# taz.de -- Auch eine Frage zum Jahresende: Was geht? | |
> Begeisterung geht unserer Kolumnistin am Ende dieses Jahres ebenso ab wie | |
> Antworten. Es ist doch wirklich derzeit alles zu bizarr. | |
Bild: Irgendwas (oder halt auch irgendwer) geht immer | |
„Yo, Alke, was geeeeeeht?“, begrüßt mich mein Lieblingskollege. Ich arbei… | |
seit einiger Zeit unter lauter Jugendsozialarbeiter*innen, auf die der | |
Sprachstil ihrer Zielgruppe teilweise etwas abfärbt. Normalerweise kann ich | |
damit ganz gut umgehen. Doch an diesen letzten Tagen des Jahres 2024 geht | |
mir das langgezogene „eeeee“ beinahe schmerzhaft direkt an die Substanz: | |
Denn es wirkt auf mich, als drücke es schon die Begeisterung des Fragenden | |
darüber aus, was ich jetzt alles Tolles antworten werde. | |
Begeisterung geht mir persönlich am Ende dieses Jahres jedoch ebenso ab wie | |
Antworten. Ich habe eher Fragen: Ja, was geht eigentlich? Geht gerade | |
überhaupt noch irgendwas? Und falls ja: Geht es auch gut? | |
Ich jedenfalls gehe noch immer, denn ich bin Fußgängerin. Und als solche | |
bewege ich mich eher langsam durch die Welt. So kann man sie gut | |
betrachten. Und zum Beispiel sehen, was gerade so geht. Ganz am Anfang | |
dieses Jahres habe ich in einer dieser Kolumnen aus einem Buch des | |
US-Schriftstellers Jonathan Franzen zitiert: Er spricht darin von Menschen, | |
die sich in der Öffentlichkeit bewegten, „[1][als sei die Welt ihr | |
Schlafzimmer]“. Das ist eine Anspielung auf ihre schlafzimmerhaft | |
informelle Art der Bekleidung wie Flipflops oder Jogginghosen. Ich habe | |
damals versucht, das positiv zu interpretieren: als Versuch, die Welt als | |
eigene Wohnung, als Zuhause zu betrachten, was zur Übernahme von mehr | |
Verantwortung für das Draußen, das dadurch zum Drinnen wird, also auch für | |
die anderen dort führen könnte. | |
Jetzt, am Jahresende, gehe ich in Berlin durch immer mehr Schlafzimmer. Ich | |
sehe Matratzenlager in Grünanlagen, unter Hochparterrebalkonen, in | |
Bushaltestellen, in den Eingangsbereichen leerstehender Geschäftslokale. | |
Ich sehe Einkaufswagen daneben stehen, in denen die, die dort leben, ihre | |
letzten Habseligkeiten aufbewahren; ich sehe junge und alte Menschen dort | |
schlafen, die sich mit Plastikplanen vor Regen und Kälte schützen. | |
Sie müssen die Welt als ihr Schlafzimmer betrachten. Ich glaube nicht, dass | |
es ihnen gut damit geht; dafür aber jenen, nehme ich an, die die | |
Verantwortung dafür tragen, dass immer mehr Menschen draußen leben: | |
[2][Denn das Mietwucherbusiness geht ja nicht nur, es läuft]! | |
## Die Krankenhausgesellschaft warnt | |
Einfach bloß gehen sollen dagegen jetzt auch syrische Geflüchtete. Denn | |
auch in Syrien soll es ja bald – vielleicht, eventuell, möglicherweise – | |
wieder besser laufen. Das gehe ja gar nicht, dass die gehen, ist dazu | |
ausgerechnet aus Sachsen zu hören, wo die Abschiebeparteien CDU und AfD bei | |
der letzten Landtagswahl auf zusammen fast 70 Prozent der Stimmen kamen. | |
Nun jedoch warnt die dortige Krankenhausgesellschaft: Es drohten im | |
sächsischen Gesundheitssystem Versorgungsengpässe, wenn die vielen | |
syrischen Ärzt*innen, die dort in Krankenhäusern arbeiten, das Land | |
verlassen würden. | |
„Haha, geht doch!“, denke ich und weiß selbst nicht, wie ich das gerade | |
meine: Es ist doch wirklich derzeit alles zu bizarr. | |
„Angesichts der bizarren letzten Tage eines merkwürdigen Jahres fragt die | |
Autorin sich, ob sie mehr lachen oder mehr weinen soll“, stand über einer | |
Kolumne, die ich [3][am Ende des Jahres 2016] für die taz geschrieben habe | |
und die den Titel „Verpiss Dich, 2016!“ trug. | |
Bizarr bedeutet seltsam oder absonderlich, kommt aber vermutlich vom | |
italienischen Wort „bizza“ für einen Zorn- oder Wutausbruch. | |
Wie auch immer. Acht Jahre später, am Ende des durchgehend bizarren Jahres | |
2024 stellt sich mir diese Frage nicht mehr. Dafür habe ich aber auf diese | |
andere Frage, „Yo, Alke, was geeeeeeht?“, eine Antwort gefunden. Sie | |
lautet: so jedenfalls nicht mehr weiter. | |
29 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
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