| # taz.de -- Wenn man Gehen nicht mehr genießen kann: Aus dem Takt | |
| > Wenn Menschen gehen, hinterlassen sie Lücken. Unsere Autorin hadert | |
| > damit. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass ihr Gehen keinen Spaß | |
| > mehr macht. | |
| Bild: „Ich möchte gerade lieber stillstehen, warten, atmen …“ | |
| Ach, ich kann nicht mehr gehen. Meine Beine schmerzen beim Gehen von den | |
| Hüften abwärts, meine Füße verkrümmen und versteifen sich, meine Arme | |
| wollen nicht mehr lässig und selbstverständlich im Takt schwingen, es gibt | |
| eigentlich keinen Takt mehr. Natürlich kann ich noch einen Fuß vor den | |
| anderen setzen, komme dabei von der Stelle, aber es ist eine Qual. Ich kann | |
| das Gehen nicht mehr genießen, Katastrophe! Und ich habe so eine Ahnung, | |
| woran das liegen könnte: Es ist zu viel gegangen worden im vergangenen | |
| Jahr. | |
| Im Juni vergangenen Jahres ging meine Mutter, sie starb in einer | |
| Senioreneinrichtung in Berlin, gut versorgt und ausgezeichnet gepflegt. In | |
| ihren letzten Tagen versank sie immer wieder in einen Halbschlaf voller | |
| Erinnerungen, und wenn sie daraus wieder auftauchte, berichtete sie mir | |
| lebhaft zum Beispiel davon, wen sie eben alles auf der Kirmes getroffen | |
| hatte und was diese Leute ihr erzählt hatten. | |
| Den Namen nach handelte es sich um Freunde und Freundinnen aus ihrer | |
| Jugend, und auch meine Mutter war in diesen Träumen wohl wieder jung, denn | |
| sie beendete ihren Bericht resolut mit den Worten: „Jetzt gib mir mal eine | |
| Zigarette!“ Da rauchte sie schon Jahrzehnte nicht mehr, und ich frage mich | |
| bis heute, warum ich ihr keine gegeben habe. Ich dachte, man dürfe in | |
| dieser Senior*innenwohnanlage nicht rauchen, aber die | |
| ausgezeichneten Pflegerinnen sagten mir später: „Ach! Hätten Sie doch | |
| machen können!“ Zu spät. | |
| Kurz nach der Bestattung meiner Mutter ging meine Tochter auf einen anderen | |
| Kontinent. Sie wollte schon lange weggehen aus Berlin, aus Deutschland; in | |
| dieses andere Land hatte sie sich verliebt. Ich konnte das vor Kurzem | |
| nachlesen in einem Bericht über ihre Auswanderung, den sie für eine | |
| Zeitschrift geschrieben hat: Ihre Freude über diesen neuen Ort, seine | |
| Schönheit, die Ruhe und die Freundlichkeit der Menschen dort; ihre | |
| Begeisterung über diese Veränderung, das neue Leben, einen Neuanfang. In | |
| diesem Text kam ich, ihre Mutter, nicht vor. | |
| ## Mutter ist okay, die kommt klar | |
| Natürlich nicht: Es interessiert die Kinder nicht, wie sich ihre Eltern | |
| dabei fühlen, wenn sie weggehen – mich hat es auch nicht interessiert, als | |
| ich einst weggegangen bin. Ich habe mich einfach entschlossen, das als | |
| gutes Zeichen zu werten: Mutter ist okay, die kommt klar. Ich habe bei | |
| dieser Entscheidung zu gehen, keine Rolle gespielt, ich war kein Hindernis, | |
| und das ist doch eigentlich ganz gut in so einem Mutter-Tochter-Ding. | |
| Jetzt geht auch ein Mann aus meinem Leben. Er weiß, glaube ich, nicht, dass | |
| ich es schon weiß, vielleicht weiß er es selber noch gar nicht. Aber ich | |
| spüre, dass er abwesend ist, wenn ich ihm etwas erzähle, dass er vergisst, | |
| was ich ihm bereits erzählt habe, dass er nur noch von seinen Plänen | |
| spricht und an meinen kein großes Interesse mehr zeigt, nur noch gute | |
| Ratschläge zu geben hat und dabei an mir vorbei in seine Zukunft schaut. | |
| Das ist schmerzhaft. Es wird zu viel aus meinem Leben gegangen gerade, | |
| vielleicht ist das der Grund dafür, dass mir das Gehen keinen Spaß mehr | |
| macht. Ich möchte gerade lieber stillstehen, warten, atmen; ich kann die | |
| ganzen Eindrücke, die kurzen Beobachtungen, die man beim Gehen machen kann, | |
| die schnellen Gedanken darüber nicht mehr verarbeiten; es strengt mich | |
| furchtbar an. | |
| Ich bin immer gut und gern gegangen, in einem vertrauten, | |
| selbstverständlichen Rhythmus, der einfach da war, den mein Körper ganz von | |
| selbst bestimmte, organisierte und managte. Meine Augen konnten schweifen, | |
| mein Kopf machte sich Gedanken – ich ging währenddessen sicher auf sicherem | |
| Boden und hatte Vergnügen dabei. Doch plötzlich ist Gehen anstrengend, | |
| mühsam, die anderen Menschen auf meinen Wegen erscheinen mir wie | |
| Hindernisse, wie Bedrohungen; ich muss ihnen ausweichen, muss reagieren, | |
| mich auf das Gehen konzentrieren anstatt aufs Denken und Sehen. Ich bin aus | |
| dem Takt. | |
| 20 Apr 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Alke Wierth | |
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