| # taz.de -- Aufenthaltstitel für Geduldete: Wohnort als Chance | |
| > Die Ampel will gut integrierten Geduldeten eine Bleibeperspektive bieten. | |
| > Schon bevor das Gesetz in Kraft ist, handeln einige Bundesländer danach – | |
| > andere nicht. | |
| Bild: Wer eine Ausbildung macht, darf erst mal bleiben: Geflüchtete aus Afghan… | |
| Berlin, Leipzig taz | Florentin K. hat Pech: Er wohnt am falschen Ort, in | |
| Halle in Sachsen-Anhalt. Hier droht [1][ihm die Abschiebung]. Würde er nur | |
| etwa 70 Kilometer weiter leben, im thüringischen Örtchen Voigtstedt etwa, | |
| sähe es anders aus. Denn Thüringen handelt nach dem von der Ampel-Koalition | |
| geplanten „Chancen-Aufenthaltsrecht“, das Menschen wie ihm die Chance auf | |
| ein Bleiberecht geben soll. Es ist aber noch längst nicht in Kraft. Und | |
| Sachsen-Anhalt will nicht auf die angestrebten Regelungen vorgreifen. Das | |
| hat Folgen für Menschen wie Florentin K. | |
| Herr K. stammt aus Benin. Er ist 58 Jahre alt, erfahrener Fotojournalist | |
| und lebt seit sieben Jahren in Deutschland, sein voller Name ist der taz | |
| bekannt. Er arbeitet in einem Logistiklager. Als er Anfang Februar zur | |
| Ausländerbehörde ging, um eine sogenannte Beschäftigungsduldung zu | |
| beantragen – ein Instrument, das die Große Koalition für gut integrierte | |
| Geduldete eingeführt hatte – wurde er festgesetzt und in Abschiebehaft | |
| genommen: Für die Beschäftigungsduldung müssen Menschen in den vergangenen | |
| 18 Monaten mindestens 35 Stunden die Woche gearbeitet haben. Bei K. standen | |
| zunächst nur 32,5 Stunden im Arbeitsvertrag. Inzwischen arbeitet er | |
| Vollzeit, unbefristet. | |
| ## Chancen-Aufenthaltsrecht noch nicht verabschiedet | |
| „Als die Polizei mich mit Handschellen ins Gefängnis gebracht hat, das war | |
| schlimm. Ich hatte das Gefühl, wie ein Verbrecher behandelt zu werden“, | |
| sagt K. Unterstützer*innen liefen Sturm gegen die Inhaftierung. | |
| Schließlich stellte die SPD-Politikerin Susi Möbbeck, Staatssekretärin im | |
| Sozialministerium und Integrationsbeauftragte Sachsen-Anhalts, für K. einen | |
| Antrag bei der Härtefallkommission des Landes. Dadurch ist die Abschiebung | |
| erst einmal ausgesetzt, diesen Freitag wird sein Fall verhandelt. Sie | |
| hoffe, sagt Möbbeck der taz, die Kommission davon überzeugen zu können, | |
| dass K. „beruflich wie gesellschaftlich in Deutschland angekommen ist und | |
| dass eine Abschiebung eine besondere Härte bedeuten würde.“ | |
| Sein Anwalt will K. eigentlich eine Aufenthaltserlaubnis nach Paragraf 25b | |
| Aufenthaltsrecht beschaffen, einer Regelung für besonders gut integrierte | |
| Geduldete. Die sieht aber als eines von mehreren Kriterien in der Regel | |
| vor, dass die betreffende Person seit mindestens acht Jahren in Deutschland | |
| lebt. Bei Florentin K. sind es sieben. Sein Anwalt argumentiert, wegen | |
| seiner außerordentlichen Integrationsleistung habe er dennoch schon jetzt | |
| Anspruch darauf. | |
| Zur Überbrückung könnte eine Regelung aus dem Koalitionsvertrag herhalten, | |
| betont hingegen Pro Asyl: Mit dem sogenannten Chancen-Aufenthaltsrecht will | |
| die Bundesregierung für gut integrierte Menschen mit unsicherem | |
| Aufenthaltsstatus eine [2][Bleiberecht-Perspektive in Deutschland] schaffen | |
| – für Menschen wie Florentin K. Demnach sollen Geflüchtete, die am 1. | |
| Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland leben, nicht straffällig | |
| geworden sind und sich „zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung | |
| bekennen“ eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können, | |
| um in dieser Zeit die übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu | |
| erfüllen. K. lebt schon fast die acht Jahre in Deutschland, die gut | |
| integrierte Geduldete nachweisen müssen, um einen Aufenthaltstitel zu | |
| bekommen. | |
| Das Problem: Der 1. Januar 2022 ist schon längst verstrichen, das | |
| Chancen-Aufenthaltsrecht aber immer noch nicht verabschiedet. Das heißt, | |
| Menschen, die die im Koalitionsvertrag genannten Kriterien erfüllen, sind | |
| aktuell immer noch von Abschiebung bedroht. Das SPD-geführte | |
| Bundesinnenministerium bemühe sich vor diesem Hintergrund, das Vorhaben | |
| „besonders zügig“ umzusetzen, teilt eine Sprecherin auf taz-Anfrage mit. | |
| Die entsprechenden Vorarbeiten für ein Gesetzgebungsverfahren hätten | |
| bereits begonnen. Wann das Chancen-Aufenthaltsrecht voraussichtlich in | |
| Kraft treten wird, kann das Innenministerium nicht sagen. | |
| ## Rheinland-Pfalz wartet nicht ab | |
| Einige Bundesländer haben entschieden, nicht abzuwarten. So hat etwa das | |
| Integrationsministerium Rheinland-Pfalz den Landesausländerbehörden Ende | |
| Dezember 2021 mitgeteilt, es gebe „keine fachaufsichtlichen Einwände“, wenn | |
| die geplanten Abschiebungen von Menschen, die unter die Regelung fallen | |
| würden, erst einmal „zurückpriorisiert“ würden. Integrationsministerin | |
| Katharina Binz (Grüne) bezeichnet die angestrebten Änderungen im | |
| Aufenthaltsrecht als „lange überfällig“. Die Bundesregierung müsse das | |
| Chancen-Aufenthaltsrecht nun schnell umsetzen, „um den bis dahin weiter von | |
| Abschiebung bedrohten Ausländerinnen und Ausländern die nötige Sicherheit | |
| für ihren Aufenthalt in Deutschland zu geben und nachhaltige Integration zu | |
| ermöglichen“, sagt Binz der taz. | |
| Theoretisch könnten alle übrigen Bundesländer dem Beispiel von | |
| Rheinland-Pfalz folgen. Wie eine Recherche der taz zeigt, haben das bislang | |
| aber nur drei weitere Länder getan: Schleswig-Holstein, Bremen und | |
| Thüringen. In Niedersachsen, wo nach Angaben von Pro Asyl Mitte Januar noch | |
| ein Pakistaner abgeschoben wurde, der alle von der Bundesregierung | |
| formulierten Kriterien erfüllte, erklärt das Innenministerium auf | |
| taz-Anfrage, es werde derzeit „intensiv geprüft, inwieweit kurzfristig für | |
| den vom Koalitionsvertrag betroffenen Personenkreis Vorgriffregelungen | |
| möglich sind“. Ebenso sieht es in Berlin aus. Alle anderen Länder wollen | |
| auf das Bundesgesetz warten und lehnen vorgreifende Maßnahmen ab. Die | |
| Informationen im Koalitionsvertrag seien zu vage und wesentliche Fragen | |
| ungeklärt. Diese Meinung vertreten auch Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg, | |
| deren Innenministerien beide in SPD-Hand sind. | |
| Selbst Nordrhein-Westfalen, dessen Integrationsminister Joachim Stamp von | |
| der FDP das Migrationskapitel im Koalitionsvertrag federführend | |
| mitverhandelt hat, stellt entsprechende Fälle bislang nicht zurück. Man | |
| unterstütze das Vorhaben und begleite den Prozess „gewohnt konstruktiv“, | |
| heißt es aus dem Ministerium. „Sobald bundesgesetzliche Regelungen | |
| vorliegen, wird Nordrhein-Westfalen diese im Sinne gut integrierter | |
| Ausländer umsetzen.“ | |
| Während neben Nordrhein-Westfalen auch andere Bundesländer das geplante | |
| Chancen-Aufenthaltsrecht grundsätzlich begrüßen, kritisieren Bayern und | |
| Hessen es scharf. „Jemanden mit einem Bleiberecht zu belohnen, wenn er es | |
| nur lang genug geschafft hat, entgegen geltendem Recht im Land zu bleiben, | |
| wäre eine Kapitulation des Rechtsstaates“, erklärt ein Sprecher des | |
| CSU-geführten bayerischen Staatsministeriums des Inneren gegenüber der taz. | |
| Aus Hessens Innenministerium heißt es, das Vorhaben der Bundesregierung | |
| füge sich „in eine Reihe von weiteren ein, die aus unserer Sicht keine | |
| Strategie erkennen lassen, sondern vielmehr in der Realität zu | |
| Pull-Faktoren für illegale Migration und zugleich der Beförderung der | |
| menschenverachtenden Schleuserkriminalität dienen könnten“. Auch hier ist | |
| der zuständige Minister von der CDU – doch in der Landesregierung sitzen | |
| auch die Grünen, die im Bund maßgeblich Anteil am geplanten | |
| Chancen-Aufenthaltsrecht hatten. | |
| Entsprechend verstimmt reagieren die hessischen Grünen auf die Aussagen aus | |
| dem Innenministerium. „Wir begrüßen das Chancen-Aufenthaltsrecht und viele | |
| weitere an Humanität und der Lebenswirklichkeit von Menschen in unserem | |
| Land orientierte Maßnahmen im Koalitionsvertrag“, sagt der | |
| Fraktionsvorsitzende Mathias Wagner der taz. „Kritik an diesen Regelungen | |
| ist nicht die Position der hessischen Koalition und damit auch nicht der | |
| Landesregierung.“ | |
| Auch die Migrationsexpertin und Grünen-Bundestagsabgeordnete Filiz Polat | |
| nennt das geplante Chancen-Aufenthaltsrecht einen „zentralen Baustein“ des | |
| angekündigten „Paradigmenwechsels“ in der Migrationspolitik der | |
| Ampel-Koalition. Sie begrüßt die Initiative einiger Bundesländer | |
| ausdrücklich. Menschen, die von der Neuregelung profitieren könnten | |
| „vorzeitig abzuschieben“ sei eine „verpasste Chance für Menschen, nach | |
| langjähriger Duldung endlich eine Perspektive in Deutschland zu erhalten“ | |
| und „nicht im Sinne unserer Koalition.“ | |
| ## Kritik von den Linken | |
| Die Linksfraktion im Bundestag kritisiert, dass immer wieder Menschen | |
| abgeschoben würden, die die Anforderungen für das Chancen-Aufenthaltsrecht | |
| erfüllen. „Das ist für die Betroffenen eine Katastrophe und rechtsstaatlich | |
| schwer erträglich“, erklärt die Fraktionsvorsitzende Amira Mohamed Ali. | |
| Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) müsse die Bundesländer darum | |
| bitten, bis zur gesetzlichen Neuregelung keine potentiell | |
| Bleibeberechtigten mehr abzuschieben. „Ich verstehe nicht, wieso das nicht | |
| schon längst passiert ist“, sagt die Linken-Politikerin. | |
| Das Bundesinnenministerium jedoch plane nicht, „im Vorgriff auf die zu | |
| erwartende Rechtsänderung Hinweise an die Länder zum Umgang mit potenziell | |
| Berechtigten zu geben“, wie es auf Anfrage mitteilt. Das | |
| Chancen-Aufenthaltsrecht sei noch nicht konkret ausgestaltet. Für Peter von | |
| Auer von Pro Asyl sind die Ausführungen des Bundesinnenministeriums „nicht | |
| nachvollziehbar“. Schließlich stehe im Koalitionsvertrag schon „sehr | |
| konkret“, wer unter das Gesetz fallen werde: „Nämlich Menschen, die am 1. | |
| Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland leben, nicht straffällig | |
| geworden sind und sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung | |
| bekennen.“ | |
| 3 Mar 2022 | |
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| Dinah Riese | |
| Rieke Wiemann | |
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