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# taz.de -- Berlin und der Kopftuchstreit: Geltendes Recht in der Wartezone
> Ein Gericht hatte längst entschieden, dass auch in Berlin Lehrerinnen
> Kopftücher tragen dürfen. Jetzt hat es auch die Politik eingesehen.
Bild: Frischer Wind in der Berliner Kopftuchdebatte
Berlin taz | Das Schöne am Rechtsstaat ist ja, dass es viele Mittel und
Wege gibt, zu seinem Recht zu kommen, selbst gegen vermeintlich
übermächtige Gegner. Leider stimmt das nur in der Theorie. Immer wieder
passiert es, dass sich Organe des Staates selbst nicht an Recht und Gesetz
halten. Klar kann man dann zum Beispiel eine Verwaltung verklagen – und
sogar gewinnen. Aber was, wenn die Staatsmacht trotzdem weitermacht wie
zuvor?
Beispiel Berlin und die Kopftuchdebatte. Bekanntlich hat die Hauptstadt das
strengste „Neutralitätsgesetz“ im ganzen Land: Lehrer*innen,
Polizist*innen und Justizbeamt*innen ist das Tragen religiös
konnotierter Kleidung bei der Berufsausübung verboten. Denn ausgerechnet
hier, wo islamische Kopftücher im Alltag längst Normalität sind, geht im
Rathaus die Angst vor der „Islamisierung der Schulen“ um.
Doch [1][seit im August 2020 das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einem
Rechtsstreit] zwischen einer Berliner Lehrerin mit Kopftuch und der
Bildungsverwaltung der Lehrerin recht gab, steht fest: Dieses Gesetz ist in
seiner Allgemeinheit nicht zu halten – zumindest für Lehrer*innen. Ihnen
kann das Tragen religiöser Kleidung nur untersagt werden, wenn im
Einzelfall eine „konkrete Gefahr“ für den Schulfrieden vorliegt, erklärte
das BAG unter Berufung auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von
2015.
Doch die Berliner Exekutive wollte das Urteil nicht akzeptieren, die
SPD-Bildungssenatorin legte beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde ein.
[2][Wenig überraschend wurde diese vor gut einer Woche abgelehnt.]
Eigentlich sind Verfassungsbeschwerden das vornehmliche Recht von
Bürger*innen, um ihre grundgesetzlich garantierten Freiheiten gegenüber dem
Staat durchzusetzen.
Eine Landesregierung als Staatsorgan kann diesen Weg nur ausnahmsweise
beschreiten, wenn ihre „Prozessrechte“ verletzt werden. Dass die obersten
Richter Berlins Beschwerde ohne Begründung abgelehnt haben, zeigt: Der Fall
war völlig aussichtslos. Nichts anderes war nach der Rechtsprechung der
letzten Jahre zu erwarten.
Die „Prozesshanselei“ des Senats hatte also nur den einen Zweck: Zeit zu
schinden. Zweieinhalb Jahre hat Berlin verstreichen lassen – Jahre, in
denen der Lehrer*innenmangel immer offenkundiger und drängender wurde.
[3][Und dies nur, um aufzuhalten, was nicht aufzuhalten ist.] Was die Sache
noch schlimmer macht: Theoretisch hätte man das BAG-Urteil trotz der
Beschwerde längst anwenden müssen – aufschiebende Wirkung hatte der Gang
nach Karlsruhe nicht. Das Urteil ist seit August 2020 rechtskräftig.
Desungeachtet werden bis heute Lehrerinnen, die ein religiöses Kopftuch
tragen, bei Bewerbungen auf Stellen an allgemein bildenden Schulen nicht
berücksichtigt. Eine Juristin, die auf solche Fälle spezialisiert ist,
bestätigte der taz, dass sie immer wieder entsprechende Beschwerden von
Frauen bekommt.
Nach der Klatsche aus Karlsruhe zeigt sich die SPD nun endlich einsichtig.
Man werde die Entscheidung respektieren, so die Noch-Regierende
Bürgermeisterin Franziska Giffey – das Gesetz werde „zügig angepasst“.
Untertänigsten Dank, möchte man da zynisch rufen. Wie schön, dass die
Exekutive endlich ihrer Pflicht, sich an geltendes Recht zu halten,
nachkommen will. Übrigens, Frau Giffey oder wer immer demnächst Berlin
regiert: Sie müssen nicht warten, bis das Gesetz geändert ist, Sie können
Ihre Politik sofort ändern.
12 Feb 2023
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## AUTOREN
Susanne Memarnia
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