Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Prekäre Jugend: Erlebnisräume hinter Paywalls
> Jede:r vierte Jugendliche in Berlin wächst in Armut auf. In den Blick
> geraten sie aber nur, sagt unsere Kolumnistin, wenn sie irgendwo zu doll
> stören.
Bild: Wo sollen sie hin, diese Teenager?
Es ist Ramadan. Die Jahreszeit, in die der islamische Fastenmonat derzeit
fällt, sorgt in Berlin für angenehme Fastenzeiten. Anfang März beginnt das
abendliche Fastenbrechen um etwa 18 Uhr, das warme Wetter lädt danach zu
Verdauungsspaziergängen ein.
Ein wunderschöner Abendhimmel zieht auch mich nach dem Homeoffice noch zu
einem Entspannungsgang hinaus. Vor der Haustür laufe ich beinahe in eine
Gruppe Jugendlicher hinein, Mädchen und Jungen, die lachend und schwatzend
vorbeiflanieren und dafür den ganzen Gehweg brauchen. Während ich sie
vorbeiziehen lasse und derweil darüber nachdenke, warum mich diese
Begegnung gerade so erfreut, sieht eins der Mädchen mir besorgt ins Gesicht
(ich gucke oft so streng, sagt man mir) und zischt den anderen zu:
„Schschscht! Wir sind zu laut!“ – „Nein!“, sage ich erschrocken und r…
ihnen nach: „Habt Spaß!“ Und mir wird klar, warum mich dieser Anblick so
gefreut hat.
Ich sehe sonst eigentlich keine Jugendlichen mehr in meinem Kiez. Ich sehe
sie manchmal, wenn ich vormittags einkaufe und Schüler:innen der nahen
Oberschule sich in ihren großen Pausen in meinem kleinen Supermarkt etwas
zu essen holen. Auch da sind sie in großen Gruppen und so, wie Teenager
eben sind: laut und ständig in Bewegung. Sie wirbeln durch die Gänge und
rufen sich dabei quer durch den Laden etwas zu, blockieren den Zugang zu
den Backwaren, und am Ende kauft dann jede:r von ihnen ein Gebäckstück und
ein Getränk, was an der Kasse dauert und die anderen Kund:innen nervt.
Was Jugendliche eben so tun: Sie stören (und nehmen dabei keine Rücksicht
auf) andere. Können sie in dem Fall übrigens auch gar nicht, denn ihre
Pause dauert 20 Minuten, dann müssen sie zurück ins Klassenzimmer. Nehmen
wir Rücksicht auf sie?
## Keine 4 Prozent der Bevölkerung
Jugendlich ist man laut dem Jugendschutzgesetz vom 14. bis zum 18.
Geburtstag. In Berlin waren das Mitte 2024 exakt 134.950 Menschen: nur 3,47
Prozent der Gesamtbevölkerung.
Das ist aber nicht der Grund dafür, warum ich in meinem Kiez nur noch so
wenige Jugendliche sehe: Als ich 2007 hierherzog, lehnten sie an den Autos
vor dem Späti an der Ecke („Oh, ist das Ihr Auto? Wir haben nur drauf
aufgepasst!“) und hingen abends auf dem Spielplatz rum. Damals lag der
Quadratmeterpreis für Wohnungsneuvermietung in Neukölln [1][bei 4,86 Euro],
heute bei [2][rund dem Dreifachen]. Wohlgemerkt: Das darf laut Mietspiegel
verlangt werden – was verlangt wird, liegt oft weit drüber. Für
kinderreiche, sonst aber arme Familien bedeutet das: auf engem Raum leben.
Kein Raum für sich allein ist aber grad für Pubertierende doof. Wo sollen
sie also hin, diese Teenager?
Neue Wohn- und Geschäftsgebäude – in deren Cafés sich diese Jugendlichen
kein Glas Wasser leisten können – „beleben“ im Zuge der Gentrifizierung
nicht nur in den Innenstadtbereichen Brachflächen, die zuvor von den
Jugendlichen selbst belebt wurden: ihnen als Treffpunkte dienten, wo sie
niemanden störten und nicht gestört wurden. Zugleich gibt es immer mehr
Freizeitangebote hinter Paywalls: von „Escape Rooms“ und „Laser Tags“ �…
In- und Outdoor-„Soccer Courts“ bis zu „Virtual Reality-Erlebnisräumen�…
Preise von 10 Euro pro Kopf und Stunde bis zu 125 Euro für 90 Minuten.
Jede:r vierte Jugendliche in Berlin wächst in Armut auf. In den Blick der
wachsenden und sich massiv verteuernden Stadt geraten sie nur, wenn sie
irgendwo zu doll stören. Dann gibt es Ortsverweise. Der einzige Grund
dafür, dass unsere Kids nicht rebellieren, wenn wir sie immer mehr aus dem
öffentlichen Raum verdrängen, sagt der Bildungssoziologe Aladin
El-Mafaalani, sei, dass sie in der digitalen Welt Ersatzangebote fänden.
12 Mar 2025
## LINKS
[1] https://www.tagesspiegel.de/berlin/mieten-in-neukolln-in-zehn-jahren-um-146…
[2] https://www.immoportal.com/mietspiegel/berlin/neukoelln
## AUTOREN
Alke Wierth
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
Kolumne Die Fußgängerin
Jugendliche
Paywall
Freizeit
GNS
Schwerpunkt Stadtland
Kolumne Die Fußgängerin
Berlin
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Vom Umgang mit roten Ampeln: Strammstehen an der Bordsteinkante
An Fußgängerampeln entscheidet sich vieles. Den übertriebenen Hang zur
Konformität von manchen dort empfindet unser Kolumnist als befremdlich.
Wenn man Gehen nicht mehr genießen kann: Aus dem Takt
Wenn Menschen gehen, hinterlassen sie Lücken. Unsere Autorin hadert damit.
Vielleicht ist das der Grund dafür, dass ihr Gehen keinen Spaß mehr macht.
ZDF -Comedy bei „Späti“: Highlights auf der Klappbank
In der ZDF-Serie „Späti“ muss man die Höhepunkte eher suchen. Berliner
Atmosphäre liefert die Sache aber immerhin, nicht zuletzt in den
Nebenrollen.
Über das Älterwerden in Würde: Subjektqualitäten muss man sich leisten kön…
Alt werden ist nichts für Feiglinge? Leben ist nichts für Feiglinge! Und
erst recht die Rente. Die ist nämlich wirklich nichts für Feiglinge.
Routiniertes Älterwerden: Durch das Leben gehen
War früher alles besser? Nein, grau steht mir mehr, meint unsere
Kolumnistin. Aber in der alten BRD lächelte der Kapitalismus den
Arbeitnehmern noch zu.
Stress des Nikotinentzugs: Jetzt nur nicht spazieren gehen!
Manchmal will unsere Kolumnistin nicht vor die Tür – aus therapeutischen
Gründen. Es könnte gefährlich sein, weil es da draußen doch Zigaretten
gibt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.