| # taz.de -- Verschärfungen beim Bürgergeld: Irgendwie mehr Härte | |
| > SPD und Union haben sich auf Grundzüge der Bürgergeldreform geeinigt. | |
| > Entscheidende Details sind noch unklar. Sicher ist: Arme bekommen mehr | |
| > Probleme. | |
| Bild: Bärbel Bas klingt mittlerweile wie Gerhard Schröder, als der die Agenda… | |
| Berlin taz | Die Gesichter waren grau, und die Schatten unter den Augen | |
| tief. Als die Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD am Donnerstagmorgen | |
| im Kanzleramt den Vertreter*innen der Medien die Ergebnisse des | |
| Koalitionsausschusses referierten, sah man ihnen die durchwachte Nacht an. | |
| Bis kurz nach zwei Uhr hatte man zusammengesessen und über Rente, | |
| Verkehrsmilliarden und das Bürgergeld diskutiert. | |
| Was Friedrich Merz (CDU) und Bärbel Bas (SPD) als politische Einigung zum | |
| Bürgergeld vorstellen, dürfte vielen Betroffenen in Zukunft ebenfalls | |
| schlaflose Nächte bereiten: Vor allem sollen die Jobcenter in Zukunft | |
| wieder [1][schnellere und härtere Sanktionen] verhängen. Es werde eine neue | |
| „Grundsicherung“ geben, „das Thema Bürgergeld wird damit der Vergangenhe… | |
| angehören“, so der Kanzler. Es abzuschaffen, war eine zentrale | |
| Wahlkampfforderung der Union gewesen. | |
| „Wir fördern Arbeit statt Arbeitslosigkeit“, sekundierte Arbeitsministerin | |
| Bärbel Bas und klang dabei ähnlich wie einst SPD-Kanzler Gerhard Schröder, | |
| als der vor 22 Jahren zur Agenda-Rede ansetzte. Das Paradoxe: Die | |
| [2][Hartz-Reformen] entfremdeten viele Wähler:innen der SPD. Mit dem | |
| Bürgergeld wollte man Hartz IV und die Agenda-Politik endgültig hinter sich | |
| lassen. Stattdessen verfing bei vielen SPD-Wähler*innen die von der Union | |
| vorangetriebene Kritik am „bedingungslosen Grundeinkommen“, einige sehen | |
| das Bürgergeld inzwischen als den zentralen Grund für den Verlust des | |
| Kanzleramts. | |
| Nun also die Rolle rückwärts. | |
| Dabei ist trotz der nächtlichen Verhandlungen nicht alles klar. Das | |
| Beschlusspapier der Koalitionsspitzen lässt entscheidende Details offen. | |
| Manche Aussagen von Merz und Bas widersprechen sich entweder – oder dem, | |
| was sie eigentlich schwarz auf weiß vereinbart haben. Auch Nachfragen der | |
| taz bei mehreren Beteiligten im Laufe des Tages blieben ohne klare | |
| Antworten. | |
| Empfänger*innen von Bürgergeld werden künftig härter behandelt – aber | |
| wie hart es genau wird, klärt sich erst, wenn in den nächsten Wochen die | |
| Gesetzesänderungen konkret ausformuliert werden. Einzelne Regelungen | |
| könnten später auch noch gerichtlich überprüft und zurückgenommen werden �… | |
| denn das [3][Bundesverfassungsgericht hat für Sanktionen schon vor Jahren | |
| enge Grenzen gesetzt]. | |
| Fest steht – und das lässt auch das Grundgesetz zu: Wer gegen Regeln | |
| verstößt, wird in Zukunft schon bei der ersten Sanktion 30 Prozent seines | |
| Regelbedarfs verlieren. Statt 563 Euro, die einem Erwachsenen derzeit | |
| zustehen, gibt es dann vorübergehend nur noch 394 Euro im Monat. Im | |
| Hartz-IV-System fielen die Einstiegssanktionen schon einmal so hoch aus. | |
| Die Ampel führte mit dem Bürgergeld dagegen ein Stufenmodell ein, indem | |
| erst 10, dann 20 und erst danach 30 Prozent wegfallen. Diese | |
| Zwischenschritte will Schwarz-Rot definitiv streichen. | |
| In bestimmten Fällen soll es auch über die 30 Prozent hinausgehen. Zum | |
| einen bei Menschen, die unentschuldigt nicht zu Terminen im Jobcenter | |
| erscheinen. Erscheint jemand dreimal hintereinander nicht, so das Papier, | |
| werden „die Geldleistungen komplett eingestellt“. Beim vierten Mal wird | |
| sogar die Übernahme der Wohnkosten „reduziert“ (so Bas) beziehungsweise | |
| „komplett eingestellt“ (Beschluss). Im Zweifel also: Kein Geld mehr für | |
| Essen und Miete. | |
| Aus der Praxis ist bekannt, dass häufig psychisch Kranke ihre Termine | |
| verpassen. Nicht zwingend, weil sie nicht wollen, sondern weil sie nicht | |
| können. Eine Härtefallregelung soll laut Koalition solche „Gründe für das | |
| Nichterscheinen“ berücksichtigen. Zur genauen Ausgestaltung gibt es aber | |
| noch keine Angaben. Auch nicht dazu, ob die gekürzten Leistungen für die | |
| Betroffenen definitiv verloren sind – oder ob nachgezahlt wird, sobald doch | |
| noch ein Termin zustande kommt. | |
| Zum anderen sind 100-Prozent-Sanktionen geplant, sofern „der | |
| Leistungsberechtigte die Arbeitsaufnahme verweigert“. Schon die Ampel hatte | |
| diese Möglichkeit eingeführt, wegen der Vorgaben des Verfassungsgerichts | |
| aber nur im Wiederholungsfall und unter weiteren strengen Bedingungen. In | |
| der Praxis kommt es bislang extrem selten vor, dass der Regelsatz komplett | |
| gestrichen wird, weil der Betroffene eine Stelle ablehnt. | |
| In der schwarz-roten Einigung ist nun nicht mehr von Wiederholungsfällen | |
| die Rede. Möglicherweise fällt der Regelsatz künftig also schon weg, wenn | |
| ein einziges Arbeitsangebot ausgeschlagen wird, obwohl das Jobcenter es als | |
| zumutbar einstuft. Merz zufolge sollen bei „dauerhafter Verweigerung“ auch | |
| hier die Unterkunftskosten gestrichen werden. Im Beschlusspapier ist an der | |
| Stelle hingegen nur davon die Rede, dass die Miete direkt an die Vermieter | |
| umgeleitet wird. | |
| Weitere geplante Änderungen: Wie früher schon bei Hartz IV soll in Zukunft | |
| der sogenannte Vermittlungsvorrang gelten. Die Jobcenter sollen Menschen | |
| also lieber schnell in irgendeine Arbeit vermitteln, statt ihnen die | |
| Gelegenheit zur Weiterbildung (und damit die Chance zu besseren Jobs) zu | |
| geben. Allerdings wird es Ausnahmen geben. „Insbesondere bei den unter | |
| 30-Jährigen sollte eine Qualifizierung Vorrang haben“, heißt es im Papier. | |
| Wie großzügig diese Ausnahmen werden: offen. | |
| Definitiv wegfallen wird die Karenzzeit, in der Personen ein Vermögen von | |
| 40.000 Euro behalten und trotzdem Bürgergeld erhalten dürfen. Diese | |
| Regelung war erst in der Coronazeit eingeführt worden. In der Praxis | |
| betrifft das laut Studien aber verhältnismäßig wenige Menschen. Zum Teil | |
| will Schwarz-Rot auch die Karenzzeit bei den Wohnkosten streichen: Bislang | |
| wird zu Beginn des Bürgergeldbezugs gar nicht geprüft, ob sie angemessen | |
| sind. Nun soll eine gewisse Grenze eingezogen werden. Details: auch hier | |
| unklar. | |
| Neben all den Streichungen und Verschärfungen hält sich die SPD zugute, | |
| dass nicht alles schlechter werde. So stellte Bas am Vormittag heraus, dass | |
| weiterhin zu Beginn des Bürgergeldbezugs ein Kooperationsvertrag zwischen | |
| dem Jobcenter und dem Bedürftigen geschlossen wird – nach wie vor „auf | |
| Augenhöhe“, wie es die Ministerin ausdrückt. | |
| Es sind solche Punkte, derentwegen es am Donnerstag auch aus dem linken | |
| Flügel der SPD Zustimmung zur Einigung gibt. „Das Gespräch mit den | |
| Jobcentern bleibt auf Augenhöhe“, sagte etwa Fraktionsvize Dagmar Schmidt. | |
| „Die Sanktionsregelungen werden zwar verschärft, aber wir achten darauf, | |
| dass sie gerecht angewendet werden und nicht die Falschen treffen.“ | |
| Teils vernichtende Kritik kommt dagegen von anderer Stelle. „Das ist | |
| menschlich hart und kalt“, sagte Grünen-Fraktionschef Katharina Dröge zu | |
| den Sanktionsplänen. Als „absolut menschenunwürdig“ kritisiert die | |
| Fraktionsvorsitzende der Linken, Heidi Reichinnek, gegenüber der taz „die | |
| Zerschlagung“ des Bürgergelds, die zudem wenig brächte: „Es ist | |
| wissenschaftlich erwiesen, dass dieser Druck, der durch die Verschärfung | |
| der Sanktionen aufgebaut wird, Menschen nicht in gute Arbeit bringt.“ | |
| Verdi-Chef Frank Werneke sprach von „falschen Signalen“ durch | |
| „Sanktionsverschärfungen, bis an die Grenzen dessen, was | |
| verfassungsrechtlich zulässig“ ist. Der Kinderschutzbund warnte davor, dass | |
| von Sanktionen gegen Eltern immer auch deren Kinder betroffen seien, obwohl | |
| diese keine Schuld an Regelverstößen trügen. „Die Pläne der | |
| Bundesregierung, Sanktionen bis zur Streichung der Unterstützung zur | |
| Unterkunft möglich zu machen, sind eine Katastrophe für diese Kinder und | |
| Jugendlichen“, sagte Geschäftsführer Daniel Grein. | |
| 9 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Forscher-zu-Buergergeld-Sanktionen/!6118590 | |
| [2] /Angriff-auf-den-Sozialstaat/!6108938 | |
| [3] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/20… | |
| ## AUTOREN | |
| Tobias Schulze | |
| Anna Lehmann | |
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