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# taz.de -- Berliner Bezirk als Konfliktzone: Schicksal Neukölln
> Wie kaum ein anderer eignet sich der Bezirk als Projektionsfläche für
> Kulturkämpfe. Nun hat ein CDU-Politiker ein kontroverses Buch vorgelegt.
Bild: Weil man in Neukölln hart im Nehmen sein muss? Boxhandschuhe als Werbung
Herr Liecke, ist Neukölln ein Schicksal?“ Falko Liecke, 49, groß, schlank,
kurzes graues Haar, guckt nachdenklich. „‚330.000 Menschen, die
unterschiedlicher nicht sein könnten, und dennoch ein Schicksal teilen‘:
Das sagen Sie in einem [1][Video zu Ihrem Buch].“ Liecke kommt in Fahrt:
„Viele Leute hier kommen nicht aus ihren Kiezen raus – nehmen Sie die
High-Deck-Siedlung: Da leben Menschen, die verbringen ihr Leben dort, haben
nie das Meer gesehen, vielleicht mal den Zoo. Und die können sich selber
nicht daraus befreien.“
Ihnen will er helfen. Der CDU-Politiker war bis zur letzten Berlin-Wahl im
September 2021 Neuköllner Stadtrat für Jugend und Gesundheit, jetzt ist er
Sozialstadtrat des Bezirks. Sein Buch heißt „Brennpunkt Deutschland. Armut,
Gewalt, Verwahrlosung – Neukölln ist erst der Anfang“.
Neukölln, das ist an diesem kalten Februartag ein sogenanntes Mischgebiet
am Schifffahrtskanal. Zwischen Mietshäusern und Kleingärten ist hier, nah
zum Nachbarbezirk Treptow, Gewerbe angesiedelt, eine Autowerkstatt, ein
Verpackungsbetrieb, ein Hochzeitssaal. Und seit Kurzem: die Berliner Berg
Brauerei. Hinter einem nagelneuen Zaun steht deren frisch erbaute
dunkelgrüne Halle, vor dem Zaun steht Liecke und wirkt angespannt.
Der einzige Christdemokrat unter den sechs Mitgliedern des Neuköllner
Bezirksamts – [2][fünf Stadträt*innen und ein Bürgermeister] –, hat eine
ganze Menge Probleme. Eins ist, dass er jetzt Sozialstadtrat ist: In den
Bereichen Gesundheit und Jugend hatte sich Liecke in zwölf Jahren Amtszeit
über Partei- und Bezirksgrenzen hinweg Anerkennung erworben, für sein
Pandemie-Management und weil er sich für den Neubau eines Jugendzentrums
und ein neues Treffs für queere Jugendliche eingesetzt hat.
Dass er nun Sozialstadtrat sein muss, liegt am Abwärtstrend der CDU bei
Wahlen im Bezirk. Auch der gehört zu seinen Problemen – Liecke ist
Vorsitzender der CDU Neukölln. Vor allem aber hat er in seinem neuen
Ressort den ganz großen Berg von Problemen des Bezirks auf dem Tisch – aber
kaum Geld, ihn anzugehen.
Bei dem Termin in der Brauerei spielt auch das eine Rolle. Nach einem Gang
durch die neue Brauhalle sitzt Liecke im kleinen Schankraum des
Unternehmens. Die Brauer*innen wollen ein soziales Projekt im Bezirk
anstoßen: Aufsätze für öffentliche Abfalleimer, die Pfandsammler*innen
ersparen, Flaschen aus dem Müll wühlen zu müssen. „Das ist weniger
demütigend“, sagt Michéle Hengst, Mitte 30 und [3][Geschäftsführerin der
Berliner Berg GmbH].
## Angesagte Destination
Falko Liecke trägt ein blaues Sakko, trinkt Limo und ist interessiert.
Hengsts Sakko ist schwarz, unter den Ärmeln lugen Tattoos bis zu den
Handgelenken hervor. 16 Beschäftigte hat ihr Betrieb, rund vier Millionen
Euro haben die Brauer*innen in den Standort investiert.
Bier hat Tradition im Bezirk. Die 2005 stillgelegte Kindl-Brauerei im
Neuköllner Norden ist heute Kunst- und Kulturstandort. Berliner Berg
bedient das Publikum, das solche Veränderungen in den Bezirk locken soll,
als neue Anwohner*innen wie als Tourist*innen. In immer mehr Straßen
reihen sich Cafés, Restaurants, Bars und Hostels aneinander, neu zugezogene
Hipsterpärchen führen die gleichen handtaschengroßen Hunde Gassi wie
alteingesessene Neuköllnerinnen. In der Sonnenallee, wegen ihrer vielen
arabischen Läden „arabische Straße“ genannt, eröffnen Bio-Supermärkte n…
Geschäften für islamische Bekleidung, alte Einwanderer aus der Türkei und
dem Libanon rauchen neben jungen aus Spanien und den USA Shisha.
Nord-Neukölln steht als hippe Destination in internationalen Reiseführern,
alte Eckkneipen bieten ihr Logo als Souvenir auf T-Shirts an. In den
Spätis, angesagte Treffs der Partyszene, kostet das Pils von Berliner Berg
um die 1,90 Euro, dreimal mehr als das billigste.
In Lieckes Buch kommen Gründer*innen wie Hengst und ihre Zielgruppe
nicht vor, ebenso wenig wie andere Veränderungen Nord-Neuköllns. Um
[4][fast 150 Prozent] stiegen die Wohnungsmieten bei Neuverträgen hier im
letzten Jahrzehnt. Nicht nur für arme Leute, von denen es hier viele gibt –
„fast jedes zweite Kind in Neukölln wächst in einem Hartz-IV-Haushalt auf�…
schreibt Liecke –, ist Gentrifizierung ein Problem.
Der Begriff taucht in seinem Buch nur ein Mal auf. Sieht er den
Zusammenhang nicht? „Doch“, sagt Liecke, aber „das ist nicht mein
fachlicher Schwerpunkt“ – also mal nicht sein Problem. Gentrifizierung
bringt Geld in den Bezirk, etwa über Gewerbesteuern. Und um die
Neu-Neuköllner*innen, die sich die hohen Mieten leisten können, muss sich
sein Sozialamt nicht kümmern. Um die Obdachlosen schon. Die „Beendigung
unfreiwilliger Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030“ hat sich Berlins
rot-grün-roter Senat zum Ziel gesetzt und mit den Bezirken dazu
Vereinbarungen geschlossen.
1.018.845.600 Euro beträgt der Haushalt des Bezirks 2022. Der Amtsbereich
Soziales bekommt davon viel: 461.364.000 Euro, 45,2 Prozent. Doch davon,
rechnet die Pressestelle des Bezirks vor, sind „circa 460.842.800 Euro“
„festgeschriebene gesetzliche Leistungen und Personalmittel“, ein Anteil
von 99,88 Prozent. Gut eine halbe Million bleibt Liecke für andere
Projekte, für Senior*innen oder Obdachlose etwa. Spielraum für eigene
politische Zielsetzungen bleibt da kaum.
„Ein Sozialstadtrat hat nicht viele Möglichkeiten“, sagt Bernd Szczepanski,
Mitglied im Neuköllner Bezirksparlament und von 2011 bis 2016 selbst
Sozialstadtrat. Der Grüne sieht „bei aller grundsätzlichen Kritik“ auch
einen „positiven Ansatz“ bei Liecke: „Der [5][Podcast des Gesundheitsamts]
mit Informationen zur Coronapandemie: Das war eine gute Sache, das muss ich
anerkennen.“
Neukölln habe die Pandemie im Vergleich zu anderen Bezirken ganz gut
gemanagt, sagt auch die Grüne Anja Kofbinger. Sie saß bis September für den
Neuköllner Norden – wo längst [6][Grün gewählt wird] – im Berliner
Abgeordnetenhaus und hatte dort als Mitglied im Gesundheitsausschuss
Einblick ins Coronamanagement der Bezirke. Sie ergänzt: „Liecke war eben so
klug, auf seine Verwaltung zu hören!“
Das zeichne einen guten Kommunalpolitiker ja gerade aus, heißt es dazu aus
der Neuköllner Gesundheitsverwaltung. Auch politische Gegner im Bezirksamt
bescheinigen Liecke, gebürtiger Berliner und Diplom-Verwaltungswirt, guten
Umgang mit seinen Mitarbeiter*innen.
Am Tag vor dem Besuch in der Brauerei hat Liecke aber „Mist gebaut“, wie er
später in seinem Büro in Neuköllns Rathaus selbst sagt. Per Twitter hatte
er der neuen Spitze der Bundesgrünen, Ricarda Lang und Omid Nouripor, ein
„fröhliches ‚ALLAHU AKBAR‘“ gewünscht. „Das war vielleicht nicht so…
gute Idee“, sagt Liecke jetzt, und dass er den Tweet bald gelöscht und sich
bei Nouripour entschuldigt habe.
Der Grüne hatte 2018 bei einer Bundestagsdebatte über einen AfD-Antrag zur
„Unvereinbarkeit von Islam, Scharia und Rechtsstaat“ gesagt: „[7][Unser J…
hier ist, dafür zu sorgen, dass die Teile (der Scharia, die Red.), die mit
dem Grundgesetz vereinbar sind, auch angewendet werden können, aber
diejenigen nicht, die dies nicht sind].“ Das wurde in rechten Kreisen
schnell zu: Nouripour wolle in Deutschland die Scharia, also islamisches
Recht, einführen.
Liecke als Islamfeind: Das sehen einige in Neukölln so. 20 Prozent hier
sind Menschen, die oder deren Vorfahren aus mehrheitlich islamischen
Ländern stammen, was nichts über ihre Verbundenheit zum Islam aussagt.
Liecke kämpft gegen eine [8][Moschee im Bezirk], die wegen vermuteter
Verbindungen zur islamistischen Muslimbruderschaft im Berliner
Verfassungsschutzbericht genannt wurde, dagegen aber erfolgreich geklagt
hat.
Und er kämpft für das Berliner Neutralitätsgesetz, das Beschäftigten im
Staatsdienst das sichtbare Tragen religiöser Symbole verbietet – etwa das
Kopftuch, weshalb vor allem [9][muslimische Lehrerinnen dagegen klagen].
„Nicht unter jedem Kopftuch steckt eine Islamistin“, schreibt Liecke: „Ab…
wer als Kopftuchaktivistin auftritt, vertritt einen fundamentalen,
antifeministischen und politischen Islam, der im Widerspruch zu unserer
freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht.“
Liecke selbst sieht sich damit als Verteidiger eines „auf unserer
Verfassung fußenden“ Rechtsstaats, zu dessen Grundlagen für ihn
„unverhandelbar“ Neutralität gehört. Ein Berufsverbot für muslimische
Lehrerinnen sei das Kopftuchverbot nicht: „Sie können es ja ablegen und
ihren Beruf dann ausüben“, sagt der Christdemokrat.
Er ist damit auf einer Linie mit der Berliner SPD, die das Gesetz 2005
einführte und seither verteidigt – damals in einer Koalition mit der
Linken, die es heute kritisch sieht. Auch in anderen Punkten geht der
CDUler konform mit Sozialdemokrat*innen: etwa bei der Bekämpfung
sogenannter Clankriminalität, bei der vor allem Familien arabischer
Herkunft im Fokus stehen. Und die in Neukölln bis zur letzten Wahl mit
Razzien in Shisha-Bars durchgeführt wurde, mit großem Polizeiaufgebot und
teils begleitet von Bezirksbürgermeister Martin Hikel, SPD.
Tatsächlich hat in Neukölln eine Familie einen Wohnsitz, der mehrere Männer
angehören, die wegen des Raubs einer Goldmünze aus dem Bode-Museum
[10][verurteilt und beim Juwelendiebstahl im Dresdner Grünen Gewölbe
tatverdächtig sind]. Wenn Liecke solche schweren Straftaten mit teuren
Uhren und Autos und sonstigem „archaischem Geltungsdrang“ arabischer Männer
in einen Topf wirft, ist er ebenfalls nicht allein: Auch Polizeipräsidentin
Barbara Slowik verwies bei der Vorstellung des „Lagebilds Organisierte
Kriminalität Berlin 2018“, in dem „Clankriminalität“ erstmals auftaucht…
auf Rolex-Uhren und Zweite-Reihe-Parken: Das sei zwar nicht kriminell, aber
„[11][da fängt es an]“. Liecke erregte 2018 viel Aufsehen mit dem
Vorschlag, kriminellen „Clans“ die [12][Kinder wegzunehmen].
## Im Käfig aus Bildungsferne
Der Stadtrat erzählt von Neuköllner Jungen, „die mir sagen: Das wollen wir
auch!“ Dass es viele Menschen arabischer und türkischer Herkunft gibt, die
ihr Geld ehrlich verdienen, weiß er. Aber auch die kommen in seinem Buch
kaum vor: Lieckes Blick gilt jenen, die das aufgrund ihrer Herkunft nicht
schaffen. Über muslimische Frauen in einem Elterncafé schreibt er: „Ihr
Käfig ist geschaffen aus Bildungsferne, pseudoreligiösen archaischen Riten
und Gebräuchen sowie anerzogener und teils brutal durchgesetzter
Unterdrückung. Wo sie herkommen, ist das normal.“ Briefe aus der Schule
müssten ihnen „von der zweitjüngsten Tochter übersetzt“ werden, „die
älteren Kinder haben Ärger im Jugendklub, und der Mann ist – wenn überhaupt
– nur dann zu Hause, wenn gegen Monatsmitte das Geld für den Spielautomaten
fehlt“.
Das gibt es in Neukölln. Der frühere Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky
hat es vor zehn Jahren in seinem Buch „Neukölln ist überall“ beschrieben.
„Parallelgesellschaft“ nannte das der Sozialdemokrat, auf den Liecke in
seinem Buch fast ehrfürchtig Bezug nimmt. Buschkowskys Begriff benutzt er
nicht. Und doch gleicht das Neukölln, dass der CDU-Mann beschreibt, dem des
SPDlers – als habe sich seither nichts verändert.
„Es ist schlimm, wenn wir alle immer so in einen Topf geworfen werden“,
sagt ein Bewohner, der im Café in der High-Deck-Siedlung nicht weit südlich
der Berliner Berg Brauerei Tee trinkt. Er wohne seit der Kindheit hier, nun
wüchsen seine Kinder hier auf, sagt der Enddreißiger palästinensischer
Herkunft. Dass es Probleme gibt, wolle er nicht leugnen: Schlägereien
zwischen Jugendlichen, Drogen. „Aber es gibt viele Bewohner, die sich hier
engagieren.“
„Schule des Verbrechens“ heißt Lieckes Kapitel über die High-Deck-Siedlun…
in der „selbst Polizistinnen in Zivil nur dann ungestört ihrer Arbeit
nachgehen können, wenn sie sich ein Kopftuch überziehen“. Nader Khalil
seufzt, als er das hört, und schweigt dann lange. Der Leiter des
Deutsch-Arabischen Zentrums für Bildung und Integration, kurz DAZ, das
weiter nördlich in Neukölln angesiedelt ist, sitzt in seinem Büro in der
Siedlung, die in den 1980er Jahren fertiggestellt wurde. Für manche ist sie
ein [13][architektonisches Juwel], für andere ein Neuköllner Schandfleck.
Auf Bodenhöhe befinden sich Parkplätze und Müllräume, eine Etage höher, auf
den „High Decks“, verbinden Fußwege die zwei- bis fünfgeschossigen
Wohnhäuser. Grünflächen liegen zwischen den Blöcken, einige Wohnungen haben
Gärten. Oben ist es freundlich und hell, unten sammelt sich Müll in dunklen
Ecken.
„Wir haben das DAZ hierher geholt, weil wir Ansprache und Beratung in
arabischer Sprache brauchen“, sagt Ines Müller. Geschätzt 2.000 der etwa
5.000 Bewohner*innen seien arabischer Herkunft, Müller sagt „Menschen
mit arabischer Migrationskompetenz“. Seit 20 Jahren ist sie
Quartiersmanagerin in der Siedlung: „Wir sehen, dass immer mehr junge Leute
hier eine Ausbildung machen oder zur Uni gehen.“ Ihre Idee:
Arabisch-Unterricht als Zweit- oder Drittsprache an umliegenden Schulen.
Viele junge Leute im Bezirk sprächen perfekt Arabisch, „aber lesen und
schreiben können sie es nicht“, sagt Müller: „Dabei ist das doch eine
Kompetenz, die sie gebrauchen können!“
Nein, neu Zugezogene seien es nicht, die Beratung in arabischer Sprache
bräuchten, sagt Nader Khalil: „Das sind Leute, die lange hier sind, viele
aus dem Libanon.“ Anders als heute, wo Asylsuchende kostenlos Deutsch- und
Integrationskurse und schnell Arbeitserlaubnisse bekommen, wurden
Flüchtende vor den libanesischen Bürgerkriegen in den 1970er und 80er
Jahren ohne solche Integrationshilfen empfangen. „Viele leben immer noch
mit Duldung“, sagt Khalil – ein Aufenthaltsstatus, der alle sechs Monate
verlängert werden muss.
Falko Liecke verweist in seinem Buch auf sogenannte Altfallregelungen des
Bundes, die Betroffenen ermöglichten, aus solchen Kettenduldungen
herauszukommen und so „Integrationsperspektiven eröffnet“ hätten. Was
Liecke nicht erwähnt, erklärt Khalil: Diese Chance war an Bedingungen
geknüpft, etwa die, sein Geld überwiegend selbst zu verdienen – nicht
leicht ohne Deutschkenntnisse und, bei Menschen aus libanesischen
Flüchtlingslagern, oft ohne Zugang zu Schulbildung.
Dass er nun wieder seufzt, hat aber einen anderen Grund. Auch Khalil ist in
der CDU und findet gerade keine Antwort auf die Frage, warum. 2006 konnte
er es [14][im taz-Interview] noch erklären: „Ich bin ein Wertemensch, ein
Familienmensch“, sagt er damals, und „die christlichen Grundwerte sind ja
dieselben wie die islamischen“. Ihn störe etwa der offene Drogenhandel im
Bezirk: „Es muss eine gewisse Härte des Gesetzes da sein.“ 2009 war er
CDU-Kandidat bei der Bundestagswahl. Dass Perspektiven wie die Lieckes
arabischstämmige Wähler*innen verprellen, ist eine Vermutung, die er
teilt. Aber, sagt Khalil: „Das wird in der CDU nicht gesehen.“
## Rechte Anschläge im Süden
Tief im Süden Neuköllns sitzt Heinz Ostermann in seinem Buchladen
Leporello, Beate Dirschauer ist auch da, die [15][örtliche Pfarrerin]. Hier
in Rudow säumen Lindenbäume alte Pflasterstraßen mit Einfamilienhäusern,
der Norden des Bezirks heißt hier „Downtown Neukölln“. Ostermann engagiert
sich gegen rechts, hier in Rudow wurde zweimal sein Auto angezündet, die
Scheiben seines Geschäfts wurden eingeworfen. Hier haben Dirschauer und er
2018 die Initiative „[16][Rudow empört sich]“ ins Leben gerufen: als
Reaktion auf solche rechten Anschläge im Stadtteil.
Und hier im Süden hat die SPD der CDU im September noch den letzten
Wahlkreis in Neukölln abgenommen. Franziska Giffey, sagt Ostermann, sei ja
auch „vielleicht kein schlechter CDU-Ersatz“.
Die neue Regierende Bürgermeisterin von Berlin hat ihre Karriere in
Neukölln begonnen. Als Bildungsstadträtin baute sie die Rütli-Hauptschule,
nach einem Hilferuf der Lehrkräfte 2006 Symbol gescheiterter
Bildungspolitik, zur Gemeinschaftsschule mit Kita, Grundschule und
gymnasialer Oberstufe um. Der „[17][Campus Rütli]“ hat seither mehr
Anmeldungen als Plätze, der Anteil von Schüler*innen nichtdeutscher
Herkunftssprache sank von 83 auf 68 Prozent – was auch mit der
Gentrifizierung im Nordneuköllner Einzugsbereich der Schule zu tun haben
dürfte.
Bei der Integration von Roma-Familien, die im vergangenen Jahrzehnt
verstärkt nach Neukölln einwanderten, enthielt sich die spätere
Nachfolgerin von Bürgermeister Buschkowsky wertender Äußerungen: Diese
Neu-Neuköllner hätten als EU-Bürger Rechte, die umzusetzen seien, [18][so
Giffeys Tenor]. Rudow ist ihr Wahlkreis. Die Initiative „Rudow empört sich“
erfahre durch die SPD Unterstützung, sagt Buchhändler Ostermann.
Bezirkspolitiker, auch Giffey, ließen sich bei der Menschenkette gegen
rechts am Internationalen Tag gegen Rassismus im März 2021 sehen – wie auch
Linke und Grüne.
Aber auch das Leben des Stadtteils ändere sich und werde vielfältiger, sagt
Pfarrerin Dirschauer. Zusehends zögen Familien mit ganz unterschiedlichen
Migrationsgeschichten hierher. Am Rudower Gymnasium liegt der Anteil von
Schüler*innen nichtdeutscher Herkunftssprache bei fast 50 Prozent.
All diese Veränderungen im Bezirk bilden sich auch politisch ab: Ins
Landesparlament wählte Neukölln 2021 drei Abgeordnete mit
Migrationshintergrund: ein Linker, zwei von der SPD (Interview 50, 51). Das
Bundestagsmandat errang der Sozialdemokrat Hakan Demir. Die AfD bekam 2016
im Bezirk 12,7 Prozent der Stimmen, 2021 noch 7,1. Der bisher einzige
AfD-Stadtrat wechselte noch im Amt zur CDU, später zu den Freien Wählern.
Im Bezirksparlament sitzen unter 55 Mitgliedern acht mit
Einwanderungsgeschichte, keine*r davon Christdemokrat*in.
„Herr Liecke, hat die CDU etwas verschlafen, was die SPD verstanden hat?“
Falko Liecke sieht das andersherum: „Franziska Giffey hat von uns
abgekupfert und die Leute damit eingelullt.“ Warum hat er sein Buch nicht
vor der Wahl veröffentlicht? „Ich wollte mit dem Buch keine Wahlen
gewinnen“, sagt Liecke und guckt wieder nachdenklich. „Ich will den Bezirk
nach vorne bringen. Neukölln trägt man im Herzen.“ 2011 war er in Berlins
Landesparlament gewählt worden – 38,3 Prozent bekam Liecke damals in seinem
Wahlkreis im Rudower Nachbarstadtteil Buckow. Er blieb lieber Stadtrat in
Neukölln.
9 Mar 2022
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=miMpGuuaiNY
[2] https://www.berlin.de/ba-neukoelln/politik-und-verwaltung/bezirksamt/
[3] /Junge-Berliner-Brauereien/!5792269
[4] https://www.tagesspiegel.de/berlin/langzeitstudie-zum-berliner-mietenmarkt-…
[5] https://gesundheitsamtneukoelln.podigee.io/
[6] https://www.wahlen-berlin.de/wahlen/Be2021/AFSPRAES/index.html
[7] https://dserver.bundestag.de/btp/19/19055.pdf#P.5893
[8] https://www.nbs-ev.de/
[9] /Kopftuch-Streit-vor-Gericht/!5710379
[10] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/einbruch-ins-gruene-gewoelbe-remmo-…
[11] /Organisierte-Kriminalitaet-in-Berlin/!5645824
[12] https://www.tagesspiegel.de/berlin/arabische-grossfamilien-in-berlin-kann-…
[13] https://www.berlin.de/landesdenkmalamt/aktuelles/kurzmeldungen/2021/digita…
[14] /!451218/
[15] https://www.kirche-rudow.de/
[16] https://www.buendnis-neukoelln.de/2018/rudow-empoert-sich/
[17] https://campusruetli.de/
[18] /Integration/!5085159
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Alke Wierth
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