# taz.de -- Upcycling in der Mode: Des Kaisers alte Kleider | |
> Berlin wird zur Hauptstadt für Upcyclingmode. Hier kommen die | |
> Macher:innen zuverlässig an Nachschub ihres Rohstoffs: Kleidermüll. | |
Bild: Katja Schwabe hat sich auf das Häkeln mit gebrauchter Wolle spezialisiert | |
Bei jedem Gang vor die Tür laufe ich an verwaisten Kühlschränken, | |
dreibeinigen Stühlen, [1][verlebten Matratzen] oder vom Regen nassen | |
Klamottenhaufen vorbei. Berlin ist eine einzige Müllhalde. Doch eine | |
Handarbeiterin geht mit anderem Blick durch die Straßen: So manches | |
trostlose Stück habe ich schon mitgenommen und ihm [2][ein zweites oder | |
drittes Leben eingehaucht]. Und ich bin nicht die einzige Upcyclerin in der | |
Stadt. Auch Katja Schwabe, die [3][als „Wilde Käthe“] häkelt, oder [4][die | |
Turbantrullas aus Neukölln] sehen nicht den Müll, sondern das Material, das | |
genutzt werden will. | |
Angefangen hat es bei den Turbantrullas damit, dass Elisa Louis’ kleiner | |
Tochter keine Mütze so recht passen wollte. Freundin Maria Neidhold nähte | |
einen kleinen Turban mit „Trulla“, wie die beiden den Stoffknäuel auf der | |
Stirn nennen. Im Kiez gab’s dafür viele Komplimente und ruckzuck wurden | |
weitere Kinder versorgt. „Wir haben aus Versehen einen Trend geschaffen“, | |
sagt Elisa Louis und lacht. Dank Instagram verbreitete sich die Kunde der | |
Turbantrullas im ganzen Land – auch für Erwachsene. | |
Louis und Neidhold haben rund 60 Bestellungen im Monat, auch Stirnbänder | |
mit und ohne Brosche, Tuchbänder und Stoffhaargummis mit Reißverschluss | |
und Stauraum für Schlüssel oder Kleingeld bieten sie an. Vom Nähgarn bis | |
zur Versandtasche besteht alles aus wiederverwendetem Material. | |
Die Turbantrullas wollen nicht „downcyceln“ – also keine Pullover, T-Shir… | |
oder Tücher zerschneiden, die auch in ihrer Ursprungsform noch genutzt | |
werden könnten. Sie nehmen nur solche Klamotten und Stoffe für die Turbane, | |
die kaputt sind oder solche Muster haben, dass sie niemand mehr anziehen | |
würde. Um Löcher und Flecken schneiden Louis und Neidhold also herum. Das | |
bringt Abwechslung bei der Herstellung. „Man muss sich immer wieder neu mit | |
dem Material beschäftigen und sieht sich nicht so schnell satt“, sagt | |
Louis. | |
## Nachschub im Textilhafen | |
Aber lohnt sich der Aufwand für das, was die beiden erwirtschaften? „Im | |
Verhältnis ist das nix, wenn man’s auf die Stunde runterrechnet“, sagt | |
Neidhold. Das Label betreiben sie nebenberuflich. Sie sehen zwar | |
Riesenpotenzial, aber: In die Massenproduktion einsteigen? Und dann auf | |
die Einnahmen angewiesen sein? Elisa Louis hat vor allem Spaß daran, alles | |
selbst zu machen. Damit wäre dann Schluss. | |
Die Idee hinter dem Label ist den beiden wichtig: aus ehemaliger Fast | |
Fashion Slow Fashion machen und so dem Textilmüllberg ein minimales | |
bisschen entgegenwirken. Denn „der nachhaltigste Stoff ist der, der schon | |
existiert, egal ob er ursprünglich nicht nachhaltig produziert wurde“, sagt | |
Elisa Louis. | |
Deshalb kommen Nähgarn und Stoffe von E-Bay-Kleinanzeigen oder von | |
Kund:innen, die ungenutztes übrig haben. Den Großteil ihres Materials | |
kaufen die Trullas aber [5][im Textilhafen der Berliner Stadtmission]. | |
Hier landen jede Woche zwölfeinhalb Tonnen aussortierte Klamotten. Das sind | |
rund 1.250 dieser großen blauen Säcke, vollgestopft mit Hosen und T-Shirts, | |
Kleidern und Pullovern. Die Stoffberge werden sortiert und alles, was | |
obdachlose Menschen gebrauchen können, wird an sie weitergegeben – egal, | |
wie teuer man es noch verkaufen könnte. Auch die Sozialkaufhäuser und | |
andere soziale Projekte in der Stadt werden versorgt. | |
So werden rund 20 Prozent der gespendeten Klamotten als solche | |
weiterverwendet. Den Rest – 10 Tonnen Kleidermüll pro Woche – muss die | |
Stadtmission wegschmeißen, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Viele | |
Textilien sind kaputt oder schmutzig. Drei Viertel der gespendeten | |
Klamotten sind Damengrößen, gebraucht werden aber zu 90 Prozent | |
Männergrößen – vor allem Turnschuhe, Unterhosen oder gut erhaltene Hoodies. | |
Ein weiteres Problem: Die Leute spenden nicht saisonal. Wenn Winterjacken | |
im Sommer ankommen, kann die Stadtmission sie nicht lagern. Also muss das | |
alles weg. | |
Aber Müll zu entsorgen kostet Geld. Und das Material an sich ist gut und | |
qualitativ hochwertig, erklärt Beatrix Landsbek, die den Materialpool | |
leitet. Deshalb helfen kleine Labels, Designer:innen, | |
Filmausstatter:innen, Künstler:innen und Bürgerinitiativen, das | |
Problem in den Griff zu kriegen. Sie können in den Textilhafen kommen und | |
in den Kleiderbergen wühlen, verkauft wird zu günstigen Kilopreisen. | |
Landsbek sieht in upgecycelter Mode keinen wirklich neuen Trend. Was es | |
aber früher nicht gab: stabile und zuverlässige Quellen für das Material. | |
Mit dem Textilhafen, der lange einzigartig war in Deutschland – inzwischen | |
gibt es ein ähnliches Angebot in Hamburg –, wird die Materialbeschaffung | |
effektiver. Designer:innen können von den upgecycelten Produkten leben. | |
So wie Katja Schwabe. Sie häkelt Körbe, Sitzkissen, Tops und was ihr sonst | |
in den Sinn kommt, Hauptsache, quietschbunt! | |
## Katja Schwabe kann von der Handarbeit leben | |
Ihr Studio in einem Hinterhof in Berlin-Wedding ist klein. Als ich sie | |
besuche, wundere ich mich, wo die ganze Wolle ist. Hinter ihrem | |
Arbeitstisch zeigt Katja Schwabe auf ein Regal – gut sortiert in Kisten und | |
Boxen ist das bunte Garn. Anderthalb Kubikmeter nimmt der Vorrat ein, | |
rechnet sie aus. | |
Als sie anfing mit der Wilden Käthe und ihr Hobby zum Beruf machte, | |
brauchte Schwabe erst einmal die Wolle auf, die sie selbst über Jahre | |
angesammelt hatte. Als nix mehr da war, fühlte sie sich unwohl damit, neu | |
produzierte Wolle zu kaufen. „Es gibt eh schon so viel Kram, so viel | |
Material“, sagt Katja Schwabe. Also arbeitet sie mit geretteter, recycelter | |
oder adoptierter Wolle, wie sie es nennt. Oder sie ribbelt alte Textilien | |
auf, wenn die Zeit es erlaubt. Sie findet ihre Fäden auf | |
E-Bay-Kleinanzeigen, bei Haushaltsauflösungen, in den Restbeständen von | |
Wollläden. Oder eben im Textilhafen: pinkfarbige Schals, die niemand mehr | |
anzieht, neongelbe Mützen, die sie aufribbelt. Was daraus werden soll, weiß | |
Schwabe erst später. „Ich lasse mich durch das Material leiten.“ Beim | |
Upcycling kommen Unikate heraus. Die Labels macht das besonders: Jedes | |
Stück gibt es nur einmal zu kaufen. | |
Wilde Käthe ist für Katja Schwabe ein Vollzeitjob. Vor zwei Jahren hat sie | |
sich selbstständig gemacht. In einem Existenzgründer:innenkurs | |
rechnete sie sich den Stundensatz aus, den sie braucht, um von ihrer Arbeit | |
leben zu können, statt sich selbst auszubeuten. Seither kosten die | |
Sommertops, in die sie rund vier Stunden Arbeit investiert, 60 bis 70 Euro | |
– das ist doppelt so teuer wie davor. Gekauft werden die Teile trotzdem. | |
„Ich glaube, dass vor allem Menschen, die selbst handarbeiten, die Arbeit | |
wertschätzen, die in meinen Dingen steckt“, sagt Schwabe. Sie ist | |
überzeugt: „Menschen wollen vorankommen, gestalten, entwickeln.“ Konsum | |
gehört dazu. „Es gelingt den wenigsten, ohne Neues auszukommen – und wenn | |
es auf der Straße gefunden oder ertauscht ist.“ Durch ihre Handarbeit will | |
sie etwas Neues in die Welt bringen, was Freude bringt und sie bunter macht | |
– nur ohne dafür neue Materialien zu verbrauchen. | |
Als ich nach den Gesprächen mit den Upcyclerinnen nach Hause komme, will | |
ich mich auch gleich auf mein Handarbeitsregal stürzen und neue Dinge | |
erschaffen. So viele Ideen habe ich für die Stoffe und Fäden, die darin | |
liegen und mir schon längst gesagt haben, was sie werden wollen. Inzwischen | |
habe ich eine neue Sommerhose mit passender Bluse genäht. Happy Upcycling! | |
* * * | |
## Anleitung für einen bunten Restepullover à la Wilde Käthe (von Katja | |
Schwabe) | |
1. Vorbereitung: Es wird etwa 400 bis 500 g Garn in der Nadelstärke 5 bis 7 | |
benötigt sowie Stricknadeln Stärke 7 und eine Häkelnadel Stärke 5. Der | |
Verbrauch hängt von der jeweiligen Garndicke ab. Da der Pullover so bunt | |
wie möglich werden darf, kann Material in möglichst unterschiedlichen | |
Texturen und Farben gesammelt werden, zum Beispiel über Ebay-Kleinanzeigen, | |
Flohmärkte, Pullover oder alte Strickprojekte, die aufgetrennt werden | |
können. Alle gesammelten Reste und Fäden [6][mit dem „Magischen Knoten“] | |
verbinden und zu bunten Knäulen wickeln. | |
2. Vorder- und Rückenteil: Der Pullover passt allen Größen von S – L. Daf�… | |
80 Maschen (M) aufnehmen und kraus rechts (Hin- und Rückreihen nur Rechte | |
M) stricken. Nach 40 cm wird der Halsausschnitt eingefügt: nur die ersten | |
30 M der Reihe stricken, die nächsten 20 M abketten, wieder 30 M stricken. | |
In der nächsten Reihe 30 M stricken, 20 M aufnehmen, 30 M stricken. Nun | |
über alle 80 M stricken bis wieder 40 cm erreicht sind. Alle Maschen | |
abketten. | |
3. Ärmel: über die Schulter verteilt 54 M aus dem linken Rand aufnehmen, | |
kraus rechts stricken und nach 25 cm alle M abketten. Dies am rechten Rand | |
für den zweiten Ärmel wiederholen. | |
4. Nähte schließen: Die Nähte von innen mit gehäkelten festen M schließen | |
(locker häkeln!) oder mit einer Wollnadel zusammennähen. | |
5. Abschluss: Mit einem Kontrastgarn (beispielsweise Pink oder Glitzer) | |
feste M um den Halsausschnitt häkeln. Alle Fäden vernähen. Fertig ist das | |
nachhaltige Unikat! | |
23 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Alltag-in-Coronazeiten/!5749866 | |
[2] /!s=sch%25C3%25B6ner+m%25C3%25BCll&Autor=spitzm%25C3%25BCller/ | |
[3] https://www.instagram.com/wildekaethe/ | |
[4] https://www.instagram.com/turbantrullas/ | |
[5] /Serie-Was-macht-eigentlich-/!5648745 | |
[6] https://www.youtube.com/watch?v=q9Uu7ENsHlU | |
## AUTOREN | |
Christina Spitzmüller | |
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