Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Integration: "Diese Neu-Neuköllner wollen bleiben"
> Neukölln stößt bei der Versorgung von Roma an seine Grenzen, sagt
> Bezirksstadträtin Franziska Giffey (SPD). Sie zurückzuweisen sei indes
> keine Option. Vielmehr müsse ein Bewusstsein entstehen, dass die
> Roma-Familien Teil einer neuen Zuwanderungswelle sind
Bild: Bezirksstadträtin Franziska Giffey (SPD) will Roma nicht zurückweisen, …
taz: Frau Giffey, Neukölln ist derzeit der In-Bezirk und zieht jede Menge
Zuwanderer aus aller Welt an: von hippen jungen AkademikerInnen aus
Südeuropa bis zu osteuropäischen Romafamilien. Geredet wird über alle, aber
nicht über alle gleich freundlich: Sind die einen ein Gewinn für den
Bezirk, die anderen ein Problem?
Franziska Giffey: Nein. Auch die Roma kommen nicht alle nur mit Defiziten.
Manche waren in ihren Herkunftsländern von allen Bildungsmöglichkeiten
ausgeschlossen. Das heißt für uns, dass wir teils Jugendliche unterrichten
müssen, die noch nie eine Schule besucht haben. Manche bringen aber auch
eine gute schulische Vorbildung mit. Was sie eint, ist, dass sie kein
Deutsch können.
Das gilt auch für die meisten der anderen Neuzuwanderer.
Das stimmt. Doch die jungen Spanier und Griechen sind in einer anderen
Lebenssituation als die Mehrheit der Roma. Sie sind zwischen 20 und 30
Jahre alt, allein, also ohne Familien, meist gut ausgebildet, oft
Akademiker, die schnell hier ankommen, schnell Deutsch lernen und eine
Arbeit finden wollen. Sie kommen aus wirtschaftlichen Gründen, wegen der
Misere in ihren Heimatländern. Auch die Roma kommen aus wirtschaftlichen
Gründen. Aber da kommen meist 5- bis 6-köpfige Familien, für die es
schwerer ist, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Warum?
Zum einen, weil sie als Neubürger der Europäischen Union noch nicht die
volle Freizügigkeit genießen. Sie haben legal nur drei Monate Zeit
hierzubleiben und haben dann auch nur einen Touristenstatus, weil die volle
Arbeitnehmerfreizügigkeit für sie erst ab dem Jahr 2014 gilt. Viele melden
deshalb als Selbstständige ein Gewerbe an, etwa als Entrümpler,
Abschleppdienst oder Zettelverteiler. Doch das sind auch keine Branchen, in
denen man leicht genug Geld verdient, um eine große Familie zu ernähren.
Haben sie dann einen Anspruch auf staatliche Zuwendungen?
Ja, wer durch die Gewerbeanmeldung einen dauerhaften Aufenthaltsstatus hat,
kann beim Jobcenter die Aufstockung seines Einkommens beantragen. Auch auf
Kindergeld besteht Anspruch.
Die Grundsicherung der Existenz besteht also. Gibt es trotzdem Probleme mit
den Zuwanderern – oder warum hat der Bezirk eine AG Roma ins Leben gerufen?
Für uns ist seit längerem klar: Diese Neuneuköllner wollen bleiben. Das
haben wir im Bezirk zuerst an den Schulen gemerkt, wo immer mehr
bulgarische und rumänische Kinder ankamen. Die Menschen flüchten vor Armut,
vor Diskriminierung und gesellschaftlichem Ausschluss in ihren
Herkunftsländern. Da ist Neukölln eine gute Anlaufstelle. Doch natürlich
haben wir auch Probleme. Mit geeignetem Wohnraum etwa: Viele Roma wohnen
zur Untermiete ohne eigene Mietverträge, aber zu Wuchermieten und unter
inakzeptablen baulichen und hygienischen Bedingungen. Das wollen wir
ändern. Die Arbeitsgemeinschaft haben wir ins Leben gerufen, um die
vielfältigen Herausforderungen, die sich mit der Zuwanderung verbinden,
gemeinsam anzugehen, und auch, um im Bezirksamt eine Art
Koordinationsstelle zu schaffen für alle, die mit der Community zu tun
haben.
Wer beteiligt sich daran?
Zum Beispiel alle betroffenen Ämter: Gewerbeamt, Gesundheitsamt,
Ordnungsamt, die Bau- und Wohnungsaufsicht, die betroffenen Schulen, das
Jobcenter, die Träger, die Roma beraten. Und die Polizei.
Warum letztere?
Es sind Beamte von der AG Integration und Migration der Polizei, kurz Agim.
Dabei geht es nicht um von Roma verübte Kriminalität: Es gibt nach Auskunft
der Polizei in Neukölln keinen Anstieg von Kriminalität in Verbindung mit
den Roma. Aber es gibt vermehrt Beschwerden im Bezirk über sie, etwa wegen
Lärmbelästigung. Da wollen wir intervenieren. Wir schalten die Träger ein,
damit die etwa bei Nachbarschaftsproblemen moderieren können, aber auch den
neu Zugezogenen die Regeln vermitteln, die hier gelten, und die Rechte, die
sie hier haben.
Noch vor kurzem wurde Roma in Berlin Geld gezahlt, damit sie die Stadt
möglichst schnell wieder verlassen. Jetzt helfen Sie ihnen, hier Fuß zu
fassen. Ziehen da alle mit?
Ach, wissen Sie, natürlich bekomme ich Mails, in denen gefragt wird, warum
wir „denen“ auch noch helfen, statt „endlich für Ordnung zu sorgen“ und
alle zurückzuschicken. Aber erstens muss ich doch die Fakten akzeptieren:
Roma sind EU-Bürger, sie genießen bald die volle Freizügigkeit. Es ist
überhaupt keine Option, sie zurückzuschicken. Stattdessen halte ich es für
besser, nicht die Fehler zu wiederholen, die wir bei früheren Einwanderern
gemacht haben, und ihnen gleich gute Eingliederungshilfen zu bieten. Statt
in 20 Jahren teuer dafür zu bezahlen, dass wir das nicht getan haben. Zum
zweiten hat Deutschland auch eine besondere historische Verantwortung
dieser europäischen Bevölkerungsgruppe gegenüber. Das verpflichtet uns zu
humanistischem Handeln.
Das ist ehrenwert. Aber kann Neukölln sich das leisten?
Wir kommen an unsere Grenzen. An den Schulen sind in den vergangenen Jahren
um die 700 Kinder ohne Deutschkenntnisse aufgenommen worden. Derzeit warten
wieder 24 Jugendliche auf Sekundarschulplätze. Das sind zwei weitere
Kleinklassen, da wir diese Neuzugänge erst in besonderen Gruppen zum
Deutschlernen unterbringen. Wenn wir es geschafft haben, für sie noch
Plätze an unseren Schulen zu finden, sind die Kapazitäten des Bezirks
erschöpft.
Was dann?
Auch darum geht es in der AG Roma: Um Vorausschau und die Suche nach Hilfe
und Partnern bei der Lösung solcher Probleme. Denn die können nicht alle im
und vom Bezirk gelöst werden. Da braucht es auch landes-, bundes- und sogar
europapolitische Lösungen.
Haben Sie die AG deshalb bei der Europabeauftragten des Bezirks
angesiedelt?
Auch deshalb, ja. Auf schulischer Ebene stellt der Senat ja nun immerhin
zusätzliches Personal für die Einrichtung der Kleingruppen zur Verfügung.
Davon haben wir derzeit 22 an 13 Schulen.
Auch die Senatsverwaltung für Integration stellt doch für 2012 und 2013
insgesamt je 300.000 Euro bereit.
Ja, für alle Bezirke. Geplant ist, dass nach Neukölln davon 90.000 Euro
fließen sollen. Das wollen wir vor allem für Sprachmittler an Schulen sowie
im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst einsetzen. Für die restlichen vier
Monate dieses Jahres sind 90.000 Euro schon eine ordentliche Summe. 2013
verteilt sich der Posten dann allerdings auf zwölf Monate. Da wird es
deutlich weniger Möglichkeiten der zusätzlichen Sprachmittlung geben.
Welche Probleme gibt es denn im Gesundheitsbereich?
Viele Roma kommen nach unserer Kenntnis ohne Krankenversicherung. Da ist
der öffentliche Gesundheitsdienst gefragt, auch die Krankenhäuser können
Notfälle nicht einfach wegschicken. Aber die Kosten müssen die Bezirke und
das Land tragen. Dabei gibt es eine europäische Krankenversicherungskarte,
und viele der Rumänen und Bulgaren hätten einen Anspruch auf Versicherung.
Das ist ein Punkt, in dem sich der Bund für europäische Lösungen einsetzen
müsste. Aber noch beharrt der darauf, dass die Probleme von den Städten und
Kommunen selbst gelöst werden müssten – mit den vorhandenen Mitteln und
Etats. Das wird nicht mehr lange gehen. Deshalb wurde innerhalb des
Deutschen Städtetags bereits ebenfalls eine AG Roma gegründet, bei der
Neukölln dabei ist, und die die Problematik auch auf Bundesebene klar
machen soll.
Was fordern Sie?
Zunächst mal, dass überhaupt ein Bewusstsein dafür entsteht, dass wir hier
eine neue Zuwanderungswelle haben – eine Armutswanderung. Und dass daraus
resultierende Probleme einfach nicht aus den knappen finanziellen
Ressourcen der Städte und Kommunen selbst gelöst werden können.
Schauen Sie zum Abschluss doch bitte mal fünf bis zehn Jahre in die Zukunft
des jetzt so hippen Nord-Neuköllns.
Der Bezirk wird auch dann bunt und vielfältig sein, das ist klar. Das
Straßenbild unterscheidet sich jetzt schon extrem von dem vor zehn Jahren,
und das soll auch so bleiben und wird noch weitergehen. Wir müssen für die
nötige Balance zwischen den Bevölkerungsgruppen inklusive der neu
Zugewanderten sorgen. Dazu gehören ja nicht nur Roma und Spanier, sondern
auch sehr bildungsbewusste Besserverdiener, die neu in den Bezirk ziehen.
Auch denen wollen und müssen wir Angebote machen, um sie im Bezirk zu
halten. Etwa an den Schulen: Bildungsbewusste Eltern meiden Schulen, an
denen viele Kinder mit Sprachdefiziten sind. Dafür muss man Verständnis
aufbringen. Andererseits wollen wir auch keine total segregierten Schulen.
Das zu schaffen wird unsere Aufgabe in den nächsten Jahren sein. Und da
stehen wir momentan an einem Punkt, an dem Weichen gestellt werden.
30 Aug 2012
## AUTOREN
Alke Wierth
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.