# taz.de -- Berliner Neutralitätsgesetz: Ein Kampf mit allen Mitteln | |
> Ein höchstrichterliches Urteil schien den Streit um das | |
> Neutralitätsgesetz beendet zu haben. Doch an der Einstellungspraxis hat | |
> sich nichts geändert. | |
Bild: Frauen mit Kopftuch dürfen an Berliner Schulen nicht unterrichten | |
BERLIN taz | Es herrscht Verwirrung. Was ist nun mit dem Neutralitätsgesetz | |
– gilt es, oder nicht? Muss es geändert werden? Und vor allem: Dürfen | |
Frauen mit Kopftuch nun an Berliner Schulen unterrichten? Deutschlands | |
höchstes Gericht in Arbeitssachen hatte letzteres kürzlich nahegelegt. Doch | |
an der Einstellungspraxis hat sich bis heute nichts geändert. | |
Am 27. August verurteilte das [1][Bundesarbeitsgericht (BAG) Berlin zur | |
Zahlung einer Entschädigung] an eine Lehrerin. Die Bildungsverwaltung hatte | |
sie mit Verweis auf das Neutralitätsgesetz, das bestimmten Berufsgruppen, | |
darunter LehrerInnen, das Tragen religiös konnotierter Kleidung verbietet, | |
abgelehnt. Dies gehe nicht, so die Richter: „Das Neutralitätsgesetz ist in | |
diesen Fällen verfassungskonform dahin auszulegen, dass das Verbot des | |
Tragens eines sogenannten islamischen Kopftuchs nur im Fall einer konkreten | |
Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität gilt.“ | |
Sprich: Ein pauschales Berufsverbot ist Unrecht, weil es gegen die Freiheit | |
der Religionsausübung verstößt. So hat es das Bundesverfassungsgericht 2015 | |
vorgegeben – darin müsse sich Berlin halten, so die BAG-Richter. | |
Auf diese höchstrichterliche Entscheidung hatten viele gewartet – auch die | |
rot-rot-grüne Koalition, die in Sachen [2][Neutralitätsgesetz schon lange | |
nicht einig] ist. Grüne und Linke wollen es ändern, die SPD daran | |
festhalten. Einig war man sich nur, dieses Urteil abzuwarten – und danach | |
zu handeln. Daher fordert nun Sebastian Walter, Sprecher für | |
Antidiskriminierungspolitik der Grünen-Fraktion, der Senat müsse zu einer | |
Neubetrachtung des Gesetzes kommen. „Wir sind für eine gesetzliche | |
Klarstellung, die Rechtssicherheit herstellt“, sagt er. „Unsere Erwartung | |
ist, dass nun schnellstmöglich die bisherige Einstellungspraxis an den | |
Schulen geändert wird.“ | |
## „Ein Meilenstein“ | |
So sieht das auch die Klägerinnenseite. „Für die betroffenen Frauen ist das | |
Urteil ein Meilenstein“, sagt Zeynep Çetin vom Verein Inssan und | |
Projektleiterin des dort angesiedelten Netzwerk gegen Diskriminierung und | |
Islamfeindlichkeit. Das Netzwerk unterstützt und begleitet seit Jahren | |
Lehrerinnen mit Kopftuch, die gegen die Bildungsverwaltung klagen – fast | |
immer haben sie vor Gericht Recht bekommen. Auch die Klägerin im aktuellen | |
Fall wird von Inssan unterstützt. | |
Zudem hat Çetin eine Betroffenengruppe gegründet, in der sich rund 40 | |
Pädagoginnen mit Kopftuch – Studentinnen, Referendarinnen, Lehrerinnen – | |
über ihre Situation austauschen. „Natürlich haben die Frauen gehofft, dass | |
das Land ihnen jetzt gleichberechtigten Zugang und die freie Ausübung ihres | |
Berufs gewährt.“ | |
Die Hoffnungen wurden enttäuscht. Nach wie vor lehne die Schulverwaltung | |
die Einstellung von Erzieherinnen und Lehrerinnen ab, berichtet Çetin. In | |
einem Fall hat sie als Anwältin nun Klage erhoben beim Arbeitsgericht. Es | |
geht um eine staatlich anerkannte Erzieherin, die an einer Grundschule | |
Praktikum gemacht hatte – was mit Kopftuch erlaubt ist, ebenso wie das | |
Referendariat – und als pädagogische Unterrichtshilfe einstellt werden | |
sollte. | |
„Vier Tage hat sie bereits dort gearbeitet, als die Schulleitung ihr mit | |
Bedauern mitteilte, dass sie wegen ihres Kopftuchs doch nicht bei ihnen | |
arbeiten dürfe“, berichtet Çetin. Der taz liegt ein anonymisiertes | |
Schreiben des Kollegiums an die Schulaufsicht vor, aus dem hervorgeht, dass | |
die Erzieherin „zur vollsten Zufriedenheit“ ihre Arbeit gemacht habe und an | |
der Schule sehr erwünscht sei. | |
Das Beispiel zeigt: Es gibt Schulleitungen und Kollegien, die kein Problem | |
mit Pädagoginnen mit Kopftuch haben. Zwar ist der Interessenverband | |
Berliner Schulleiter ganz auf Linie der Bildungsverwaltung, die vor Gericht | |
immer argumentiert hat, Lehrerinnen mit Kopftuch seien per se eine „Gefahr | |
für den Schulfrieden“ – ohne dies je belegt zu haben. Beim Lehrerverband | |
GEW sieht die Sache aber schon anders aus: Dort halten sich Befürworter und | |
Gegner des Neutralitätsgesetzes etwa die Waage, sagt der Vorsitzende Tom | |
Erdmann. | |
## Viele wollen sich jetzt bewerben | |
Dass bei Frauen und Schulleitungen nach dem Urteil große Hoffnung | |
herrschte, sagt auch Miriam Aced, Sprecherin von #gegenBerufsverbot, einem | |
Bündnis mehrerer Organisationen aus dem Antidiskriminierungsbereich. „In | |
die Beratungsstellen unserer Mitglieder kommen nun immer wieder Frauen und | |
sagen, sie wollen sich nun bewerben!“ Sie höre auch, dass Schulleitungen | |
bereits „von oben“ gerügt worden seien, weil sie jetzt Lehrerinnen mit | |
Kopftuch einstellen wollten. | |
Auch die Integrationsbeauftragte des Senats, Katarina Niewiedzial, hat mit | |
betroffenen Frauen gesprochen. Die Gespräche hätten ihr gezeigt: „Es geht | |
schon lange nicht um die Neutralität des Staates, sondern um eine | |
Ungerechtigkeit, von der ausschließlich gut qualifizierte Frauen betroffen | |
sind. Berlin muss seine Einstellungspraxis ändern.“ | |
Doch die Bildungsverwaltung denkt gar nicht daran. Man warte noch auf die | |
schriftliche Urteilsbegründung, so der Sprecher von Bildungssenatorin | |
Sandra Scheeres (SPD). Die möchte nun am liebsten vor das | |
Bundesverfassungsgericht ziehen – und von dort zum Europäischen | |
Gerichtshof. Diese Möglichkeit besteht theoretisch, da sich das BAG-Urteil | |
auf das [3][Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz] bezieht, das die deutsche | |
Umsetzung von EU-Recht ist. | |
Praktisch dürfte dieser Weg kaum Erfolgschancen haben, schließlich wurden | |
die EU-Gleichbehandlungsrichtlinien erlassen, um Minderheiten zu schützen – | |
nicht, um sie zu diskriminieren. Dennoch hätten die Freunde des | |
Neutralitätsgesetzes damit etwas gewonnen: Zeit. Und die Frauen hätten | |
wieder ein paar Jahre verloren. | |
Dieser Text ist Teil eines gemeinsamen Schwerpunkts in der Wochenendausgabe | |
17./18. Oktober der taz.berlin und der taz.nord zum Neutralitätsgesetz an | |
Schulen. | |
16 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Kopftuch-Streit-vor-Gericht/!5710379&s=kopftuchverbot/ | |
[2] /Streit-um-das-Kopftuch/!5707639&s=kopftuchverbot/ | |
[3] /Antidiskriminierungsstelle-des-Bundes/!5714432&s=allgemeine+gleichbehandlu… | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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