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# taz.de -- Strickend in den Flow kommen: Meine neue Masche
> Lange litt unsere Autorin am „Second Sock Syndrome“: Sie strickte eine
> Socke und war zu frustriert für eine zweite. Wie sie diesen Zustand
> überwand.
Bild: Handarbeit trendet unter jungen Leuten
So oft habe ich mich am [1][Stricken] versucht. Ich romantisierte die Idee,
Selbstgemachtes zu tragen, und irgendwann gelang mir dann sogar mal eine
Mütze. Doch die ausgebeulte, löchrige Socke, an die ich mich als Nächstes
wagte, blieb für immer allein. Als ich auf Reddit über das Sockenstricken
las, fand ich sogar einen Namen für dieses Phänomen: „Second Sock
Syndrome“.
Damals druckte ich mir Anleitungen aus, hangelte mich mehr schlecht als
recht durch und gab schnell wieder auf. Als ich diesen Spätsommer auf der
dreitägigen Fähre nach Island nach einer Beschäftigung suchte, die keine
lange Bildschirmzeit oder Buchstaben beinhaltete, die mich seekrank machen
könnten, entdeckte ich im Fährshop Wolle von den Färöer Inseln. Ich kaufte
ein paar Knäuel und die passenden Nadeln, setzte mich ins Schiffscafé und
öffnete Youtube. Mit Bewegtbildern und Stimme fiel mir das Verstehen
leichter. Konnte ich mit der Erklärung einer Strickerin nichts anfangen,
klickte ich einfach auf das nächste Video. Die Vielfalt der Tutorials hat
das Strickenlernen demokratisiert, die Einstiegshürde, zumindest für mich,
verkleinert.
Ich schlug Maschen an, strickte den Bund, den Mittelteil in Runden glatt
rechts, wechselte die Farbe und fand sogar eine Methode für die Ferse –
das, was damals auf der gedruckten Anleitung wie hohe Mathematik oder Magie
schien, verstand ich nun auf Anhieb. Die zweite gestrickte Socke meines
Lebens war nicht perfekt, doch sie machte mich stolz. Das „Second Sock
Syndrome“ blieb diesmal aus, und einige Zeit später hatte ich ein Paar
Wollsocken fertig, gemacht aus Faröer-Wolle in den Farben „Aurora Borealis“
– weiß gesprenkelt mit Dunkellila und Grüntönen – und Grau.
Zurück auf dem Festland hatte ich Lust auf mehr Socken und fand heraus,
dass ich damit nicht allein bin. Stricken trendet, insbesondere in der
Altersgruppe der [2][18- bis 29-Jährigen]. Vielleicht stillt es bei vielen
Menschen eine Sehnsucht nach Entschleunigung und dass man seine Hände mal
für was anderes benutzt als nur fürs Tippen auf Tastaturen und dem
Smartphone. Stricken ist ein Gegenpol zu Reizüberflutung, ein Digital
Detox, bei der man das Endergebnis anfassen, sogar tragen kann.
## Stricken ist was für Leute, die an Meditation scheitern
Stricken ist Multitasking, aber mit festem Rahmen. Ich muss immer wieder
den Faden stramm ziehen, die Reihe wechseln, mal links, mal rechts
stricken, Maschen abheben – doch nicht mehr. Ich werde, anders als von
meinem Handy, nicht mit unendlichen Möglichkeiten bombardiert, sondern habe
einen begrenzten Handlungsraum und ein klares Ziel.
Und dann ist das Ganze noch positiv für das Gehirn. Irgendwann geht die
Strickbewegung ins Muskelgedächtnis über und weniger Konzentration ist
nötig, um Fortschritte zu machen. Dabei kann „Flow“ entstehen. Die Gedanken
fließen wie beim Meditieren vorbei, während die Hände immer wieder
dieselben Bewegungen wiederholen. Der ungarische Psychologe Mihály
Csíkszentmihályi prägte den Begriff „Flow“ für den Zustand völliger
Vertiefung in eine Tätigkeit, bei der das Tun selbst Freude bereitet. Flow
kann bei jeder Tätigkeit entstehen, bei der man vollständig in seinem
Handeln aufgeht. Beim Stricken kann es zu Flow kommen, wenn Konzentration,
Geschick und Herausforderung im Gleichgewicht sind – Zeit und Umgebung
treten in den Hintergrund.
Stricken ist was für Leute, die an Achtsamkeitsübungen oder Meditation
scheitern. Es ist meditativ, mit dem positiven Nebeneffekt, dass die Hände
etwas zu tun haben. Ich trainiere meine Feinmotorik, konzentriere mich auf
eine Sache. Wenn meine Hände die Nadeln halten und die Wolle gerade perfekt
um meinen Finger liegt, ist es viel leichter, der Versuchung zu
widerstehen, aufs Smartphone zu schauen – selbst, wenn es vibriert. Ich
stricke einfach weiter und weiter und weiter.
23 Nov 2025
## LINKS
[1] /Stricken/!t5203061
[2] https://initiative-handarbeit.de/presse/presseinformation-anlasslich-der-h-…
## AUTOREN
Klaudia Lagozinski
## TAGS
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