# taz.de -- Kopftuch für Lehrerinnen: Ende eines Kulturkampfs | |
> Als letztes Bundesland muss Berlin Lehrerinnen mit Kopftuch zulassen. | |
> Dass Gerichte das wiederholt einfordern mussten, ist peinlich für die | |
> Politik. | |
Bild: Die Lehrerin Fereshta Ludin 2003 vor dem Bundesverfassungsgericht in Karl… | |
Die letzte Abwehrschlacht ist geschlagen, das Rückzugsgefecht verloren. Das | |
Land Berlin darf seinen Lehrerinnen nicht pauschal verbieten, [1][ein | |
Kopftuch zu tragen]. Das hatte das Bundesarbeitsgericht in Erfurt zwar | |
bereits vor zweieinhalb Jahren festgestellt. | |
Doch die damalige Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) wollte das so | |
nicht hinnehmen und reichte, unterstützt von der Rechtsanwältin Seyran | |
Ateş, Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Diese Beschwerde wurde | |
jetzt abgewiesen. Damit endet ein Berliner Sonderweg – und zugleich auch | |
ein zäher und erbittert geführter Kulturkampf. | |
Der begann vor ziemlich genau 25 Jahren, als die deutsch-afghanische | |
Lehrerin Fereshta Ludin in Baden-Württemberg nicht in den Schuldienst | |
aufgenommen wurde, weil sie im Unterricht aus Glaubensgründen ein Kopftuch | |
tragen wollte. Damit begann 1998, was als „Kopftuchstreit“ in die deutsche | |
Geschichte eingehen sollte. Die rechtspopulistischen „Republikaner“ saßen | |
damals noch im Stuttgarter Landtag und machten Druck, und die damalige | |
CDU-Kultusministerin Annette Schavan gab sich betont hart: Das Kopftuch sei | |
ein „Symbol des Islamismus“ und der „Unterdrückung der Frau“ und habe | |
nichts in Lehrerzimmern zu suchen. Diese schrillen Töne sollten die Debatte | |
fast zwei Dekaden lang prägen. | |
Es ging dabei meist um mehr als [2][nur um das Kopftuch]: Bei vielen | |
„Islamkritiker:innen“ schwangen Verschwörungsfantasien von einer angeblich | |
schleichenden „Islamisierung“ mit. | |
Mit seinem ersten Kopftuch-Urteil 2003 sorgte das Bundesverfassungsgericht | |
für Verwirrung. Viele Bundesländer verstanden es als Aufforderung, | |
gesetzliche Kopftuchverbote für Lehrerinnen einzuführen. Das Land Berlin | |
ging sogar darüber hinaus und untersagte es allen Lehrkräften an | |
öffentlichen Schulen, im Dienst irgendein religiöses Symbol zu tragen – | |
egal ob Kopftuch, Kippa oder Kreuz am Hals. Erst zwölf Jahre später | |
stellten die Richter:innen in Karlsruhe klipp und klar fest, ein | |
pauschales Kopftuchverbot sei nicht mit der Religionsfreiheit vereinbar, | |
die das Grundgesetz garantiert. Nur wenn der Schulfrieden bedroht sei, | |
könne es im Einzelfall verboten werden. | |
Seither unterrichten in mehreren Bundesländern an staatlichen Schulen | |
muslimische Lehrerinnen, die ein Kopftuch tragen. Der Schulfrieden wird | |
dadurch nicht gestört – außer durch intolerante Eltern oder Kolleg:innen, | |
die damit ein Problem haben. Die Schreckensszenarien haben sich nicht | |
erfüllt, die moralische Panik war unbegründet. | |
Natürlich dürfen Lehrkräfte nicht missionieren. Das gilt aber nicht nur für | |
muslimische Lehrerinnen und das war auch schon immer so. Bisher ist auch | |
nicht bekannt, dass Schüler:innen beim Anblick eines Kopftuchs spontan | |
zum Islam konvertiert wären. Ganz im Gegenteil: Wenn selbst Lehrerinnen ein | |
Kopftuch tragen, dann taugt es nicht mehr als Zeichen des Protests, als | |
Mittel zur Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft oder der | |
Erwachsenenwelt. Durch seine Normalität wird das Kopftuch mehr und mehr | |
entpolitisiert. | |
Fast alle Bundesländer erlauben Lehrerinnen inzwischen ein Kopftuch, wenn | |
diese das wollen – alle, außer Berlin. Die Hauptstadt zahlte zuletzt sogar | |
lieber Entschädigungen an Lehrerinnen, die sich diskriminiert fühlten, als | |
ihr [3][fragwürdiges „Neutralitätsgesetz“] abzuschaffen. Der Name ist | |
geschickt gewählt, aber irreführend: Er verkehrt den Sinn staatlicher | |
Neutralität in sein Gegenteil. Denn ein wirklich religionsneutraler Staat | |
beschneidet nicht die Religionsfreiheit seiner Lehrer:innen und macht | |
ihnen auch keine Bekleidungsvorschriften. Das hat das | |
Bundesverfassungsgericht klargestellt. | |
Im Berliner Sonderweg wirkt ein preußischer Staatsprotestantismus nach, der | |
sichtbare Zeichen der Religiosität stets mit Argwohn beäugte. Im | |
Kaiserreich richtete sich das gegen Katholiken, in der „Berliner Republik“ | |
gegen Muslime. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass in Berlin – | |
neben der AfD – nur noch die Partei mit dem „C“ im Parteinamen an dem | |
Gesetz festhalten will. Es gefährde „den Frieden und Zusammenhalt“, wenn | |
religiöse Symbole „in staatlichen Einrichtungen demonstrativ zur Schau | |
gestellt werden“, kommentierte die Berliner CDU-Politikerin Cornelia | |
Seibeld trotzig den Entscheid aus Karlsruhe. Die kirchenpolitische | |
Sprecherin der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus meinte damit | |
natürlich nicht Weihnachtsbäume oder Osterschmuck, sondern das Kopftuch bei | |
Lehrerinnen. | |
Dass Gerichte immer wieder auf Religionsfreiheit für alle pochten zeigt | |
zwar einerseits, dass der Rechtsstaat funktioniert. Allerdings brauchten | |
die Gerichte dafür viel Zeit. Und auf die Politik wirft das kein gutes | |
Licht. Insbesondere christdemokratisch geprägte Landesregierungen trieben | |
lieber populistische Gesetze voran, die muslimische Lehrerinnen im Namen | |
einer vorgeblich christlichen „Leitkultur“ diskriminierten. | |
Und selbst im liberalen Berlin trauten sich nicht mal SPD, Linke und Grüne, | |
das umstrittene Kopftuchverbot aus eigenem Antrieb abzuschaffen, sondern | |
warteten lieber das Urteil aus Karlsruhe ab. Wer sich fragt, warum manche | |
Muslime der deutschen Politik distanziert gegenüberstehen, könnte hier eine | |
Antwort finden. | |
Der Kampf um das Kopftuch hat sich inzwischen von den Schulen auf andere | |
Gebiete verlagert. Einige Bundesländer haben neue Gesetze eingeführt, die | |
es Richterinnen, Staatsanwältinnen und sogar Referendarinnen untersagen, im | |
Gerichtssaal ein Kopftuch zu tragen. | |
Das Kopftuch bleibt also auch weiterhin ein Reizthema – es ist heute aber | |
nicht mehr das [4][einzige Thema, das derartige Überreaktionen provoziert]. | |
Der Kampf gegen „Wokeness“, gegen „Cancel Culture“ und andere vermeintl… | |
Auswüchse einer angeblich überbordenden „Identitätspolitik“ hat das | |
Kopftuch inzwischen als Angstthema Nummer eins abgelöst. | |
7 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
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