| # taz.de -- Zu Fuß unterwegs in Berlin: Der menschliche Faktor beim Gehen | |
| > Natürlich kommt man auch anders durch die Stadt. Aber am frühen Morgen | |
| > durch Berlin zu gehen, meint unsere Kolumnistin, ist eine besondere | |
| > Freude. | |
| Bild: Manchmal ist man sogar in Berlin wie hier im Tiergarten allein unterwegs | |
| Die U7 war am frühen Montagmorgen überraschend leer, Sitzplätze für alle! | |
| Mir gegenüber saß eine junge Frau, schwarzer Blazer, weiße Bluse, die Augen | |
| weit aufgerissen, ihre Hände zitterten. War sie auf dem Weg zu einer | |
| Prüfung, einem Vorstellungsgespräch? Ich hätte sie gerne gefragt, ob alles | |
| okay ist, aber ich traute mich nicht. Eine kleine Frau lief bettelnd durch | |
| den U-Bahn-Wagen, sie weinte. Ich gab ihr etwas Geld und sie wischte sich | |
| die Tränen ab und sagte: „Sorry, ich kann gerade einfach nicht mehr.“ | |
| Eigentlich hätte ich den frühen Arzttermin gern abgesagt, aber das | |
| Buchungssystem der Praxis hatte mich über das Wochenende mit strengen Mails | |
| bombardiert: Vergessen Sie Ihren Termin nicht! Noch 2 Tage! Füllen Sie | |
| vorher diesen Fragebogen aus! Noch 24 Stunden! Seien Sie 15 Minuten vor dem | |
| vereinbarten Termin da! Die letzte Mail war um 6 Uhr morgens gekommen: Noch | |
| 2 Stunden bis zu Ihrem Termin! Haben Sie alles vorbereitet? | |
| Doch die künstliche Intelligenz hatte offenbar den menschlichen Faktor | |
| nicht einberechnet. Als ich in der Praxis ankam, war mein Termin storniert: | |
| Die Ärztin war übers Wochenende erkrankt. Die jungen Frauen am Empfang der | |
| schicken Wilmersdorfer Praxis waren so bestürzt darüber, dass ich den | |
| weiten Weg so früh am Morgen nun ganz umsonst gemacht hatte, dass ich ihnen | |
| nicht böse sein konnte – sie konnten ja auch gar nichts dafür. Sie | |
| schimpften selbst über das neue Buchungssystem, weil sie alle im alten | |
| System gebuchten Termine selbst in das neue übertragen müssten. Ich freute | |
| mich über die gewonnene Stunde: Ich hatte jetzt genug Zeit, zu Fuß zur | |
| Arbeit zu gehen. | |
| Am frühen Morgen durch Berlin zu gehen ist eine besondere Freude. Die Luft | |
| ist noch gut, die Menschen sind noch frisch und die Gehwege leer – die | |
| Touristen schlafen oder frühstücken noch und die meisten Leute stecken in | |
| Autos, im ÖPNV oder fahren Rad. | |
| ## Zeit für wortlose Verständigungen | |
| Geht man längere Strecken durch die Stadt, kann man oft Wege durch | |
| Grünanlagen nutzen, die morgens noch nicht so bevölkert sind von den | |
| anderen zu Fuß. Zur Freude zählt auch: Man begegnet beim Gehen Menschen. | |
| Fußgänger:innen bewegen sich in zwar unterschiedlichen, aber doch nicht | |
| so verschieden schnellen Geschwindigkeiten aufeinander zu oder | |
| hintereinander her, man hat dabei Zeit, zu sehen, was sie bei sich tragen, | |
| anhaben oder einfach, wie sie sich bewegen, wie sie gehen. | |
| Man hat Zeit für wortlose Verständigungen darüber und gegenseitige | |
| Rücksichtnahme dabei, wer wem Platz macht und zu welcher Seite ausweicht. | |
| Man kann sich Gedanken darüber machen, wohin andere auf dem Weg sind, warum | |
| sie zu Fuß gehen oder gerade so traurig oder fröhlich oder gestresst sind, | |
| wie sie aussehen. Und man kann sich dann zulächeln. | |
| Man sieht beim Gehen Menschen, Individuen! Nicht bloß bewegliche | |
| Blechkisten wie beim Autofahren oder, wie beim Radfahren, nur Hindernisse, | |
| die sich in unerwartete Richtungen bewegen könnten. | |
| Natürlich gibt es auch Gehende, die ihren Schutzschild wie einen | |
| unsichtbaren SUV um sich herum tragen – die nicht einfach nur gehen, | |
| sondern sich offenbar durchkämpfen müssen auf dem Weg, auf dem sie gerade | |
| sind. | |
| Manchmal überfordert mich das Sehen und Hören, wenn ich gehe: die Menge | |
| anderer Menschen, die ich dabei wahrnehme, die Geräuschkulisse, die Hektik | |
| der Stadt. Dann kann ich auch umschalten auf einen anderen | |
| Wahrnehmungskanal, auf Autopilot – KI sozusagen: Ich gehe und sehe und | |
| denke nur noch: „Rote Ampel!“, ich denke: „Kleiner Hund“ oder: „Blät… | |
| rauschen, Wind“. Ich trage dann auch einen Schutzschild. Aber er ist nur | |
| aus Watte. | |
| 13 May 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Alke Wierth | |
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