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# taz.de -- Blank geputzte Städte: Wenn der Dreck fehlt
> Können Städte zu sauber sein? Und verschleiern sie dadurch ihre
> neoliberale Verheerung? Unsere Kolumnistin vermisst den Dreck jedenfalls
> manchmal.
Bild: Sie sind da, auch wenn Sie sie nicht sehen: Suchbild mit Ausgrenzern
Am ersten Sommertag des Jahres saß ich am Rande einer großen Grünfläche in
der Nähe meiner Wohnung, auf der Kinder spielten. Mein Begleiter, der die
meiste Zeit seines Lebens auf St. Pauli gewohnt hat, murrte, für seinen
Geschmack sei es hier zu sauber.
Ich verstand, was er meinte. Man sieht es vor allem an den Kindern. Wenn
die einfarbige Kleidung tragen, unbedruckte T-Shirts und Hosen und
vielleicht sogar braune Lederschuhe (!), dann ist das ein untrügliches
Zeichen für einen gewissen Wohlstand und eine gewisse Bildung. Es steht für
einen bestimmten Stil der Kindererziehung, Wohnungseinrichtung und
Freizeitgestaltung. Selten bis nie sieht man hier diese Kinder, die
vollkommen in Merchandise eingehüllt sind, mit ihren Eltern, die sie mit
Weizengebäck und Eistee nähren.
Stattdessen spielen hippe, mitteljunge Väter mit ihren selbstbewussten
Töchtern Fußball, schlürfen lässig gekleidete Mütter mit ihren
Freund*innen Cremant aus dem Biomarkt. Es sind vor allem junge oder
mitteljunge Familien, die „Refugees Welcome!“-Schilder und
[1][Regenbogenfahnen an ihre nagelneuen Balkone] geheftet haben, einen
gebrauchten, aber immer noch teuren Fahrradanhänger ihr Eigentum nennen und
sich gerne mit anderen Familien zu
Geburtstagsfeiern-wo-jeder-einfach-was-mitbringt verabreden.
Was es auf diesem Platz nicht gibt: [2][obdachlose Menschen],
Trinker*innen, Jugendcliquen, serbische Familiengrillfeste, Punks. Die
kommen nicht, die werden irgendwie, auf geheime Weise, magnetisch
abgestoßen.
Als reflektierter Mensch kann ich gar nicht anders, als diese kritischen
Gedanken gegenüber dem gesellschaftlich so homogenen Leben um mich herum zu
hegen. Aber ich kann auch den inneren Konflikt nicht leugnen. Ich bin 52
Jahre alt und kann Plätzen, die von Jugendcliquen frequentiert werden,
relativ wenig abgewinnen. Was will ich also von einem Ort, an dem ich die
Abwesenheit verschiedener Menschengruppen kritisiere, nach denen ich mich
aber auch nicht gerade sehne, während ich es mir mit meinem Buch gemütlich
mache? Will ich nicht eigentlich nur meine Ruhe?
## Ahnungslose Ausgrenzung
In meinem alten Dorf würde mich keiner verstehen, wenn ich erklärte, es
wäre mir irgendwo „zu sauber“. In der Stadt gilt es in bestimmten Szenen
als Zeichen guten Geschmacks, den Dreck zu vermissen, weil er die Schäden
einer neoliberalen Gesellschaftsordnung öffentlich sichtbar macht, es
gehört zum guten Geschmack, die Kaputten, die Verrückten, die Lauten und
die Störenden zu vermissen, die Randfiguren der Gesellschaft, auch und
gerade, weil man sehr gut gelernt hat, die tägliche Armut und das
allgegenwärtige Elend zu verdrängen oder auch einfach zu akzeptieren. Wie
könnten wir sonst, angesichts dessen und immer noch, so gut damit leben?
Partielle homogene Ordnungen stören vielleicht unser
Gerechtigkeitsempfinden, denn sie erwecken den Eindruck der Ausgrenzung,
obwohl ja etwa von dieser Grünfläche, zum Beispiel, niemand ferngehalten
wird. Oder doch? Halten Menschen durch ihr bloßes Sein andere Menschen
schon fern? Halte ich durch mein bloßes, nach außen hin sichtbar werdendes
Sein, durch meinen sichtbar werdenden Lebensstil schon einen Menschen fern?
Vielleicht. Mir selbst geht das so. Menschen, die laut, dumm und/oder
aggressiv sind, halten mich von Plätzen fern. Aber auch sie sind Teil
dieser Stadt. Und mir, als Bewohnerin einer Großstadt, bleibt im Sommer
nichts übrig, als immerfort Kompromisse zu machen, ein bisschen schneller
zu trinken oder drinnen zu bleiben. Drinnen ist es, im Sommer in der Stadt,
manchmal gar nicht so übel.
24 Apr 2022
## LINKS
[1] /Polizeistrategie-in-Hamburg/!5835206
[2] /Verdraengung-von-Wohnungslosen/!5782002
## AUTOREN
Katrin Seddig
## TAGS
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