedem Kopftuch steckt eine Islamistin“, schreibt Liecke: „Ab… | |
wer als Kopftuchaktivistin auftritt, vertritt einen fundamentalen, | |
antifeministischen und politischen Islam, der im Widerspruch zu unserer | |
freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht.“ | |
Liecke selbst sieht sich damit als Verteidiger eines „auf unserer | |
Verfassung fußenden“ Rechtsstaats, zu dessen Grundlagen für ihn | |
„unverhandelbar“ Neutralität gehört. Ein Berufsverbot für muslimische | |
Lehrerinnen sei das Kopftuchverbot nicht: „Sie können es ja ablegen und | |
ihren Beruf dann ausüben“, sagt der Christdemokrat. | |
Er ist damit auf einer Linie mit der Berliner SPD, die das Gesetz 2005 | |
einführte und seither verteidigt – damals in einer Koalition mit der | |
Linken, die es heute kritisch sieht. Auch in anderen Punkten geht der | |
CDUler konform mit Sozialdemokrat*innen: etwa bei der Bekämpfung | |
sogenannter Clankriminalität, bei der vor allem Familien arabischer | |
Herkunft im Fokus stehen. Und die in Neukölln bis zur letzten Wahl mit | |
Razzien in Shisha-Bars durchgeführt wurde, mit großem Polizeiaufgebot und | |
teils begleitet von Bezirksbürgermeister Martin Hikel, SPD. | |
Tatsächlich hat in Neukölln eine Familie einen Wohnsitz, der mehrere Männer | |
angehören, die wegen des Raubs einer Goldmünze aus dem Bode-Museum | |
[10][verurteilt und beim Juwelendiebstahl im Dresdner Grünen Gewölbe | |
tatverdächtig sind]. Wenn Liecke solche schweren Straftaten mit teuren | |
Uhren und Autos und sonstigem „archaischem Geltungsdrang“ arabischer Männer | |
in einen Topf wirft, ist er ebenfalls nicht allein: Auch Polizeipräsidentin | |
Barbara Slowik verwies bei der Vorstellung des „Lagebilds Organisierte | |
Kriminalität Berlin 2018“, in dem „Clankriminalität“ erstmals auftaucht… | |
auf Rolex-Uhren und Zweite-Reihe-Parken: Das sei zwar nicht kriminell, aber | |
„[11][da fängt es an]“. Liecke erregte 2018 viel Aufsehen mit dem | |
Vorschlag, kriminellen „Clans“ die [12][Kinder wegzunehmen]. | |
## Im Käfig aus Bildungsferne | |
Der Stadtrat erzählt von Neuköllner Jungen, „die mir sagen: Das wollen wir | |
auch!“ Dass es viele Menschen arabischer und türkischer Herkunft gibt, die | |
ihr Geld ehrlich verdienen, weiß er. Aber auch die kommen in seinem Buch | |
kaum vor: Lieckes Blick gilt jenen, die das aufgrund ihrer Herkunft nicht | |
schaffen. Über muslimische Frauen in einem Elterncafé schreibt er: „Ihr | |
Käfig ist geschaffen aus Bildungsferne, pseudoreligiösen archaischen Riten | |
und Gebräuchen sowie anerzogener und teils brutal durchgesetzter | |
Unterdrückung. Wo sie herkommen, ist das normal.“ Briefe aus der Schule | |
müssten ihnen „von der zweitjüngsten Tochter übersetzt“ werden, „die | |
älteren Kinder haben Ärger im Jugendklub, und der Mann ist – wenn überhaupt | |
– nur dann zu Hause, wenn gegen Monatsmitte das Geld für den Spielautomaten | |
fehlt“. | |
Das gibt es in Neukölln. Der frühere Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky | |
hat es vor zehn Jahren in seinem Buch „Neukölln ist überall“ beschrieben. | |
„Parallelgesellschaft“ nannte das der Sozialdemokrat, auf den Liecke in | |
seinem Buch fast ehrfürchtig Bezug nimmt. Buschkowskys Begriff benutzt er | |
nicht. Und doch gleicht das Neukölln, dass der CDU-Mann beschreibt, dem des | |
SPDlers – als habe sich seither nichts verändert. | |
„Es ist schlimm, wenn wir alle immer so in einen Topf geworfen werden“, | |
sagt ein Bewohner, der im Café in der High-Deck-Siedlung nicht weit südlich | |
der Berliner Berg Brauerei Tee trinkt. Er wohne seit der Kindheit hier, nun | |
wüchsen seine Kinder hier auf, sagt der Enddreißiger palästinensischer | |
Herkunft. Dass es Probleme gibt, wolle er nicht leugnen: Schlägereien | |
zwischen Jugendlichen, Drogen. „Aber es gibt viele Bewohner, die sich hier | |
engagieren.“ | |
„Schule des Verbrechens“ heißt Lieckes Kapitel über die High-Deck-Siedlun… | |
in der „selbst Polizistinnen in Zivil nur dann ungestört ihrer Arbeit | |
nachgehen können, wenn sie sich ein Kopftuch überziehen“. Nader Khalil | |
seufzt, als er das hört, und schweigt dann lange. Der Leiter des | |
Deutsch-Arabischen Zentrums für Bildung und Integration, kurz DAZ, das | |
weiter nördlich in Neukölln angesiedelt ist, sitzt in seinem Büro in der | |
Siedlung, die in den 1980er Jahren fertiggestellt wurde. Für manche ist sie | |
ein [13][architektonisches Juwel], für andere ein Neuköllner Schandfleck. | |
Auf Bodenhöhe befinden sich Parkplätze und Müllräume, eine Etage höher, auf | |
den „High Decks“, verbinden Fußwege die zwei- bis fünfgeschossigen | |
Wohnhäuser. Grünflächen liegen zwischen den Blöcken, einige Wohnungen haben | |
Gärten. Oben ist es freundlich und hell, unten sammelt sich Müll in dunklen | |
Ecken. | |
„Wir haben das DAZ hierher geholt, weil wir Ansprache und Beratung in | |
arabischer Sprache brauchen“, sagt Ines Müller. Geschätzt 2.000 der etwa | |
5.000 Bewohner*innen seien arabischer Herkunft, Müller sagt „Menschen | |
mit arabischer Migrationskompetenz“. Seit 20 Jahren ist sie | |
Quartiersmanagerin in der Siedlung: „Wir sehen, dass immer mehr junge Leute | |
hier eine Ausbildung machen oder zur Uni gehen.“ Ihre Idee: | |
Arabisch-Unterricht als Zweit- oder Drittsprache an umliegenden Schulen. | |
Viele junge Leute im Bezirk sprächen perfekt Arabisch, „aber lesen und | |
schreiben können sie es nicht“, sagt Müller: „Dabei ist das doch eine | |
Kompetenz, die sie gebrauchen können!“ | |
Nein, neu Zugezogene seien es nicht, die Beratung in arabischer Sprache | |
bräuchten, sagt Nader Khalil: „Das sind Leute, die lange hier sind, viele | |
aus dem Libanon.“ Anders als heute, wo Asylsuchende kostenlos Deutsch- und | |
Integrationskurse und schnell Arbeitserlaubnisse bekommen, wurden | |
Flüchtende vor den libanesischen Bürgerkriegen in den 1970er und 80er | |
Jahren ohne solche Integrationshilfen empfangen. „Viele leben immer noch | |
mit Duldung“, sagt Khalil – ein Aufenthaltsstatus, der alle sechs Monate | |
verlängert werden muss. | |
Falko Liecke verweist in seinem Buch auf sogenannte Altfallregelungen des | |
Bundes, die Betroffenen ermöglichten, aus solchen Kettenduldungen | |
herauszukommen und so „Integrationsperspektiven eröffnet“ hätten. Was | |
Liecke nicht erwähnt, erklärt Khalil: Diese Chance war an Bedingungen | |
geknüpft, etwa die, sein Geld überwiegend selbst zu verdienen – nicht | |
leicht ohne Deutschkenntnisse und, bei Menschen aus libanesischen | |
Flüchtlingslagern, oft ohne Zugang zu Schulbildung. | |
Dass er nun wieder seufzt, hat aber einen anderen Grund. Auch Khalil ist in | |
der CDU und findet gerade keine Antwort auf die Frage, warum. 2006 konnte | |
er es [14][im taz-Interview] noch erklären: „Ich bin ein Wertemensch, ein | |
Familienmensch“, sagt er damals, und „die christlichen Grundwerte sind ja | |
dieselben wie die islamischen“. Ihn störe etwa der offene Drogenhandel im | |
Bezirk: „Es muss eine gewisse Härte des Gesetzes da sein.“ 2009 war er | |
CDU-Kandidat bei der Bundestagswahl. Dass Perspektiven wie die Lieckes | |
arabischstämmige Wähler*innen verprellen, ist eine Vermutung, die er | |
teilt. Aber, sagt Khalil: „Das wird in der CDU nicht gesehen.“ | |
## Rechte Anschläge im Süden | |
Tief im Süden Neuköllns sitzt Heinz Ostermann in seinem Buchladen | |
Leporello, Beate Dirschauer ist auch da, die [15][örtliche Pfarrerin]. Hier | |
in Rudow säumen Lindenbäume alte Pflasterstraßen mit Einfamilienhäusern, | |
der Norden des Bezirks heißt hier „Downtown Neukölln“. Ostermann engagiert | |
sich gegen rechts, hier in Rudow wurde zweimal sein Auto angezündet, die | |
Scheiben seines Geschäfts wurden eingeworfen. Hier haben Dirschauer und er | |
2018 die Initiative „[16][Rudow empört sich]“ ins Leben gerufen: als | |
Reaktion auf solche rechten Anschläge im Stadtteil. | |
Und hier im Süden hat die SPD der CDU im September noch den letzten | |
Wahlkreis in Neukölln abgenommen. Franziska Giffey, sagt Ostermann, sei ja | |
auch „vielleicht kein schlechter CDU-Ersatz“. | |
Die neue Regierende Bürgermeisterin von Berlin hat ihre Karriere in | |
Neukölln begonnen. Als Bildungsstadträtin baute sie die Rütli-Hauptschule, | |
nach einem Hilferuf der Lehrkräfte 2006 Symbol gescheiterter | |
Bildungspolitik, zur Gemeinschaftsschule mit Kita, Grundschule und | |
gymnasialer Oberstufe um. Der „[17][Campus Rütli]“ hat seither mehr | |
Anmeldungen als Plätze, der Anteil von Schüler*innen nichtdeutscher | |
Herkunftssprache sank von 83 auf 68 Prozent – was auch mit der | |
Gentrifizierung im Nordneuköllner Einzugsbereich der Schule zu tun haben | |
dürfte. | |
Bei der Integration von Roma-Familien, die im vergangenen Jahrzehnt | |
verstärkt nach Neukölln einwanderten, enthielt sich die spätere | |
Nachfolgerin von Bürgermeister Buschkowsky wertender Äußerungen: Diese | |
Neu-Neuköllner hätten als EU-Bürger Rechte, die umzusetzen seien, [18][so | |
Giffeys Tenor]. Rudow ist ihr Wahlkreis. Die Initiative „Rudow empört sich“ | |
erfahre durch die SPD Unterstützung, sagt Buchhändler Ostermann. | |
Bezirkspolitiker, auch Giffey, ließen sich bei der Menschenkette gegen | |
rechts am Internationalen Tag gegen Rassismus im März 2021 sehen – wie auch | |
Linke und Grüne. | |
Aber auch das Leben des Stadtteils ändere sich und werde vielfältiger, sagt | |
Pfarrerin Dirschauer. Zusehends zögen Familien mit ganz unterschiedlichen | |
Migrationsgeschichten hierher. Am Rudower Gymnasium liegt der Anteil von | |
Schüler*innen nichtdeutscher Herkunftssprache bei fast 50 Prozent. | |
All diese Veränderungen im Bezirk bilden sich auch politisch ab: Ins | |
Landesparlament wählte Neukölln 2021 drei Abgeordnete mit | |
Migrationshintergrund: ein Linker, zwei von der SPD (Interview 50, 51). Das | |
Bundestagsmandat errang der Sozialdemokrat Hakan Demir. Die AfD bekam 2016 | |
im Bezirk 12,7 Prozent der Stimmen, 2021 noch 7,1. Der bisher einzige | |
AfD-Stadtrat wechselte noch im Amt zur CDU, später zu den Freien Wählern. | |
Im Bezirksparlament sitzen unter 55 Mitgliedern acht mit | |
Einwanderungsgeschichte, keine*r davon Christdemokrat*in. | |
„Herr Liecke, hat die CDU etwas verschlafen, was die SPD verstanden hat?“ | |
Falko Liecke sieht das andersherum: „Franziska Giffey hat von uns | |
abgekupfert und die Leute damit eingelullt.“ Warum hat er sein Buch nicht | |
vor der Wahl veröffentlicht? „Ich wollte mit dem Buch keine Wahlen | |
gewinnen“, sagt Liecke und guckt wieder nachdenklich. „Ich will den Bezirk | |
nach vorne bringen. Neukölln trägt man im Herzen.“ 2011 war er in Berlins | |
Landesparlament gewählt worden – 38,3 Prozent bekam Liecke damals in seinem | |
Wahlkreis im Rudower Nachbarstadtteil Buckow. Er blieb lieber Stadtrat in | |
Neukölln. | |
9 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=miMpGuuaiNY | |
[2] https://www.berlin.de/ba-neukoelln/politik-und-verwaltung/bezirksamt/ | |
[3] /Junge-Berliner-Brauereien/!5792269 | |
[4] https://www.tagesspiegel.de/berlin/langzeitstudie-zum-berliner-mietenmarkt-… | |
[5] https://gesundheitsamtneukoelln.podigee.io/ | |
[6] https://www.wahlen-berlin.de/wahlen/Be2021/AFSPRAES/index.html | |
[7] https://dserver.bundestag.de/btp/19/19055.pdf#P.5893 | |
[8] https://www.nbs-ev.de/ | |
[9] /Kopftuch-Streit-vor-Gericht/!5710379 | |
[10] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/einbruch-ins-gruene-gewoelbe-remmo-… | |
[11] /Organisierte-Kriminalitaet-in-Berlin/!5645824 | |
[12] https://www.tagesspiegel.de/berlin/arabische-grossfamilien-in-berlin-kann-… | |
[13] https://www.berlin.de/landesdenkmalamt/aktuelles/kurzmeldungen/2021/digita… | |
[14] /!451218/ | |
[15] https://www.kirche-rudow.de/ | |
[16] https://www.buendnis-neukoelln.de/2018/rudow-empoert-sich/ | |
[17] https://campusruetli.de/ | |
[18] /Integration/!5085159 | |
## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
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