# taz.de -- Pappkartons auf der Straße: Was man nicht mehr haben will | |
> Raus auf die Straße, was einem bei sich nur noch im Weg umgeht. Sollen | |
> sich doch die Menschen freuen an diesem Geschenk. | |
Bild: Kann weg | |
In meinem Stadtteil leben viele Menschen, die es verinnerlicht haben, dass | |
das Wegwerfen etwas Verurteilenswertes ist. Das Wegwerfen von Dingen, die | |
einen vielleicht noch ästhetischen oder nützlichen Wert besitzen. Wenn man | |
diese potenziell schönen und nützlichen Dinge wegwürfe, wäre man Teil der | |
gedankenlosen Wegwerfgesellschaft. Also legt man sie in einen Pappkarton | |
und stellt sie vor die Haustür, „zu verschenken“. | |
Ich habe eine Zeit lang darüber nachgedacht, mir eine neue, mittelgroße | |
Salatschüssel zu kaufen. Während ich noch im Internet stöberte, wurde mir | |
in einem Pappkarton eine solche mittelgroße und dazu noch sehr schöne | |
Salatschüssel als Geschenk angeboten. Nun hatten wir also Grund, uns gut zu | |
fühlen, der/die Verschenkende und ich. | |
Es ist ja der Vorgang des Schenkens ein angenehmer, das eigene Wohlbefinden | |
steigernder. Der Vorgang des Beschenktwerdens ist vielleicht ein wenig | |
beschämend, was aber wiedergutgemacht wird durch den Triumph der | |
Bereicherung. So weit zu den Gefühlen, die durchaus kompliziert sind. Ich, | |
zum Beispiel, fragte mich, warum diese sehr schöne Schüssel der/dem | |
Schenkenden nicht mehr gut genug war, wenn sie doch mehr als gut genug für | |
mich ist. | |
Über solche Eitelkeiten müssten wir natürlich hinwegkommen, wenn wir das | |
System der Pappkartons auf den Staat ausdehnen wollten. Es könnte sehr viel | |
verschenkt werden. Mehr als schlabberige T-Shirts, [1][alte | |
Scorpions-Platten] und Lebensratgebertaschenbücher von 1984. Wohnraum | |
könnte sehr gut verschenkt werden. Ich habe einfach zu viel Wohnraum, ich | |
gebe vier Räume ab. Zweitausend Quadratmeter Baugrund mit altem | |
Baumbestand. Einen kaum genutzten [2][VW-Touareg]. Drei Flugreisen pro | |
Jahr, mir reicht eigentlich eine. Und CO2-Emissionen, zu viel, viel zu | |
viel. Könnte man alles abgeben. Ich nicht, ich habe keine Autos und | |
Baugrund auch nicht. Aber einen Haufen Kleider im Schrank. Wir könnten eine | |
große Kiste aufmachen, die ganz große. | |
Aber das werden wir nicht tun. Niemand wird das tun. Denn die Leute | |
verschenken nur, was sie wirklich nicht mehr haben wollen. Was, in manchen | |
Fällen, niemand mehr haben will. Den Leuten fehlt es an Scham. Sie freuen | |
sich an dem Gedanken, dass es irgendwo auf der Welt noch eine arme Sau | |
geben muss, für die der eigene Müll Gold wert ist. Obdachlose. Arme. | |
AfrikanerInnen. In Accra, Ghana, brennen unsere Kühlschränke. | |
Ich bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen, wenn man dort etwas loswerden | |
wollte, fragte man die Nachbarn. Unser Nachbarssohn Jörgi angelte Fische, | |
die seine Mutter nicht zubereiten wollte. Er angelte sie, dann brachte er | |
sie mit nach Hause, dann wollte sie sie nicht zubereiten, dann schenkte er | |
sie unserem Vater. Aber bevor er seine Fische an unseren Vater weitergab, | |
fragte dieser Jörgi immer: „Willst du hier diese Fische haben?“ Er hätte | |
sie nicht in einen Karton gelegt. Er hätte das auch nicht tun dürfen. Es | |
hätte sonst so ausgesehen, als ob er sich einer Sache hätte entledigen | |
wollen. | |
In der Stadt stehen die Kartons und die Leute können sich natürlich auch | |
entscheiden. Wenn sie die Dinge aber nicht wollen, kriegt die Stadt sie. | |
Die Stadt hat ein offenes Maul, in das tagtäglich alles hineingeschüttet | |
wird, was die Leute nicht mehr brauchen, was sie nicht mehr wollen, was | |
ihnen nicht gefällt. Die Stadt hat ein so offenes Maul, dass sie auch das | |
verdauen kann, was dem Land komisch vorkommt. Die Stadt ist ein gefräßiges | |
Tier, stinkend, rülpsend, ein Allesfresser. Das Land ist ein rotbrauner | |
Fuchs. Das ist alles. Mehr gibt es zu den Unterschieden nicht zu sagen. Es | |
gibt eigentlich keine Unterschiede, nur Menschen, einfach nur Menschen. | |
8 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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