# taz.de -- Routiniertes Älterwerden: Durch das Leben gehen | |
> War früher alles besser? Nein, grau steht mir mehr, meint unsere | |
> Kolumnistin. Aber in der alten BRD lächelte der Kapitalismus den | |
> Arbeitnehmern noch zu. | |
Bild: Ach, früher. Als die SPD noch stark und Willy Brandt Bundeskanzler war | |
In der Wochenzeitung, die ich lese, schreibt eine Autorin über ihre Mutter | |
und ihre Probleme mit deren Älterwerden. Zwei Sätze der beiden spielen | |
darin eine wichtige Rolle: der der Mutter lautet: „Dafür bin ich zu alt“, | |
der der Tochter: „Denk bitte nicht wie eine Oma!“ Der Text, der Versuch der | |
Autorin darin, ihrer Mutter nicht böse zu sein für deren Älterwerden, | |
sondern dieses im Bewusstsein, dass auch sie selbst altert, zu verstehen, | |
bleiben mir im Kopf. | |
Ich bin gut 15 Jahre älter als die Tochter und knapp 15 Jahre jünger als | |
die Mutter in dem Artikel; ich bin jetzt 59 1/2 und fühle mich, während ich | |
so durch mein Leben gehe, manchmal jung, manchmal alt. Und denke dabei: Ich | |
altere ja quasi im immer gleichen Tempo, seit ich auf der Welt bin, und | |
jetzt doch nicht schneller als früher! Ich merke aber: Ich denke viel öfter | |
als früher darüber nach. | |
Früher – früher war hier mal ein Bäcker, früher war ich dunkelblond. War | |
früher alles besser? Nein, grau steht mir mehr, finde ich. Aber früher habe | |
ich dieses Wort seltener benutzt. | |
Früher lebte meine Familie mütterlicherseits auf einem norddeutschen | |
Bauernhof. Meine Großmutter wurde dort 1906 geboren, ihre Mutter in den | |
1870er Jahren. Wie meine Mutter aufgezogen wurde, wie sie später mich | |
erzogen hat, war beeinflusst davon, was meine Oma genauso und was sie | |
anders als ihre Mutter machen wollte. Je älter ich werde, desto mehr sehe | |
ich mich in dieser Weise auch durch die Zeit, die Zeit durch mich hindurch | |
gehen: Etwas von meiner auf diesem norddeutschen Bauernhof geborenen | |
Urgroßmutter steckt in mir. Hat mich mitgeprägt. Es scheint mir irgendwie | |
gar nicht mehr so lange her, dieses Früher. | |
So gehe ich durch die Zeit, während meine Tochter mit ihr geht (was zum | |
Beispiel bedeutet, dass sie diesen altmodischen Ausdruck „mit der Zeit | |
gehen“ vermutlich gar nicht mehr verstehen, sicherlich aber nie benutzen | |
würde). Sie sucht ihr Glück in einer Zeit, in der dieses allein von der | |
eigenen Leistung, der persönlichen Performance, der dafür nötigen | |
Selbstoptimierung sowie den richtigen, einen dazu befähigenden Routinen | |
abhängt. Oft, öfter als sie selbst, sehe ich, wie sie darunter leidet, | |
unter dem Jungsein in dieser Zeit, und wie ich ihr nicht helfen kann. | |
Darunter leide ich; liegt das an ihrem Jungsein oder an meinem Älterwerden? | |
## Ein anderes Land | |
Sie wächst in einem anderen Land auf als ich; das Land, in dem ich | |
aufwuchs, gibt es nicht mehr. Es war die alte Bundesrepublik, wo der | |
Kapitalismus den Arbeitnehmer:innen zulächelte, damit sie den | |
Sozialismus nicht doch schöner finden, der ja real existierte nebenan. In | |
der deshalb Arbeiter:innen sich ein Häuschen und einen schönen Urlaub | |
leisten und ihre Kinder dank der sozialdemokratischen Bildungsreform zur | |
Uni schicken konnten, damit sie es mal besser haben. | |
Heute gibt es fast keine Arbeiter:innen und keine Sozialdemokratie | |
mehr; der Kapitalismus hat sein Lächeln abgelegt und frisst die jungen | |
Leute dieser Welt. Und die – kleiner Exkurs zum Thema Migration – reagieren | |
darauf, wie sie es immer tun und immer getan haben in solchen Zeiten: Sie | |
gehen dorthin, wo sie ihr Glück dennoch zu finden hoffen. Wie meine Oma | |
einst vom Dorf in die Stadt, die andere aus Schlesien ins Ruhrgebiet, wie | |
der Vater meiner Tochter aus der Türkei nach Deutschland und sie nun auf | |
einen anderen Kontinent. Ich denke heute: Die Zeiten ändern sich viel | |
weniger, als man, wenn man jung ist, glaubt. | |
Kann meine Tochter das verstehen, interessieren sie solche Gedanken | |
überhaupt? Ich denke, nein. Noch nicht. Ich verstehe das gut, denn ich war | |
ja auch schon mal so alt wie sie, aber sie noch nie so alt wie ich. Und | |
dass ich heute so denke, kommt ja nur daher, dass ich älter geworden bin. | |
1 Dec 2024 | |
## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
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