# taz.de -- Berliner Neutralitätsgesetz: „Niemand ist ganz neutral“ | |
> Das Kopftuchverbot im Staatsdienst wackelt. Unverständlich, dass die SPD | |
> daran festhält, sagt die Grünen-Politikerin Tuba Bozkurt. | |
Bild: Protestierende Frau auf einer Iran-Demo | |
taz: Frau Bozkurt, im Oktober [1][zeigten sich rund 100.000 Menschen in | |
Berlin solidarisch mit den Protesten im Iran] – die wohl größte | |
Demonstration diese Jahr in Berlin. Warum bewegt die Revolution im Iran | |
hier so viele Menschen? | |
Tuba Bozkurt: Berlin ist eine feministische und solidarische Stadt. Die | |
„Berliner Vielfalt“, wie ich das gerne liebevoll nenne, bedeutet die | |
Zusammenkunft unterschiedlichster Herkünfte, Identitäten und Lebensentwürfe | |
in Berlin. Migrant:innen und migrantisierte Menschen sind hier | |
sichtbarer und aktiver involviert im Stadtbild. Auch eine starke iranische | |
Community bereichert als Teil dieser Vielfalt. Das ist der fruchtbare Boden | |
für intersektionalen und progressiven Feminismus. Und genau der begründet | |
die sehr deutliche Solidarisierung mit den Iranerinnen in ihrem | |
feministischen Kampf um Selbstbestimmung. Hier stehen Kopftuch tragende und | |
Minirock tragende Frauen* zusammen und kämpfen gemeinsam für „Frauen, | |
Leben, Freiheit“. | |
Im Iran lösten Frauen, die ihr Kopftuch ablegten, eine Revolution aus. Für | |
Sie wäre es eine Revolution, wenn Frauen frei entscheiden können, ein | |
Kopftuch zu tragen. Ist das ein Widerspruch? | |
Im Gegenteil, in beiden Punkten geht es um die Selbstbestimmung der Frau | |
gegenüber dem Staat. Der moderne Feminismus ist von intersektionaler | |
Solidarität geprägt: Frauen setzen sich dafür ein, dass andere Frauen | |
selbst darüber entscheiden können, wie viel oder wenig sie tragen wollen, | |
und nicht die Gesellschaft, keine Autorität, kein Regime. Die Frauen im | |
Iran haben einen unfassbaren Mut. Sie kämpfen für die Freiheit der Frau. | |
Selbstbestimmt sollten Frauen aber auch hier sein. Wenn sie freiwillig ein | |
Kopftuch tragen wollen, sollen sie auch ihrer Berufsqualifizierung als | |
Lehrerin nachgehen können. | |
Seit der Einführung des Berliner Neutralitätsgesetzes können Kopftuch | |
tragende Frauen nicht mehr im Staatsdienst arbeiten. Aktuell prüft das | |
Bundesverfassungsgericht das Gesetz. Abhängig von der Rechtsprechung will | |
die aktuelle Koalition das Neutralitätsgesetz entweder erhalten oder | |
abschaffen. | |
Justizsenatorin Lena Kreck (Linke) hat vor Kurzem erklärt, dass es | |
weiterhin unklar sei, wann das Urteil kommen werde. Sie sprach sich aber | |
auch klar dafür aus, das Gesetz abzuschaffen. Die | |
Antidiskriminierungspolitiker:innen der Koalitionsparteien sind | |
sich einig, dass die Empfehlungen der Expert:innenkommission | |
antimuslimischer Rassismus Beachtung finden müssen. Und trotzdem hält die | |
SPD am Neutralitätsgesetz fest. Das ist vollkommen unverständlich. [2][Das | |
Neutralitätsgesetz diskriminiert Kopftuch tragende Frauen], bedeutet | |
praktisch ein Berufsverbot und greift in das Selbstbestimmungsrecht von | |
Frauen ein. Das müssen wir überwinden – ich bin klar für eine Abschaffung. | |
Sollte der Staat Bürger:innen also nicht neutral gegenübertreten? | |
Der Staat hat gerecht zu sein und darf niemanden diskriminieren. Durch das | |
Neutralitätsgesetz tut er das aber. Ein Staat schöpft sich aus der Vielfalt | |
der Individuen, die in seinem Dienst stehen, und daraus, dass er ihnen | |
gleich begegnet. Insofern ist es nur folgerichtig, dass Menschen, die für | |
den Staat arbeiten, auch die Diversität der Gesellschaft widerspiegeln. | |
Sonst bedeutet Neutralität nicht weniger als die Dominanz der Gruppe, die | |
als besonders „normal“ angesehenen wird. Jene Gruppe bringt auch | |
„sichtbare“ Symbole mit, die sich in Kleidungsstücken, Einstellungen und | |
Handlungen äußern. | |
Also versteht die Mehrheitsgesellschaft Neutralität falsch? | |
Wir gehen davon aus, dass Menschen ihre eigene Prägung ablegen können. Doch | |
durch unsere Sozialisierung haben wir eine individuelle Perspektive auf die | |
Welt, und aus dieser heraus handeln wir. Keiner von uns ist neutral: Ob wir | |
nun religiös oder agnostisch sind, eine Position beziehen wir immer. Und | |
das betrifft auch den sozioökonomischen Status als eine andere Form der | |
Prägung. In England konnte eine Studie nachweisen, dass die Rechtsprechung | |
bezüglich Mietschulden oft in Abhängigkeit dazu ausfällt, ob die | |
Richter:in selbst Wohnungseigentum besitzt oder nicht. Sprich, die | |
sozioökonomische Prägung von Richter:innen entscheidet mit. Dieser | |
Zusammenhang wird gesellschaftlich nicht diskutiert. Wenn wir eine Kippa, | |
ein Kopftuch oder einen Sikh-Turban sehen, fürchten wir aber, dass die | |
Neutralität gefährdet ist. Auch in solch einer Haltung äußert sich | |
antimuslimischer Rassismus. | |
Was ist antimuslimischer Rassismus? | |
In seiner extremen Form äußert sich antimuslimischer Rassismus in Terror | |
wie in Hanau. Im Alltag erleben gerade Frauen mit Kopftuch häufig physische | |
und verbale Übergriffe. Aber Rassismus äußert sich nicht erst dann, wenn | |
Menschen aufgrund äußerlicher Marker angegriffen werden, er ist auch | |
strukturell verankert. Antimuslimischer Rassismus ist es, wenn Kopftuch | |
tragenden Frauen Eigenschaften zugeschrieben werden, jenen ohne Kopftuch | |
nicht: Obrigkeitshörigkeit, Unterdrückung, Unmündigkeit, antidemokratische | |
Anwandlungen. Antimuslimischer Rassismus ist es, Menschen aufgrund einer | |
auch zugeschriebenen religiösen Zugehörigkeit anders zu behandeln, sie an | |
ihrer gerechten Teilhabe zu hindern. Und das passiert systematisch, ist in | |
unseren Strukturen verankert und geschieht ebenso intentional wie durch | |
aktive Übergriffe. | |
Sollte das Neutralitätsgesetz abgeschafft werden, würden dann nicht bald | |
auch Kruzifixe an Schulwänden hängen? | |
Das glaube ich nicht, davon sind wir in Berlin weit entfernt. Wir sollten | |
aber auch zwischen religiösen Symbolen – wie dem Kruzifix oder einer | |
Kreuzkette – und religiösen Geboten unterscheiden. Wenn eine Frau ein | |
Kopftuch trägt, glaubt sie ein religiöses Gebot zu befolgen. Ob das nun | |
sinnvoll oder richtig ist, sollte eine innerislamische Diskussion bleiben. | |
Aber solange das Tragen des Kopftuchs Ausübung eines religiösen Gebotes | |
ist, sollte es durch das Grundrecht der freien Religionsausübung geschützt | |
sein. Man muss Religiosität nicht gut finden, aber man muss ein Maß an | |
Toleranz und Akzeptanz dafür aufbringen können. Das kriegen wir hin in | |
Berlin. | |
Was hilft dabei? | |
Gerade Jugendliche haben oft Berührungspunkte mit allen möglichen Berliner | |
Communitys. Hier wäre niemand irritiert, wenn eine Frau mit Kopftuch nicht | |
mehr nur die Schulflure putzt, sondern auch in den Klassenräumen lehrt. | |
Sie selbst haben 20 Jahre lang Kopftuch getragen, bevor Sie es ablegten. | |
Nehmen Sie sich selbst als neutraler wahr? | |
Mein Kopftuch hat mich dazu verleitet, bewusst nichtreligiöser im | |
öffentlichen Raum zu agieren. Ich habe mich mit Kopftuch deutlich mehr | |
gezwungen gefühlt, möglichst neutral zu sein. Sobald ich in einen Raum kam, | |
wurde ich als Kopftuchträgerin kategorisiert. Um Menschen zu beweisen, dass | |
ich gängigen negativen Stereotypen nicht entspreche, die mit dem Kopftuch | |
assoziiert werden, habe ich mich damals viel stärker an eine Norm | |
angepasst, die zumindest als religiös neutral verstanden wird. So paradox | |
es ist, für mich fühlt es sich so an: Seitdem ich das Kopftuch abgelegt | |
habe, muss ich nicht mehr neutral auftreten. | |
Hatte es für Sie nur Vorteile, das Kopftuch abzulegen? | |
Nein. Was für mich vollkommen fremd war, ist die wahnsinnige | |
Sexualisierung, die ich auf einmal erfuhr. Ich wurde gesehen. Als Frau! | |
Vorher war ich ein sexuelles Neutrum. Mit dieser neuen Sichtbarkeit war | |
ich anfangs überfordert, und das hat meinen Feminismus noch mal befeuert. | |
Früher habe ich antimuslimische Übergriffe erlebt, jetzt werde ich als | |
migrantisierte, muslimische Frau exotisiert. Und rückblickend zu spüren, | |
mein ganzes bisheriges Leben der Teilhabe beraubt gewesen zu sein, ist ein | |
Gefühl, das ich immer noch in mir trage. Das ist auch mein Land. Ich bin | |
hier geboren und aufgewachsen. Ich habe mich immer als Teil dieser | |
Gesellschaft gefühlt. Trotzdem wurde ich um meine Rechte gebracht. Ich | |
durfte nicht sichtbar sein, weniger Erfolge feiern, mir wurde das | |
Aufstreben erschwert. Diese Erfahrung treibt mich nun aber an, im Berliner | |
Abgeordnetenhaus progressive Antidiskriminierungs- und Teilhabepolitik zu | |
machen. | |
25 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tatjana Söding | |
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