# taz.de -- Dreck in der Großstadt: Nicht ideal | |
> Müll im Fahrradkorb ist nicht toll – es macht aber auch keinen Spaß, als | |
> 12-Jährige jeden Samstag die Straße vor dem eigenen Haus fegen zu müssen. | |
Bild: Warum tun die Leute das nur? Müll am Straßenrand in Berlin-Neukölln | |
Über Silvester hatten wir Besuch vom Land, und als wir gemeinsam vor | |
unserem Haus standen, sagte der Besuch, er verstünde nicht, warum es hier | |
so dreckig aussähe. Gefiele es denn den Leuten so? Man könnte sich doch | |
auch einmal vor das Haus setzen wollen, was aber niemandem einfallen würde | |
bei dem ganzen Dreck. | |
„Das kommt von der Baustelle“, sagte ich schnell, „wir haben ja seit zwei | |
Jahren hier diese Baustelle.“ Das stimmt zwar und ist auch teilweise ein | |
Grund für den Dreck, aber die eigentliche und wahre Erklärung dafür ist | |
eine andere. Ich wollte sie nur lieber für mich behalten, denn er macht die | |
Stadt für manche Leute eben nicht attraktiv. | |
Man möchte doch, dass ein Besuch sagt, „Schön habt ihr es hier, ein schönes | |
Leben.“ Man möchte nicht, dass der Besuch dabei denkt: „Was müsst ihr arm… | |
Schweine denn im Dreck leben, wenn ihr vor die Tür geht. Nicht mal auf | |
einen Stuhl könnt ihr euch hier vor das Haus setzen, wenn ihr das wolltet, | |
ohne euch zu ärgern, jedenfalls.“ | |
Die Sache aber ist die: [1][Der Dreck ist normal], DAS IST DIE STADT. | |
Als ich einst von einem winzigen Dorf in Brandenburg nach Berlin-Neukölln | |
gezogen war, war ich unentwegt erschrocken. Zum Beispiel, als ich meine | |
Wohnungstür nicht öffnen konnte, weil ein Mann davor lag; zum Beispiel, als | |
ich die Frontscheibe meines uralten Autos eingeschlagen fand, weil jemand | |
mein kaputtes Autoradio gestohlen hatte; zum Beispiel, als eine Frau sich, | |
einfach so, quer über die Straße legte. | |
Es erschreckte mich, dass ich täglich neuen Fastfoodmüll im Einkaufskorb | |
meines Fahrrades vorfand, dass die Wege voller Hundekacke waren, obwohl ich | |
die Würstchen meines eigenen Dackels immer aufsammelte, und das schleimige | |
Hingerotzte ließ mich immer wieder würgen, weil ich einfach noch nicht | |
abgehärtet war. | |
## Es ist nicht ideal – aber es lohnt sich | |
Einen Katalog hätte ich erstellen können, mit Dingen, die man nicht tut, | |
die die Leute aber taten! Warum taten diese Leute diese Dinge nur? Diese | |
Dinge, die ich niemals tun würde? Anfangs erschrak ich also und wunderte | |
mich und erregte mich, aber jetzt lebe ich dreißig Jahre in der Großstadt | |
und sehe abgehärtet über das meiste hinweg. | |
Früher mussten wir Kinder jeden Samstag das Stück Straße vor unserem Haus | |
fegen. Hier in Hamburg ist das nicht unser Haus. Es ist das Haus von | |
irgendwem. Und das stimmt nicht mal, denn das Haus, in dem ich wohne, ist | |
ein Genossenschaftshaus. Aber es ist das Haus von vielen und die Leute in | |
unserem Haus interessieren sich nicht für Gehwegpflege. | |
In manchen Häusern ist das anders, da legt einer ein Beet davor an und | |
schaufelt tapfer die Kacke weg, die die Hunde anderer Menschen [2][in | |
dieses Beet gekackt] haben. Aber in unserem Haus sind die Leute nicht so | |
tapfer und enthusiastisch. Ich nehme den Müll aus meinem Fahrradkorb, fast | |
ohne überhaupt noch schlechte Gedanken dabei zu haben, denn Müll im | |
Fahrradkorb, das ist eben die Stadt. Freilich ist das nicht die Stadt in | |
den Hamburger Vororten, in Nienstedten oder Klein Borstel oder am | |
Sülldorfer Kirchenweg, aber es ist die Stadt, in der ich lebe, wie ich sie | |
nun mal kenne, seit dreißig Jahren. | |
Es ist nicht ideal – hätte ich dem Besuch vom Lande sagen können, wenn ich | |
gesagt hätte, was ich nur gedacht habe – aber ideal ist es auch nicht dort, | |
wo du als Zwölfjährige am Samstag das Stück Straße vor deinem Haus fegen | |
musstest. Es ist doch das Leben ein großer Kompromiss, man muss nur wissen, | |
ob es sich lohnt, und mit der Stadt ist es so, da sage ich bis hierhin und | |
immer noch – ja. | |
18 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Dreck-in-Berlins-Innenstadt/!5366302 | |
[2] /Oekoversion-von-Hundekotbeuteln/!5634674 | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Kolumne Zu verschenken | |
Müll | |
Berlin-Neukölln | |
Schwerpunkt Radfahren in Berlin | |
Schwerpunkt Stadtland | |
taz.gazete | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Müll | |
Kolumne Zu verschenken | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ein Spaziergang durch Neukölln: Am Morgen, schlecht gelaunt | |
Für Flanierende gibt es auf den Straßen Neuköllns viel zu sehen. Manchmal | |
kann das sogar etwas Schönes sein. Man muss halt über manches | |
hinwegschauen. | |
Blank geputzte Städte: Wenn der Dreck fehlt | |
Können Städte zu sauber sein? Und verschleiern sie dadurch ihre neoliberale | |
Verheerung? Unsere Kolumnistin vermisst den Dreck jedenfalls manchmal. | |
Ehrenamt in Berlin-Wedding: Meditatives Müllsammeln | |
Litter Picker ziehen freitags mit Greifzange und Müllbeutel durch den | |
Wedding – für manch Ehrenamtlichen der perfekte Einstieg ins Wochenende. | |
Phänomen Phantommülleimer: Abfall ohne Eimer | |
Was steckt dahinter, dass Menschen ihren Müll dort ablegen, wo mal ein | |
Abfallkorb war, aber gar keiner mehr ist? | |
Pappkartons auf der Straße: Was man nicht mehr haben will | |
Raus auf die Straße, was einem bei sich nur noch im Weg umgeht. Sollen sich | |
doch die Menschen freuen an diesem Geschenk. | |
E-Bikes gegen Sperrmüll: Mülltourismus boomt | |
Sperrmüll auf dem Gehweg nervt viele Berliner. In Neukölln sollen bei der | |
Entsorgung nun kostenlose E-Lastenräder helfen. |