# taz.de -- Ein Spaziergang durch Neukölln: Am Morgen, schlecht gelaunt | |
> Für Flanierende gibt es auf den Straßen Neuköllns viel zu sehen. Manchmal | |
> kann das sogar etwas Schönes sein. Man muss halt über manches | |
> hinwegschauen. | |
Bild: Neuköllner Impressionen am Wegesrand | |
Ich wohne da, wo andere Urlaub machen: im angesagten Norden des Berliner | |
Bezirks Neukölln. Und tatsächlich gibt es hier für Flanierende viel zu | |
sehen! Gern nehme ich diejenigen, die noch nicht hier waren, auf einen | |
Spaziergang mit: Am Donnerstagmorgen erwarten mich auf der Baumscheibe | |
gleich gegenüber der Haustür zwei Küchenhängeschränke, etwas schief | |
übereinandergestapelt. Ihre trübsinnig braunen Holzimitattüren sind | |
eingetreten worden oder hängen heraus. Auf den Regalbrettern im Innern des | |
oberen Schranks hat jemand leere Bierdosen und einen vollen Aschenbecher | |
abgestellt. An den Zweigen des Baums darüber baumeln wunderschöne | |
selbstgebastelte Strohsterne. | |
Auf dem niedrigen Fensterbrett des Ladens nebenan stehen drei weiße | |
Styroporschalen. Der Regen in der Nacht hat den Ketchup darin in eine | |
dünnflüssige Tomatensuppe verwandelt, in der Pommes, zerknüllte Servietten | |
und Zigarettenkippen schwimmen. Neben den Pommesschalen stehen drei halb | |
ausgetrunkene Piccolos: Neuköllner Abendbrot. | |
Am Fahrradständer an der Straßenecke sind einige Fahrradreste und ein | |
funktionsfähiges Fahrrad angeschlossen. Vorhandene Fahrradkörbe sind mit | |
Plastikbechern, Flaschen und Verpackungen gefüllt, aus einem anderen ragt | |
ein Fön. Um die Stangen des einzigen frei gebliebenen Fahrradständers hat | |
jemand sehr [1][ordentlich einige Wollpullover] gewickelt, es sieht so aus, | |
als sollte es sie wärmen. Der Regen hat die Pullis dunkel durchnässt, zum | |
Wärmen taugen sie nicht mehr. | |
Vielleicht stammen die Anziehsachen aus dem kleinen lilafarbenen Koffer, | |
der mit ausgezogener Ziehvorrichtung abreisebereit direkt neben dem | |
Fahrradständer steht. Er wirkt allerdings verschlossen, vermutlich wird er | |
hier ja noch abgeholt. Die Fahrradleichen daneben aber vermutlich eher | |
nicht. | |
## Von der Feuchtigkeit verklumpt | |
Im Dickicht der nächsten zugewucherten Baumscheibe hat sich ein kleiner | |
roter Staubsauger versteckt. Ob jemand versucht hat, hier sauberzumachen? | |
Das Gestrüpp um den Baumstamm hängt allerdings immer noch voller Müll, | |
vielleicht hat der Regen die Saugaktion gestört. Auf dem Esstisch, der am | |
Rand des Gehwegs steht, hat er das „Zum Mitnehmen“-Schild nahezu | |
unleserlich gemacht. | |
An der nächsten Straßenecke steht neben einem Einkaufswagen, in dem jemand | |
Tapeten- und Farbreste entsorgt hat, eine leere Altpapiertonne, davor auf | |
dem Boden ordentlich zusammengefaltet große Pappkartons in einer Pfütze, | |
von der Feuchtigkeit kompakt verklumpt. Den öffentlichen Mülleimer daneben | |
hat jemand unten aufgetreten, der Inhalt ergießt sich über den Gehweg. | |
Auf dem kleinen Platz an der Ecke zur Hauptverkehrsstraße stehen Bänke | |
unter schönen Bäumen. Unter den Bänken liegen Papier- und Alufolienknäuel, | |
Fastfoodverpackungen. Auf den Bänken sitzen Menschen in der Morgensonne und | |
trinken Kaffee. In der Grünanlage ein paar Meter weiter hat jemand Scherben | |
von Bierflaschen am Rand des gepflasterten Wegs zusammengeschoben. Neben | |
einem großen Müllcontainer stehen ein paar Pizzakartons, an den Resten | |
darin machen sich Krähen satt. | |
Am anderen Ende der kleinen Grünanlage stehen zwei Zelte etwas verborgen im | |
Unterholz unter den Bäumen, davor drei Stühle auf einem Teppich, ein | |
kleiner Tisch in der Mitte – ein Open-Air-Wohnzimmer. Um die Zelte herum | |
liegt kein bisschen Müll. Die Menschen, [2][die hier leben müssen], wissen, | |
warum sie gut aufräumen. Etwas weiter am Rande eines Spielplatzes spielen | |
kleine Babyratten im Gras. | |
Kurz vor meinem Ziel steht noch immer ein altersbrauner, korbgeflochtener | |
Lehnstuhl auf dem Gehweg, von seinen vier Füßen weg so schief nach hinten | |
gebogen, als hätte er sein ganzes Leben in scharfem Gegenwind verbracht. | |
Aber er steht noch. | |
Das ist Neukölln. | |
13 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
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