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# taz.de -- Selbstgestricktes gegen die Kälte: Wolle und wollen
> Wer friert, weil gerade Energie gespart werden muss, ist selber schuld,
> meint unsere Autorin. Es gibt schließlich leicht Abhilfe.
Bild: Junge Frau, strickend
Ah, Sie froren neulich? Weil es überraschend im Winter doch zehn Tage lang
richtig kalt war. Und jetzt, wo der Winter wieder zu warm ist, frieren sie
immer noch. Und zwar, weil die Vernunft es Ihnen gebietet, die Heizung
herunterzudrehen. Der Krieg. Der Klimawandel.
Im besten – oder schlimmsten – Falle sehen Sie im Frieren Schicksal. Wie
die Leute in der Ukraine. Nur, wir leben nicht dort, wir leben hier. Und
bevor Krieg und Klimawandel wieder egal sind und die Heizung doch
aufgedreht wird, checken Sie einmal, mit welchen Materialien Sie Ihren
Körper umhüllen.
Ist es Baumwolle? Dann sind Sie mit einem Sommermaterial bekleidet, das
eher kühlt anstatt zu wärmen. Andere Pflanzenfasern, wie Leinen oder Hanf,
sind auch mehr für den Sommer.
Oder tragen Sie synthetisches Zeug? Erkennbar an Bezeichnungen, die etwa
mit [1][„Poly“] beginnen? Dann kleiden Sie sich in Erdöl.
Es ist doch nicht nur so, dass in Autos und Flugzeugen, für Strom oder
Heizungen fossile Brennstoffe verheizt werden. Auch alles aus Plastik
basiert auf Erdöl, und dazu gehört Wolle aus Kunststoff. [2][60 Prozent
aller Bekleidung] soll laut Greenpeace Polyester enthalten.
Echte Wolle, die von Tieren ist gemeint, wärmt dagegen, weil sie viel Luft
in den Fasern hat. Luft isoliert. Synthetisches Material kann zwar
ebenfalls so hergestellt werden, dass es Luft in den Fasern hat, aber es
ist anders als Wolle [3][kaum saugfähig]. Der Schweiß bleibt auf der Haut –
im Winter ist das nicht gut. Im Sommer wiederum kann ein Wärmestau unter
synthetischer Kleidung entstehen, wie auch unangenehme Gerüche durch
Schweiß.
Sie sehen, worauf ich hinaus möchte: auf Schurwolle, auf richtige Wolle.
Die von Schafen, Lämmern, Merinoschafen und Angorahasen, von
Kaschmirziegen, Yaks, Alpakas, Lamas, Kamelen und [4][Guanakos]. Selbst das
Haar von Possums, Beutelsäugern aus Australien, die als invasive Art nach
[5][Neuseeland] eingeschleppt wurde, dort keine Feinde hat und extremen
Schaden anrichtet, ist [6][für Wolle zu gebrauchen]. Ich würde auch gerne
einmal die alleralleredelste Wolle [7][des Lama-Verwandten Vikunja]
verstricken, wenn mich jemand sponserte. Denn 25 Gramm kosten 225 Euro, das
Material für einen Pullover also mindestens 2.500 Euro.
Wenn ich diesem schlimmen Krieg in der Ukraine etwas abgewinnen kann, dann,
dass jetzt ein Großteil der Westeuropäer:innen die Landkarte besser
kennt. Das ist wichtig, denn es ist mit Erkenntnisgewinn verbunden.
Begrüßenswert finde ich zudem, dass selbstgestrickte Pullover aus guter
Wolle von Tieren wieder angesagt sind. Denn selbstgestrickte Pullover sind
in der Regel dicker als gekaufte. Sie wärmen mehr. So können Strom, Öl und
Gas gespart werden.
Hinzu kommt: Weil richtige Wolle einen selbstreinigenden Effekt hat, muss
sie nur selten gewaschen werden, was ebenfalls Strom spart. Synthetisches
Zeug jedoch sorgt beim Waschen dafür, dass Mikroplastik in den
Wasserkreislauf gerät. 35 Prozent des Mikroplastiks im Meer [8][soll aus
der Textilindustrie kommen].
In den letzten Jahren war es schwer, es in Selbstgestricktem überhaupt
auszuhalten. Denn die Winter waren zu warm und die Wohnungen zu aufgeheizt.
Jetzt aber, wo 18 Grad Maximaltemperatur die Maxime unseres Handels sein
sollten, aus ökonomischen, solidarischen und klimapolitischen Gründen, ist
Selbstgestricktes wieder unverzichtbar. Mit Wolle bekleidet sind selbst 17
Grad angenehm.
Und damit nun wirklich zum Stricken. Eigentlich war der Plan doch, etwas
darüber zu schreiben. Über diese [9][über tausend Jahre alte
Kulturtechnik,] die denen, die sie beherrschen, eine unglaubliche
Bereicherung und Freude ist. So wie mir.
Das Gestrickte ist wie ein Tagebuch. Gelungene Stücke – was im
Umkehrschluss heißt, dass es auch misslungene gibt –, erzählen Geschichten
aus meinem Leben. Denn weggeworfen werden sie nicht. Und wenn doch, spielt
das hier auch noch eine Rolle: Richtige Wolle ist sehr gut recycelbar. Ich
trenne mitunter auch altes Gestricktes auf und stricke neues daraus.
Man braucht viele Stunden, um einen Pullover fertigzustellen. Ich stricke
sie, und auch Jacken, nur noch vom Hals aus nach unten. Sollte sich die
Wolle beim fertig gestrickten Teil aushängen, kann leichter gekürzt werden.
Oder wenn die Ärmel sich als zu kurz herausstellen, leicht etwas
darangestrickt. Wolle verhält sich mitunter eigenwillig.
Früher war Stricken ein Männerberuf. Erst mit der Erfindung der
Strickmaschinen wurde es eine Beschäftigung, der vorwiegend Frauen
nachgehen, weil Handgestricktes nicht adäquat bezahlt wird. Dabei ist die
Geschichte der Handstrickerei voller Widerstände und Wunder. Etwa strickten
Frauen in ihre Arbeiten [10][auch Geheimdienstinformationen hinein]. Rechte
und linke Maschen sind wie die Nullen und Einsen des binären Codes, wie das
Lang und Kurz des Morsealphabets. Im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg
haben strickende Frauen in ihrem Gestrick Feindbewegungen weitergegeben, im
Ersten Weltkrieg auch.
Selbst für Protestbewegungen ist das Handstricken gut. Da sind [11][die
Tricoteusen während der Französischen Revolution]. Strickend saßen sie in
der Nationalversammlung. Gezeigt werden sollte, so Historiker:innen, dass
Frauen gesellschaftliche Teilhabe wollen.
Und in der Gegenwart? Da [12][umstricken Frauen mitunter Bäume], Monumente
oder [13][Panzer], wie 2013 den vor dem Militärhistorischen Museum in
Dresden, um ihre Sicht auf Politik, Kultur und Krieg zu zeigen. [14][Die
Pussyhats], diese pinkfarbenen Mützen mit zwei Ohren, die Frauen massenhaft
während Donald Trumps Präsidentschaft strickten und trugen, waren auch ein
Statement. Sie sollten Trumps Sexismus entlarven.
Auch meine Lieblingsjacke, die ich gerade sehr wertschätze, erinnert mich
an Politik. Ich habe sie vor dem 24. Februar 2022 aus [15][Wolle der
Orenburger Ziege] gestrickt. Die kommt aus Sibirien, wo die Ziege gezüchtet
wird. Dort weiß man, wie Wolle sein muss, damit sie wärmt. Ich aber denke
jetzt, wenn ich sie trage, an den Krieg in der Ukraine, dieses sinnlose
Gemetzel dort, diese abartige Zerstörung eines Landes, diese von bösartigen
Menschen geprägte Politik. Und ich denke an die Leute in Sibirien, deren
Wolle ich nun boykottiere und von denen ich glaube, dass sie diesen Krieg
auch nicht wollen.
Wolle und wollen – gibt es da einen Zusammenhang? Ich stelle mir das Wollen
nicht als etwas Erratisches vor, sondern als einen Faden, den ich zu mir
ziehen kann. Das wird es sein.
Die sibirische Wolle kratzt übrigens ein wenig, wenn man sie auf der Haut
trägt. Und weil sie ähnlich ist wie [16][Mohair], fliegen mitunter feine
Härchen durch die Luft, die in der Nase kitzeln.
8 Jan 2023
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=2OoThz23WUU
[2] https://www.greenpeace.de/publikationen/i03971-20170718-greenpeace-flyer-mi…
[3] https://www.ratgebermagazine.de/synthetische-kleidung-vor-und-nachteile-von…
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Guanako
[5] https://www.doc.govt.nz/nature/pests-and-threats/animal-pests/possums/
[6] https://theyarnqueen.co.nz/everything-you-ever-wanted-to-know-about-possum-…
[7] https://www.hajosiewer.de/die-unterschiede-zwischen-lama-alpaka-und-vikuna/
[8] https://www.naturenjoy.eu/blog/synthetische-kleidung-warum-wir-davon-wegkom…
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Stricken
[10] /Das-Politische-am-Stricken/!5825536
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Tricoteuses
[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Guerilla_Knitting
[13] https://www.radiodresden.de/beitrag/panzer-eingestrickt-protest-gegen-den-…
[14] https://en.wikipedia.org/wiki/Pussyhat
[15] https://de.wikipedia.org/wiki/Orenburger_Ziege
[16] https://de.wikipedia.org/wiki/Mohair
## AUTOREN
Waltraud Schwab
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