Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Das Miteinander in der Öffentlichkeit: Die Welt als Schlafzimmer
> Der öffentliche Raum als Zuhause, um das sich alle kümmern: könnte das
> nicht wunderbar sein? Aber zum Miteinander gehören halt auch die anderen.
Bild: Miteinander leben in der Öffentlichkeit, das kann man lernen. Das Tempel…
Es ist Winter und Abend und dunkel und kalt, draußen fällt gerade wieder
Schnee, und ich denke an ein Buch, das ich im Sommer gelesen habe. Es war
[1][Jonathan Franzens Roman „Freiheit“], und darin steht ein Satz, der mir
seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht. Ich musste gestern beim
Spazierengehen wieder daran denken, als ich an einer jungen Frau
vorbeiging, die unter ihrem dicken Steppmantel eine Art Schlafanzug mit
niedlichen bunten Bärchen darauf trug. Franzens Satz besagt etwa, dass
heutzutage manche Menschen draußen in der Öffentlichkeit angezogen seien,
als sei „die Welt ihr Schlafzimmer“.
Es hat mich schon öfter beschäftigt, wie Leute auf die Straße, in die
Öffentlichkeit gehen, also in diesem Fall: wie sie dabei bekleidet sind.
Es geht mir dabei nicht um die Klage mancher Leute, dabei „zu viel Haut“,
zu viel Körper sehen zu müssen.
Aber ich war manchmal etwas verwundert, wenn Kolleg*innen im Sommer in
weißen Feinrippunterhemden (wussten Sie, dass die in der Modebranche
„Wifebeater“ heißen?), Shorts und Flipflops zur Arbeit kamen und sogar zu
Presseterminen gingen. Ich hätte mich das nicht getraut: Für mich gab es
einen Unterschied zwischen Drinnen und Draußen, der sich in der Bekleidung
zeigte. Das liegt vielleicht daran, dass ich aus einer aufgestiegenen
Arbeiterfamilie komme: Da zog man sich draußen „gut“ an und drinnen eher
schlampig – auch, um die „guten“ Sachen zu schonen. Ich wäre in Unterhemd
und Flipflops tatsächlich nur vom Schlaf- ins Badezimmer gegangen.
Aber als ich damals den Satz von Jonathan Franzen las, kam mir plötzlich
der Gedanke, dass das ja vielleicht auch eine gute Sache ist: Wenn Menschen
die Welt als ihr eigenes Schlafzimmer betrachten, dann heißt das doch, dass
sie auch mehr Verantwortung für sie übernehmen. Sie ist damit ja kein rein
öffentlicher Ort mehr, um den sich irgendwelche anonymen Institutionen zu
kümmern haben, sondern ihr eigenes Zuhause, um das sie sich kümmern, das
sie hüten und pflegen, beschützen.
## Nur schöne Konsequenzen
Mir gefiel diese Betrachtungsweise, denn wenn immer mehr Menschen ihre
Umgebung, die Welt, in der sie leben, als ihre Privatangelegenheit, ihr
Heim ansehen, dann kann das doch eigentlich nur schöne Konsequenzen haben:
mehr Aufmerksamkeit für die Dinge und die Menschen, die dort sind, ein
pfleglicher Umgang und freundschaftliche oder familiäre Gefühle gegenüber
den anderen – denn die wohnen ja auch da.
Was mich daran dann aber wieder zweifeln ließ, ist eine andere Art, die
Welt als eigene Wohnung zu betrachten: Ich meine das laute Telefonieren
draußen, auf der Straße, auf der Sitzbank, im Bus. Ja, finden Sie das ruhig
blöd: Mich nervt etwas daran. Nicht, dass ich dabei Dinge mitkriege, die
ich nicht wissen möchte.
Mich nervt, dass es meiner schönen Jonathan-Franzen-Theorie widerspricht.
Denn die Leute, die da so laut telefonieren, verlangen dabei ja von mir,
dass ich sie sozusagen „überhöre“: dass ich sie eben nicht wahrnehme in
ihrer Privatheit, sondern so tue, als hörte ich sie nicht.
Diese Forderung nach Anonymität, die da von jemandem erhoben wird, der
Privates aus eigener Entscheidung in die Öffentlichkeit trägt, gefällt mir
nicht. Sie lautet: Tu du jetzt so, als wärst du kein Mensch – damit ich
einer sein kann. Sie erinnert mich an Klagen, die ich manchmal zum Beispiel
auf Instagram präsentiert bekomme und die oft von Neu-Berliner*innen
stammen, die sich „Expats“ nennen: In Berlin werde man angeschaut, heißt es
da, die Leute guckten einem in der Öffentlichkeit direkt ins Gesicht! Das
sei ungeheuerlich, ein Angriff quasi. Man wisse ja schließlich nie, ob man
es mit einem Psychopathen zu tun habe.
Das gefällt mir nicht. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der
erwartet wird, dass man andere Menschen überhört und übersieht. Miteinander
leben in der Öffentlichkeit, das muss man aber wohl auch einfach aushalten
können. Ich glaube, es ist Übungssache: Man kann es erlernen, wenn man
will.
31 Jan 2024
## LINKS
[1] /Neuer-Roman-von-Jonathan-Franzen/!5136083
## AUTOREN
Alke Wierth
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
wochentaz
Kolumne Die Fußgängerin
Jonathan Franzen
Gesellschaftliches Miteinander
Öffentlicher Raum
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
Müll
Schwerpunkt Stadtland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Auch eine Frage zum Jahresende: Was geht?
Begeisterung geht unserer Kolumnistin am Ende dieses Jahres ebenso ab wie
Antworten. Es ist doch wirklich derzeit alles zu bizarr.
Stress des Nikotinentzugs: Jetzt nur nicht spazieren gehen!
Manchmal will unsere Kolumnistin nicht vor die Tür – aus therapeutischen
Gründen. Es könnte gefährlich sein, weil es da draußen doch Zigaretten
gibt.
Zu Fuß unterwegs in Berlin: Der menschliche Faktor beim Gehen
Natürlich kommt man auch anders durch die Stadt. Aber am frühen Morgen
durch Berlin zu gehen, meint unsere Kolumnistin, ist eine besondere Freude.
Hürden der Bürgerbeteiligung: Eine echte Herausforderung
Es gilt das Recht auf freie Meinungsäußerung. Partizipation ist das noch
nicht. Vor allem aber irritiert unsere Kolumnistin der Tonfall, der oft
herrscht.
Verkehrspolitik in Neukölln: Der Siegeszug der Poller
Gute Verkehrspolitik soll die Lebensqualität für Anwohnende verbessern.
Reichen dafür Verbote und Absperrungen?
Radrowdies auf Berlins Gehwegen: Das Rollen neben der Straße
Auf dem Gehweg Fahrrad fahren? Aber das machen doch alle! Ein flottes und
unbekümmertes Rollen – unsere Kolumnistin hat das sowas von satt.
Ein Spaziergang durch Neukölln: Am Morgen, schlecht gelaunt
Für Flanierende gibt es auf den Straßen Neuköllns viel zu sehen. Manchmal
kann das sogar etwas Schönes sein. Man muss halt über manches
hinwegschauen.
Wohnen in Berlin als Luxusproblem: Ich habe als Mieterin versagt
In Sachen Nachhaltigkeit hat Wohnen keine besonders gute Bilanz. Deswegen
will unsere Kolumnistin darauf verzichten. Wenn auch nicht freiwillig.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.