# taz.de -- Kopftuch für Lehrerinnen in Berlin: Nur noch manchmal ein Problem | |
> Kopftuchverbote für Lehrerinnen sollen bald nur noch im Einzelfall | |
> möglich sein. Die Opposition sieht darin eine Hintertür für weitere | |
> Diskriminierung. | |
Bild: Rechtsstreit mit langer Geschichte: Journalist*innen und eine Anwältin a… | |
Berlin taz | Die Berliner Grünen und Linken kritisieren die geplante | |
Änderung des Neutralitätsgesetzes als Mogelpackung. An der rechtlichen | |
Unsicherheit für Kopftuch tragende Lehrerinnen werde sich nichts ändern, | |
sagte die Sprecherin für Antidiskriminierung der Grünen-Fraktion, Tuba | |
Bozkurt, der taz. Denn es bleibe unklar, was genau unter einer konkreten | |
Gefährdung des Schulfriedens oder Verletzung der staatlichen Neutralität zu | |
verstehen ist. „Durch diese Hintertür könnte die Schulaufsicht jederzeit | |
einer Lehrerin kündigen, es gibt keine Rechtssicherheit für muslimische | |
Frauen.“ | |
So sieht es auch ihre Kollegin von der Linken, Elif Eralp. „Diese | |
Minimallösung ist eine Enttäuschung für Musliminnen aus Sicht von | |
Antidiskriminierungspolitik.“ Ein Verbot sei im Einzelfall weiter möglich, | |
„obwohl eine Gefährdung des Schulfriedens nicht vom bloßen Tragen eines | |
Kopftuchs ausgehen kann“. | |
Schwarz-Rot hatte am Wochenende unter anderem beschlossen, das Berliner | |
Neutralitätsgesetz an höchstrichterliche Rechtsprechung anzupassen. Es | |
solle künftig nur noch greifen, „wenn aufgrund objektiv nachweisbarer und | |
nachvollziehbarer Tatsachen eine hinreichend konkrete Gefährdung oder | |
Störung des Schulfriedens oder der Neutralität des Staates belegbar ist“. | |
Eine Entscheidung darüber „trifft die Schulaufsichtsbehörde auf Grundlage | |
einer verhältnismäßigen Einzelfallprüfung“, formulierten die | |
Fraktionsspitzen von CDU und SPD. | |
Bisher verbietet das Gesetz das Tragen religiös konnotierter Kleidung für | |
Lehrer – außer an Berufsschulen – sowie für Polizisten und | |
Justizangestellte. Dieses Verbot hatten das Bundesverfassungsgericht | |
(BVerfG) [1][im Jahr 2015] sowie das Bundesarbeitsgericht (BAG) [2][im Jahr | |
2020] zumindest für Lehrer*innen für verfassungswidrig erklärt, da es die | |
Religionsfreiheit verletze. | |
Das bloße Tragen religiöser Kleidung sei an sich kein Hinweis auf eine | |
Missachtung der staatlichen Neutralität, so die Richter. Für ein Verbot | |
müsse eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens im Einzelfall nachweisbar | |
sein. Wie genau dies aussehen könnte, hatten die Gerichte nicht erklärt. | |
In der Praxis ging es bisher fast immer um Lehrerinnen mit islamischem | |
Kopftuch, verboten sind in Berlin aber auch Kippa, Turban oder Habit. Auch | |
die erwähnten Gerichtsurteile kamen durch Klagen von Kopftuch tragenden | |
Lehrerinnen zustande. Ein erstes [3][BVerfG-Urteil von 2003] zu Lehrerinnen | |
mit Kopftuch war überhaupt der Grund, das Neutralitätsgesetz in Berlin 2005 | |
einzuführen. | |
Juristisch bewegt sich Berlin spätestens seit dem BAG-Urteil von 2020 auf | |
wackeligem Grund. Nach langem Zögern und einer [4][verlorenen Beschwerde | |
vor dem BVerfG Anfang 2023] schrieb die Bildungsverwaltung [5][im März 2023 | |
in einem Rundschreiben] an die Schulen, das Neutralitätsgesetz werde bei | |
Lehrerinnen nicht mehr angewandt. Vereinzelt wurden seither tatsächlich | |
„Kopftuch-Lehrerinnen“ eingestellt, aber laut der Claim-Allianz, einem | |
zivilgesellschaftlichen Bündnis gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit, | |
wurde mindestens in einem Fall die Bewerbung einer Frau mit Verweis auf ihr | |
Kopftuch abgelehnt. | |
Rima Hanano, Co-Geschäftsführerin von Claim, sieht deshalb in der geplanten | |
Reform keinen Fortschritt. Sie sagt: „Schulfrieden ist ein unklarer Begriff | |
und als Orientierung nicht hilfreich.“ Es bleibe weiter die Frage, was den | |
Frieden an einer Schule stört: „Der ungeübte Umgang mit Diversität oder das | |
Kopftuch. Ich würde sagen, ersteres.“ | |
## Forderung nach kompletter Abschaffung | |
Laut Schwarz-Rot soll die geplante Änderung des Gesetzes der Anpassung an | |
die Rechtsprechung und der „aktuell gelebten Berliner Praxis“ dienen. | |
[6][Tuba Bozkurt von den Grünen] bezweifelt das. Sie sprach von einem | |
„faulen Kompromiss“ zwischen SPD und CDU, der nur suggeriere, dass etwas | |
geschieht. Zum einen sei die Formulierung „hinreichend konkrete Gefährdung | |
des Schulfriedens“, die auf „objektivierbare Tatsachen“ gestützt werden | |
soll, eine „Gummiformel“. Zum anderen seien die bezirklichen | |
Schulaufsichtsbehörden keine neutrale Instanz, um darüber zu entscheiden. | |
Grüne und Linke fordern daher ebenso wie Claim weiterhin die komplette | |
Abschaffung des Neutralitätsgesetzes. Das Verbot der Überwältigung sowie | |
das Gebot der Neutralität würden ohnehin für alle Lehrer*innen gelten, | |
sagte Bozkurt. „Ob es befolgt wird, ist nicht an der Kleidung festzumachen, | |
sondern am Handeln.“ | |
Das Gleiche gelte auch für Polizisten und Justizangestellte, die beiden | |
anderen vom Neutralitätsgesetz betroffenen Berufsgruppen. Linke und Grüne | |
wollen sie ebenfalls vom Verbot befreit wissen, „damit alle Menschen die | |
gleichen Berufszugänge haben und sich die Vielfalt Berlins auch in seinem | |
öffentlichen Dienst widerspiegelt“, wie Elif Eralp von der Linken sagte. | |
Die Koalition will dagegen bei Polizei und Justiz alles beim Alten lassen. | |
Das sei „auch leicht nachzuvollziehen“, erklärte Martin Matz, | |
innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, „wenn man sich konkrete | |
Einsatzsituationen der Polizei oder richterliche Entscheidungen vorstellt, | |
in denen der von hoheitlichem Handeln betroffene Bürger und die namens des | |
Staates tätige Person gut sichtbare Zeichen unterschiedlicher Religionen | |
tragen“. | |
## Aktueller Fall in Bremen | |
Dass es anders gehen könnte, zeigt laut Bozkurt ein aktueller Fall aus | |
Bremen. Dort wurden im Mai die neuen Anwärter für den Kommissardienst | |
öffentlich präsentiert, darunter auch ein Mann mit Sikh-Turban. Ob das ein | |
Beleg für die Offenheit der Bremer ist, muss sich aber noch zeigen. Denn | |
der bisher in Deutschland einmalige Fall hat an der Weser sogleich eine | |
Debatte über Neutralität im Staatsdienst ausgelöst, [7][berichtet das | |
Lokalmagazin der ARD] „buten und binnen“. | |
Zurück nach Berlin: Orkan Özdemir, Sprecher der SPD-Fraktion für | |
Antidiskriminierung, hätte sich persönlich auch mehr vorstellen können, wie | |
er der taz sagte. Aber man arbeite ja in einer Koalition – und die | |
vorliegende Formulierung sei der Kompromiss, der mit der CDU möglich sei. | |
„Von mir aus hätte man die Einschränkung, unter welchen Umständen das | |
Neutralitätsgesetz in der Schule weiter gilt, ganz streichen können.“ | |
Schließlich sei auch in anderen Bundesländern mit weiter reichenden | |
Regelungen „das Abendland bisher nicht untergegangen“. | |
Persönlich hätte Özdemir auch kein Problem damit, das Tragen religiöser | |
Kleidung für Polizisten und Justizangestellte zu erlauben. „Wir müssen uns | |
heute schon fragen, wie zeitgemäß solche Regeln angesichts der | |
gesellschaftlichen Entwicklungen noch sind.“ Aber diese Diskussion müsse | |
auch in der SPD noch weitergeführt werden. | |
26 Jun 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Religionssymbole-an-Schulen/!5016688 | |
[2] /Kopftuch-Streit-vor-Gericht/!5710379 | |
[3] /Kopftuch-Debatte-in-Berlin/!5385943 | |
[4] /Berliner-Neutralitaetsgesetz/!5909609 | |
[5] https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/19/SchrAnfr/S19-15… | |
[6] /Berliner-Neutralitaetsgesetz/!5895840 | |
[7] https://www.ardmediathek.de/video/buten-un-binnen-oder-regionalmagazin/brem… | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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