| # taz.de -- Innenpolitiker über Sicherheitspolitik: „Videoüberwachung wird … | |
| > Muss die Linke jetzt ihre Kritik an Kameras überdenken? Der | |
| > Innenpolitiker Frank Tempel war früher Kriminalbeamter – und sagt | |
| > trotzdem „nein“. | |
| Bild: Alles im Blick? Kamera vor dem Landeskriminalamt in München | |
| taz: Herr Tempel, die Linke steht Videoüberwachung traditionell kritisch | |
| gegenüber. Ist es an der Zeit, diese Haltung zu überdenken? | |
| Frank Tempel: Nein. Wir haben keinen Grund, unsere Skepsis gegenüber mehr | |
| Überwachung abzulegen. Ich halte nichts davon, übereilte Vorschläge mit | |
| zweifelhaftem Nutzen in den Raum zu werfen, nur um zu demonstrieren, dass | |
| man etwas tut. | |
| Bestreiten Sie den Nutzen von Kamerabildern bei der Aufklärung? Hätte die | |
| Polizei Bilder des Täters vom Breitscheidplatz, würde sie ihn leichter | |
| finden. | |
| Das mag sein. Aber wer sagt Ihnen, dass eine Kamera auf dem Platz diese | |
| Bilder geliefert hätte? | |
| Hätte Sie nicht? | |
| Wir haben es hier mit jemandem zu tun, der seine Tat wahrscheinlich | |
| sorgfältig geplant hat. Um einen so großen Lastwagen so gezielt in eine | |
| Menschenmenge fahren zu können, muss man Ortskenntnisse haben. Der Täter | |
| wusste offenbar, wie die Straßen verlaufen, wie die Hütten auf dem | |
| Weihnachtsmarkt stehen, wo sie eine ausreichend breite Gasse bilden. Ein | |
| Täter, der seine Tat genau plant, informiert sich auch über Kameras – und | |
| findet Wege, unerkannt zu bleiben. | |
| Bilder aus Videoüberwachung haben in der Vergangenheit immer wieder zu | |
| Festnahmen geführt. | |
| Es gibt dazu empirische Erhebungen, zum Beispiel aus Großbritannien, wo der | |
| öffentliche Raum viel stärker überwacht wird als bei uns. Der Nutzen der | |
| Videoüberwachung wird überschätzt. Wenn zum Beispiel auf einem großen Platz | |
| Kameras aufgestellt werden, weichen die Kriminellen aus. Es gibt also | |
| Verdrängungseffekte. Sie rauben ihr Opfer nicht mehr im Blickwinkel der | |
| Kamera aus, sondern passen es in einer Nebenstraße ab. Oder die Täter | |
| wenden sich von der Kamera ab, verbergen ihr Gesicht, vermummen sich. Bei | |
| den Attacken im Kölner Hauptbahnhof an Silvester hatten sich viele | |
| Angreifer Schals über die Gesichter gezogen. | |
| Rechtfertigen es diese Beobachtungen, die Erfolge zu ignorieren? Der Mann, | |
| der einer Frau in einem Neuköllner U-Bahnhof in den Rücken trat, wurde auch | |
| durch Videobilder gefasst. | |
| Natürlich, man muss genau hinschauen. Diese Debatte endet nie, sie passt | |
| sich geänderten Realitäten an, und das ist gut so. Ich plädiere nur dafür, | |
| jeweils den realen Nutzen und die Nachteile gegeneinander abzuwägen. In | |
| Bahnhöfen oder Kaufhäusern sind Kameras zum Beispiel sinnvoll. Das sind | |
| begrenzte Räume mit klar zu definierenden Gefahrenpunkten. Aber um Tat und | |
| Fluchtwege von Terroristen in Berlin zu dokumentieren, müsste ich die ganze | |
| Stadt mit Kameras pflastern. Wollen wir das? | |
| Würde es die Menschen wirklich stören? Innenpolitiker aus der Union sagen, | |
| dass dies das Sicherheitsgefühl erhöhen würde. | |
| Das glaube ich nicht. Ich fühle mich nachts in einem U-Bahnhof nicht | |
| sicherer, weil da eine Kamera hängt. Es geht bei Videoüberwachung immer um | |
| einen Balanceakt. Der reale Nutzen steht dem Recht jedes einzelnen auf | |
| Privatheit gegenüber. Und die Politik muss beides gegeneinander abwägen. | |
| Ich halte es für ein hohes Gut, dass man in einer deutschen Stadt unerkannt | |
| durch die Fußgängerzone oder durch den Park gehen kann. Welches Hobby man | |
| hat, mit wem man unterwegs ist, wie müde man am Montagmorgen aussieht, das | |
| geht den Staat nichts an. | |
| Sie waren Kriminalbeamter, bevor Sie 2009 in den Bundestag kamen. Waren Sie | |
| damals bei Ihrer Arbeit froh, Bilder aus der Videoüberwachung zu haben? | |
| Klar. Ich habe zum Beispiel bei Raubdelikten in Kaufhäusern ermittelt. Da | |
| waren Bilder des Täters, die Kameras aufgezeichnet hatten, natürlich | |
| hilfreich. | |
| Aber Ihre politische Haltung beeinflusst diese Praxiserfahrung nicht? | |
| Ein Polizeibeamter will natürlich die bestmöglichen Mittel in die Hand | |
| bekommen, um seinen Job gut zu machen. Das ist sein gutes Recht. Als | |
| Politiker habe ich eine andere Rolle. Ich muss eine Rechtsgüterabwägung | |
| vornehmen. Vertragen sich die Wünsche des einzelnen Polizisten mit | |
| Grundrechten anderer Bürger? Und da sage ich: Die Linke bleibt auch nach | |
| dem Anschlag in Berlin bei ihrem Nein zu Videoüberwachung auf öffentlichen | |
| Plätzen. | |
| Haben eigentlich Ihre ehemaligen Kollegen Verständnis für Ihre Zweifel? | |
| Sagen wir es so: Ich führe immer wieder lebendige Diskussionen mit | |
| Polizistinnen und Polizisten. | |
| Das heißt übersetzt: Die allermeisten finden Ihre Position grundfalsch. | |
| So weit würde ich nicht gehen. Aber ja, die Kritik überwiegt. | |
| Auf Facebook geben die Deutschen täglich Intimes von sich preis. Ist es | |
| angesichts dessen nicht etwas anachronistisch, gegen Kameras zu wettern? | |
| Auf Facebook bestimmt jeder selbst, was er veröffentlicht. Ich kenne viele | |
| Menschen, die sehr genau darauf achten, was sie in sozialen Netzwerken | |
| posten und wer das einsehen darf. Zeigefreudigkeit auf Facebook ist also | |
| ein freiwilliger Akt. Bei Kameras im öffentlichen Raum wäre das anders. Da | |
| bestimmt der Staat, was er von uns sieht. | |
| Wie beurteilen Sie das Vorgehen der Bundesregierung seit dem Anschlag? | |
| Ich muss gestehen, dass eine Mehrheit in der Bundesregierung besonnen und | |
| vernünftig agiert. Da beziehe ich ausdrücklich den Innenminister ein, den | |
| ich sonst selten lobe. Die unsinnigen Forderungen nach dem Anschlag sind | |
| doch recht überschaubar. | |
| Aus der CSU kam auch die Uralt-Forderung, die Bundeswehr müsse im Inneren | |
| eingreifen dürfen … | |
| Wie gesagt, ich sprach von der Mehrheit in der Bundesregierung. Die CSU ist | |
| ein anderer Fall. Sie nutzt die fürchterliche Tat, um sich maximal zu | |
| profilieren – obwohl die Faktenlage nach wie vor dürftig ist. Sollen jetzt | |
| Soldaten Weihnachtsmärkte schützen? Wenn ein Bäcker einen Großauftrag über | |
| tausende Brötchen bekommt, stellt er ja auch keine Metzger ein. | |
| 22 Dec 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
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