| # taz.de -- Berliner Bezirk als Konfliktzone: Schicksal Neukölln | |
| > Wie kaum ein anderer eignet sich der Bezirk als Projektionsfläche für | |
| > Kulturkämpfe. Nun hat ein CDU-Politiker ein kontroverses Buch vorgelegt. | |
| Bild: Weil man in Neukölln hart im Nehmen sein muss? Boxhandschuhe als Werbung | |
| Herr Liecke, ist Neukölln ein Schicksal?“ Falko Liecke, 49, groß, schlank, | |
| kurzes graues Haar, guckt nachdenklich. „‚330.000 Menschen, die | |
| unterschiedlicher nicht sein könnten, und dennoch ein Schicksal teilen‘: | |
| Das sagen Sie in einem [1][Video zu Ihrem Buch].“ Liecke kommt in Fahrt: | |
| „Viele Leute hier kommen nicht aus ihren Kiezen raus – nehmen Sie die | |
| High-Deck-Siedlung: Da leben Menschen, die verbringen ihr Leben dort, haben | |
| nie das Meer gesehen, vielleicht mal den Zoo. Und die können sich selber | |
| nicht daraus befreien.“ | |
| Ihnen will er helfen. Der CDU-Politiker war bis zur letzten Berlin-Wahl im | |
| September 2021 Neuköllner Stadtrat für Jugend und Gesundheit, jetzt ist er | |
| Sozialstadtrat des Bezirks. Sein Buch heißt „Brennpunkt Deutschland. Armut, | |
| Gewalt, Verwahrlosung – Neukölln ist erst der Anfang“. | |
| Neukölln, das ist an diesem kalten Februartag ein sogenanntes Mischgebiet | |
| am Schifffahrtskanal. Zwischen Mietshäusern und Kleingärten ist hier, nah | |
| zum Nachbarbezirk Treptow, Gewerbe angesiedelt, eine Autowerkstatt, ein | |
| Verpackungsbetrieb, ein Hochzeitssaal. Und seit Kurzem: die Berliner Berg | |
| Brauerei. Hinter einem nagelneuen Zaun steht deren frisch erbaute | |
| dunkelgrüne Halle, vor dem Zaun steht Liecke und wirkt angespannt. | |
| Der einzige Christdemokrat unter den sechs Mitgliedern des Neuköllner | |
| Bezirksamts – [2][fünf Stadträt*innen und ein Bürgermeister] –, hat eine | |
| ganze Menge Probleme. Eins ist, dass er jetzt Sozialstadtrat ist: In den | |
| Bereichen Gesundheit und Jugend hatte sich Liecke in zwölf Jahren Amtszeit | |
| über Partei- und Bezirksgrenzen hinweg Anerkennung erworben, für sein | |
| Pandemie-Management und weil er sich für den Neubau eines Jugendzentrums | |
| und ein neues Treffs für queere Jugendliche eingesetzt hat. | |
| Dass er nun Sozialstadtrat sein muss, liegt am Abwärtstrend der CDU bei | |
| Wahlen im Bezirk. Auch der gehört zu seinen Problemen – Liecke ist | |
| Vorsitzender der CDU Neukölln. Vor allem aber hat er in seinem neuen | |
| Ressort den ganz großen Berg von Problemen des Bezirks auf dem Tisch – aber | |
| kaum Geld, ihn anzugehen. | |
| Bei dem Termin in der Brauerei spielt auch das eine Rolle. Nach einem Gang | |
| durch die neue Brauhalle sitzt Liecke im kleinen Schankraum des | |
| Unternehmens. Die Brauer*innen wollen ein soziales Projekt im Bezirk | |
| anstoßen: Aufsätze für öffentliche Abfalleimer, die Pfandsammler*innen | |
| ersparen, Flaschen aus dem Müll wühlen zu müssen. „Das ist weniger | |
| demütigend“, sagt Michéle Hengst, Mitte 30 und [3][Geschäftsführerin der | |
| Berliner Berg GmbH]. | |
| ## Angesagte Destination | |
| Falko Liecke trägt ein blaues Sakko, trinkt Limo und ist interessiert. | |
| Hengsts Sakko ist schwarz, unter den Ärmeln lugen Tattoos bis zu den | |
| Handgelenken hervor. 16 Beschäftigte hat ihr Betrieb, rund vier Millionen | |
| Euro haben die Brauer*innen in den Standort investiert. | |
| Bier hat Tradition im Bezirk. Die 2005 stillgelegte Kindl-Brauerei im | |
| Neuköllner Norden ist heute Kunst- und Kulturstandort. Berliner Berg | |
| bedient das Publikum, das solche Veränderungen in den Bezirk locken soll, | |
| als neue Anwohner*innen wie als Tourist*innen. In immer mehr Straßen | |
| reihen sich Cafés, Restaurants, Bars und Hostels aneinander, neu zugezogene | |
| Hipsterpärchen führen die gleichen handtaschengroßen Hunde Gassi wie | |
| alteingesessene Neuköllnerinnen. In der Sonnenallee, wegen ihrer vielen | |
| arabischen Läden „arabische Straße“ genannt, eröffnen Bio-Supermärkte n… | |
| Geschäften für islamische Bekleidung, alte Einwanderer aus der Türkei und | |
| dem Libanon rauchen neben jungen aus Spanien und den USA Shisha. | |
| Nord-Neukölln steht als hippe Destination in internationalen Reiseführern, | |
| alte Eckkneipen bieten ihr Logo als Souvenir auf T-Shirts an. In den | |
| Spätis, angesagte Treffs der Partyszene, kostet das Pils von Berliner Berg | |
| um die 1,90 Euro, dreimal mehr als das billigste. | |
| In Lieckes Buch kommen Gründer*innen wie Hengst und ihre Zielgruppe | |
| nicht vor, ebenso wenig wie andere Veränderungen Nord-Neuköllns. Um | |
| [4][fast 150 Prozent] stiegen die Wohnungsmieten bei Neuverträgen hier im | |
| letzten Jahrzehnt. Nicht nur für arme Leute, von denen es hier viele gibt – | |
| „fast jedes zweite Kind in Neukölln wächst in einem Hartz-IV-Haushalt auf�… | |
| schreibt Liecke –, ist Gentrifizierung ein Problem. | |
| Der Begriff taucht in seinem Buch nur ein Mal auf. Sieht er den | |
| Zusammenhang nicht? „Doch“, sagt Liecke, aber „das ist nicht mein | |
| fachlicher Schwerpunkt“ – also mal nicht sein Problem. Gentrifizierung | |
| bringt Geld in den Bezirk, etwa über Gewerbesteuern. Und um die | |
| Neu-Neuköllner*innen, die sich die hohen Mieten leisten können, muss sich | |
| sein Sozialamt nicht kümmern. Um die Obdachlosen schon. Die „Beendigung | |
| unfreiwilliger Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030“ hat sich Berlins | |
| rot-grün-roter Senat zum Ziel gesetzt und mit den Bezirken dazu | |
| Vereinbarungen geschlossen. | |
| 1.018.845.600 Euro beträgt der Haushalt des Bezirks 2022. Der Amtsbereich | |
| Soziales bekommt davon viel: 461.364.000 Euro, 45,2 Prozent. Doch davon, | |
| rechnet die Pressestelle des Bezirks vor, sind „circa 460.842.800 Euro“ | |
| „festgeschriebene gesetzliche Leistungen und Personalmittel“, ein Anteil | |
| von 99,88 Prozent. Gut eine halbe Million bleibt Liecke für andere | |
| Projekte, für Senior*innen oder Obdachlose etwa. Spielraum für eigene | |
| politische Zielsetzungen bleibt da kaum. | |
| „Ein Sozialstadtrat hat nicht viele Möglichkeiten“, sagt Bernd Szczepanski, | |
| Mitglied im Neuköllner Bezirksparlament und von 2011 bis 2016 selbst | |
| Sozialstadtrat. Der Grüne sieht „bei aller grundsätzlichen Kritik“ auch | |
| einen „positiven Ansatz“ bei Liecke: „Der [5][Podcast des Gesundheitsamts] | |
| mit Informationen zur Coronapandemie: Das war eine gute Sache, das muss ich | |
| anerkennen.“ | |
| Neukölln habe die Pandemie im Vergleich zu anderen Bezirken ganz gut | |
| gemanagt, sagt auch die Grüne Anja Kofbinger. Sie saß bis September für den | |
| Neuköllner Norden – wo längst [6][Grün gewählt wird] – im Berliner | |
| Abgeordnetenhaus und hatte dort als Mitglied im Gesundheitsausschuss | |
| Einblick ins Coronamanagement der Bezirke. Sie ergänzt: „Liecke war eben so | |
| klug, auf seine Verwaltung zu hören!“ | |
| Das zeichne einen guten Kommunalpolitiker ja gerade aus, heißt es dazu aus | |
| der Neuköllner Gesundheitsverwaltung. Auch politische Gegner im Bezirksamt | |
| bescheinigen Liecke, gebürtiger Berliner und Diplom-Verwaltungswirt, guten | |
| Umgang mit seinen Mitarbeiter*innen. | |
| Am Tag vor dem Besuch in der Brauerei hat Liecke aber „Mist gebaut“, wie er | |
| später in seinem Büro in Neuköllns Rathaus selbst sagt. Per Twitter hatte | |
| er der neuen Spitze der Bundesgrünen, Ricarda Lang und Omid Nouripor, ein | |
| „fröhliches ‚ALLAHU AKBAR‘“ gewünscht. „Das war vielleicht nicht so… | |
| gute Idee“, sagt Liecke jetzt, und dass er den Tweet bald gelöscht und sich | |
| bei Nouripour entschuldigt habe. | |
| Der Grüne hatte 2018 bei einer Bundestagsdebatte über einen AfD-Antrag zur | |
| „Unvereinbarkeit von Islam, Scharia und Rechtsstaat“ gesagt: „[7][Unser J… | |
| hier ist, dafür zu sorgen, dass die Teile (der Scharia, die Red.), die mit | |
| dem Grundgesetz vereinbar sind, auch angewendet werden können, aber | |
| diejenigen nicht, die dies nicht sind].“ Das wurde in rechten Kreisen | |
| schnell zu: Nouripour wolle in Deutschland die Scharia, also islamisches | |
| Recht, einführen. | |
| Liecke als Islamfeind: Das sehen einige in Neukölln so. 20 Prozent hier | |
| sind Menschen, die oder deren Vorfahren aus mehrheitlich islamischen | |
| Ländern stammen, was nichts über ihre Verbundenheit zum Islam aussagt. | |
| Liecke kämpft gegen eine [8][Moschee im Bezirk], die wegen vermuteter | |
| Verbindungen zur islamistischen Muslimbruderschaft im Berliner | |
| Verfassungsschutzbericht genannt wurde, dagegen aber erfolgreich geklagt | |
| hat. | |
| Und er kämpft für das Berliner Neutralitätsgesetz, das Beschäftigten im | |
| Staatsdienst das sichtbare Tragen religiöser Symbole verbietet – etwa das | |
| Kopftuch, weshalb vor allem [9][muslimische Lehrerinnen dagegen klagen]. | |
| „Nicht unter jedem Kopftuch steckt eine Islamistin“, schreibt Liecke: „Ab… | |
| wer als Kopftuchaktivistin auftritt, vertritt einen fundamentalen, | |
| antifeministischen und politischen Islam, der im Widerspruch zu unserer | |
| freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht.“ | |
| Liecke selbst sieht sich damit als Verteidiger eines „auf unserer | |
| Verfassung fußenden“ Rechtsstaats, zu dessen Grundlagen für ihn | |
| „unverhandelbar“ Neutralität gehört. Ein Berufsverbot für muslimische | |
| Lehrerinnen sei das Kopftuchverbot nicht: „Sie können es ja ablegen und | |
| ihren Beruf dann ausüben“, sagt der Christdemokrat. | |
| Er ist damit auf einer Linie mit der Berliner SPD, die das Gesetz 2005 | |
| einführte und seither verteidigt – damals in einer Koalition mit der | |
| Linken, die es heute kritisch sieht. Auch in anderen Punkten geht der | |
| CDUler konform mit Sozialdemokrat*innen: etwa bei der Bekämpfung | |
| sogenannter Clankriminalität, bei der vor allem Familien arabischer | |
| Herkunft im Fokus stehen. Und die in Neukölln bis zur letzten Wahl mit | |
| Razzien in Shisha-Bars durchgeführt wurde, mit großem Polizeiaufgebot und | |
| teils begleitet von Bezirksbürgermeister Martin Hikel, SPD. | |
| Tatsächlich hat in Neukölln eine Familie einen Wohnsitz, der mehrere Männer | |
| angehören, die wegen des Raubs einer Goldmünze aus dem Bode-Museum | |
| [10][verurteilt und beim Juwelendiebstahl im Dresdner Grünen Gewölbe | |
| tatverdächtig sind]. Wenn Liecke solche schweren Straftaten mit teuren | |
| Uhren und Autos und sonstigem „archaischem Geltungsdrang“ arabischer Männer | |
| in einen Topf wirft, ist er ebenfalls nicht allein: Auch Polizeipräsidentin | |
| Barbara Slowik verwies bei der Vorstellung des „Lagebilds Organisierte | |
| Kriminalität Berlin 2018“, in dem „Clankriminalität“ erstmals auftaucht… | |
| auf Rolex-Uhren und Zweite-Reihe-Parken: Das sei zwar nicht kriminell, aber | |
| „[11][da fängt es an]“. Liecke erregte 2018 viel Aufsehen mit dem | |
| Vorschlag, kriminellen „Clans“ die [12][Kinder wegzunehmen]. | |
| ## Im Käfig aus Bildungsferne | |
| Der Stadtrat erzählt von Neuköllner Jungen, „die mir sagen: Das wollen wir | |
| auch!“ Dass es viele Menschen arabischer und türkischer Herkunft gibt, die | |
| ihr Geld ehrlich verdienen, weiß er. Aber auch die kommen in seinem Buch | |
| kaum vor: Lieckes Blick gilt jenen, die das aufgrund ihrer Herkunft nicht | |
| schaffen. Über muslimische Frauen in einem Elterncafé schreibt er: „Ihr | |
| Käfig ist geschaffen aus Bildungsferne, pseudoreligiösen archaischen Riten | |
| und Gebräuchen sowie anerzogener und teils brutal durchgesetzter | |
| Unterdrückung. Wo sie herkommen, ist das normal.“ Briefe aus der Schule | |
| müssten ihnen „von der zweitjüngsten Tochter übersetzt“ werden, „die | |
| älteren Kinder haben Ärger im Jugendklub, und der Mann ist – wenn überhaupt | |
| – nur dann zu Hause, wenn gegen Monatsmitte das Geld für den Spielautomaten | |
| fehlt“. | |
| Das gibt es in Neukölln. Der frühere Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky | |
| hat es vor zehn Jahren in seinem Buch „Neukölln ist überall“ beschrieben. | |
| „Parallelgesellschaft“ nannte das der Sozialdemokrat, auf den Liecke in | |
| seinem Buch fast ehrfürchtig Bezug nimmt. Buschkowskys Begriff benutzt er | |
| nicht. Und doch gleicht das Neukölln, dass der CDU-Mann beschreibt, dem des | |
| SPDlers – als habe sich seither nichts verändert. | |
| „Es ist schlimm, wenn wir alle immer so in einen Topf geworfen werden“, | |
| sagt ein Bewohner, der im Café in der High-Deck-Siedlung nicht weit südlich | |
| der Berliner Berg Brauerei Tee trinkt. Er wohne seit der Kindheit hier, nun | |
| wüchsen seine Kinder hier auf, sagt der Enddreißiger palästinensischer | |
| Herkunft. Dass es Probleme gibt, wolle er nicht leugnen: Schlägereien | |
| zwischen Jugendlichen, Drogen. „Aber es gibt viele Bewohner, die sich hier | |
| engagieren.“ | |
| „Schule des Verbrechens“ heißt Lieckes Kapitel über die High-Deck-Siedlun… | |
| in der „selbst Polizistinnen in Zivil nur dann ungestört ihrer Arbeit | |
| nachgehen können, wenn sie sich ein Kopftuch überziehen“. Nader Khalil | |
| seufzt, als er das hört, und schweigt dann lange. Der Leiter des | |
| Deutsch-Arabischen Zentrums für Bildung und Integration, kurz DAZ, das | |
| weiter nördlich in Neukölln angesiedelt ist, sitzt in seinem Büro in der | |
| Siedlung, die in den 1980er Jahren fertiggestellt wurde. Für manche ist sie | |
| ein [13][architektonisches Juwel], für andere ein Neuköllner Schandfleck. | |
| Auf Bodenhöhe befinden sich Parkplätze und Müllräume, eine Etage höher, auf | |
| den „High Decks“, verbinden Fußwege die zwei- bis fünfgeschossigen | |
| Wohnhäuser. Grünflächen liegen zwischen den Blöcken, einige Wohnungen haben | |
| Gärten. Oben ist es freundlich und hell, unten sammelt sich Müll in dunklen | |
| Ecken. | |
| „Wir haben das DAZ hierher geholt, weil wir Ansprache und Beratung in | |
| arabischer Sprache brauchen“, sagt Ines Müller. Geschätzt 2.000 der etwa | |
| 5.000 Bewohner*innen seien arabischer Herkunft, Müller sagt „Menschen | |
| mit arabischer Migrationskompetenz“. Seit 20 Jahren ist sie | |
| Quartiersmanagerin in der Siedlung: „Wir sehen, dass immer mehr junge Leute | |
| hier eine Ausbildung machen oder zur Uni gehen.“ Ihre Idee: | |
| Arabisch-Unterricht als Zweit- oder Drittsprache an umliegenden Schulen. | |
| Viele junge Leute im Bezirk sprächen perfekt Arabisch, „aber lesen und | |
| schreiben können sie es nicht“, sagt Müller: „Dabei ist das doch eine | |
| Kompetenz, die sie gebrauchen können!“ | |
| Nein, neu Zugezogene seien es nicht, die Beratung in arabischer Sprache | |
| bräuchten, sagt Nader Khalil: „Das sind Leute, die lange hier sind, viele | |
| aus dem Libanon.“ Anders als heute, wo Asylsuchende kostenlos Deutsch- und | |
| Integrationskurse und schnell Arbeitserlaubnisse bekommen, wurden | |
| Flüchtende vor den libanesischen Bürgerkriegen in den 1970er und 80er | |
| Jahren ohne solche Integrationshilfen empfangen. „Viele leben immer noch | |
| mit Duldung“, sagt Khalil – ein Aufenthaltsstatus, der alle sechs Monate | |
| verlängert werden muss. | |
| Falko Liecke verweist in seinem Buch auf sogenannte Altfallregelungen des | |
| Bundes, die Betroffenen ermöglichten, aus solchen Kettenduldungen | |
| herauszukommen und so „Integrationsperspektiven eröffnet“ hätten. Was | |
| Liecke nicht erwähnt, erklärt Khalil: Diese Chance war an Bedingungen | |
| geknüpft, etwa die, sein Geld überwiegend selbst zu verdienen – nicht | |
| leicht ohne Deutschkenntnisse und, bei Menschen aus libanesischen | |
| Flüchtlingslagern, oft ohne Zugang zu Schulbildung. | |
| Dass er nun wieder seufzt, hat aber einen anderen Grund. Auch Khalil ist in | |
| der CDU und findet gerade keine Antwort auf die Frage, warum. 2006 konnte | |
| er es [14][im taz-Interview] noch erklären: „Ich bin ein Wertemensch, ein | |
| Familienmensch“, sagt er damals, und „die christlichen Grundwerte sind ja | |
| dieselben wie die islamischen“. Ihn störe etwa der offene Drogenhandel im | |
| Bezirk: „Es muss eine gewisse Härte des Gesetzes da sein.“ 2009 war er | |
| CDU-Kandidat bei der Bundestagswahl. Dass Perspektiven wie die Lieckes | |
| arabischstämmige Wähler*innen verprellen, ist eine Vermutung, die er | |
| teilt. Aber, sagt Khalil: „Das wird in der CDU nicht gesehen.“ | |
| ## Rechte Anschläge im Süden | |
| Tief im Süden Neuköllns sitzt Heinz Ostermann in seinem Buchladen | |
| Leporello, Beate Dirschauer ist auch da, die [15][örtliche Pfarrerin]. Hier | |
| in Rudow säumen Lindenbäume alte Pflasterstraßen mit Einfamilienhäusern, | |
| der Norden des Bezirks heißt hier „Downtown Neukölln“. Ostermann engagiert | |
| sich gegen rechts, hier in Rudow wurde zweimal sein Auto angezündet, die | |
| Scheiben seines Geschäfts wurden eingeworfen. Hier haben Dirschauer und er | |
| 2018 die Initiative „[16][Rudow empört sich]“ ins Leben gerufen: als | |
| Reaktion auf solche rechten Anschläge im Stadtteil. | |
| Und hier im Süden hat die SPD der CDU im September noch den letzten | |
| Wahlkreis in Neukölln abgenommen. Franziska Giffey, sagt Ostermann, sei ja | |
| auch „vielleicht kein schlechter CDU-Ersatz“. | |
| Die neue Regierende Bürgermeisterin von Berlin hat ihre Karriere in | |
| Neukölln begonnen. Als Bildungsstadträtin baute sie die Rütli-Hauptschule, | |
| nach einem Hilferuf der Lehrkräfte 2006 Symbol gescheiterter | |
| Bildungspolitik, zur Gemeinschaftsschule mit Kita, Grundschule und | |
| gymnasialer Oberstufe um. Der „[17][Campus Rütli]“ hat seither mehr | |
| Anmeldungen als Plätze, der Anteil von Schüler*innen nichtdeutscher | |
| Herkunftssprache sank von 83 auf 68 Prozent – was auch mit der | |
| Gentrifizierung im Nordneuköllner Einzugsbereich der Schule zu tun haben | |
| dürfte. | |
| Bei der Integration von Roma-Familien, die im vergangenen Jahrzehnt | |
| verstärkt nach Neukölln einwanderten, enthielt sich die spätere | |
| Nachfolgerin von Bürgermeister Buschkowsky wertender Äußerungen: Diese | |
| Neu-Neuköllner hätten als EU-Bürger Rechte, die umzusetzen seien, [18][so | |
| Giffeys Tenor]. Rudow ist ihr Wahlkreis. Die Initiative „Rudow empört sich“ | |
| erfahre durch die SPD Unterstützung, sagt Buchhändler Ostermann. | |
| Bezirkspolitiker, auch Giffey, ließen sich bei der Menschenkette gegen | |
| rechts am Internationalen Tag gegen Rassismus im März 2021 sehen – wie auch | |
| Linke und Grüne. | |
| Aber auch das Leben des Stadtteils ändere sich und werde vielfältiger, sagt | |
| Pfarrerin Dirschauer. Zusehends zögen Familien mit ganz unterschiedlichen | |
| Migrationsgeschichten hierher. Am Rudower Gymnasium liegt der Anteil von | |
| Schüler*innen nichtdeutscher Herkunftssprache bei fast 50 Prozent. | |
| All diese Veränderungen im Bezirk bilden sich auch politisch ab: Ins | |
| Landesparlament wählte Neukölln 2021 drei Abgeordnete mit | |
| Migrationshintergrund: ein Linker, zwei von der SPD (Interview 50, 51). Das | |
| Bundestagsmandat errang der Sozialdemokrat Hakan Demir. Die AfD bekam 2016 | |
| im Bezirk 12,7 Prozent der Stimmen, 2021 noch 7,1. Der bisher einzige | |
| AfD-Stadtrat wechselte noch im Amt zur CDU, später zu den Freien Wählern. | |
| Im Bezirksparlament sitzen unter 55 Mitgliedern acht mit | |
| Einwanderungsgeschichte, keine*r davon Christdemokrat*in. | |
| „Herr Liecke, hat die CDU etwas verschlafen, was die SPD verstanden hat?“ | |
| Falko Liecke sieht das andersherum: „Franziska Giffey hat von uns | |
| abgekupfert und die Leute damit eingelullt.“ Warum hat er sein Buch nicht | |
| vor der Wahl veröffentlicht? „Ich wollte mit dem Buch keine Wahlen | |
| gewinnen“, sagt Liecke und guckt wieder nachdenklich. „Ich will den Bezirk | |
| nach vorne bringen. Neukölln trägt man im Herzen.“ 2011 war er in Berlins | |
| Landesparlament gewählt worden – 38,3 Prozent bekam Liecke damals in seinem | |
| Wahlkreis im Rudower Nachbarstadtteil Buckow. Er blieb lieber Stadtrat in | |
| Neukölln. | |
| 9 Mar 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=miMpGuuaiNY | |
| [2] https://www.berlin.de/ba-neukoelln/politik-und-verwaltung/bezirksamt/ | |
| [3] /Junge-Berliner-Brauereien/!5792269 | |
| [4] https://www.tagesspiegel.de/berlin/langzeitstudie-zum-berliner-mietenmarkt-… | |
| [5] https://gesundheitsamtneukoelln.podigee.io/ | |
| [6] https://www.wahlen-berlin.de/wahlen/Be2021/AFSPRAES/index.html | |
| [7] https://dserver.bundestag.de/btp/19/19055.pdf#P.5893 | |
| [8] https://www.nbs-ev.de/ | |
| [9] /Kopftuch-Streit-vor-Gericht/!5710379 | |
| [10] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/einbruch-ins-gruene-gewoelbe-remmo-… | |
| [11] /Organisierte-Kriminalitaet-in-Berlin/!5645824 | |
| [12] https://www.tagesspiegel.de/berlin/arabische-grossfamilien-in-berlin-kann-… | |
| [13] https://www.berlin.de/landesdenkmalamt/aktuelles/kurzmeldungen/2021/digita… | |
| [14] /!451218/ | |
| [15] https://www.kirche-rudow.de/ | |
| [16] https://www.buendnis-neukoelln.de/2018/rudow-empoert-sich/ | |
| [17] https://campusruetli.de/ | |
| [18] /Integration/!5085159 | |
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