# taz.de -- Wirtschaftsweise Truger: „Der Sozialstaat ist ein Schutzfaktor, k… | |
> In der Debatte über Wirtschaftskrise und Sozialkürzungen wirbt der | |
> Wirtschaftsweise Truger dafür, „nicht die Ärmsten die Zeche zahlen“ zu | |
> lassen. | |
Bild: „Das geht nur solidarisch“: Essensausgabe in einem Pflegeheim in Meis… | |
taz: Herr Truger, da ich Journalist bin und nicht Dachdecker, wäre ich | |
damit einverstanden, erst mit 68 in Rente zu gehen. Halten Sie das für | |
einen diskussionswürdigen Vorschlag [1][in der aktuellen Debatte über die | |
Reform des Sozialstaats]? | |
Achim Truger: Wenn die Leute perspektivisch immer älter werden, kann man | |
auch über eine Änderung des Renteneintrittsalters sprechen. Das könnte die | |
Finanzierung eines anständigen Sicherungsniveaus erleichtern. An der | |
aktuellen Debatte ärgert mich aber maßlos, dass die Dinge | |
durcheinandergeworfen werden. Natürlich sollte man unaufgeregt und | |
gründlich über intelligente Reformen bei der Rente, der Kranken- und | |
Pflegeversicherung oder beim Bürgergeld reden. Stattdessen wird Panik | |
verbreitet und der Sozialstaat verantwortlich für die Wirtschaftskrise und | |
die Löcher im Bundeshaushalt gemacht. Das ist Unsinn. | |
taz: Wenn der Laden nicht läuft, viele Firmen weniger verdienen als vorher | |
und dem Bundesfinanzminister Steuereinnahmen fehlen, fällt aber besonders | |
auf, dass alleine die Rente 140 Milliarden Euro pro Jahr aus dem | |
[2][Haushalt] kostet, also knapp 30 Prozent des Etats. | |
Truger: Die Zahlen bestreite ich nicht. Aber was folgt daraus? Jedenfalls | |
nicht, dass der Sozialstaat für die Lücken im Haushalt verantwortlich ist. | |
Die Finanzprobleme ergeben sich vor allem aus höheren Zinsausgaben. Die | |
sind aber Ergebnis höherer Schulden zur Bekämpfung vergangener Krisen und | |
neuer Herausforderungen. Denken Sie an die Maßnahmen gegen die | |
Coronapandemie, gegen die Energiekrise nach dem russischen Angriff auf die | |
Ukraine, jetzt das Aufholen der Versäumnisse bei unserer maroden | |
Infrastruktur und der Bundeswehr. Ich wünsche mir eine Ursachenanalyse. | |
Sich einfach den größten Posten im Haushalt vornehmen und die Keule | |
rausholen – das geht doch nicht. | |
taz: Es fällt einfach auf, dass nicht alles gleichzeitig zu finanzieren | |
ist. [3][Und wenn die Wirtschaft stottert], ist es normal, dass | |
Konservative und Wirtschaftsliberale den Sozialstaat eindämmen wollen. Fast | |
ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts wird für Sozialleistungen | |
aufgewendet, Tendenz steigend. Ist das nicht bedenklich? | |
Truger: Wenn das Bruttoinlandsprodukt stagniert und beispielsweise mehr | |
Leute arbeitslos werden, ist es kein Wunder, dass im Verhältnis dazu die | |
Ausgaben für Sozialleistungen wachsen. Denn das ist die Aufgabe des | |
Sozialstaates: die Beschäftigten und Privathaushalte gegen die Krise | |
abzusichern. Wofür haben wir ihn sonst? Der Sozialstaat ist ein | |
Schutzfaktor, kein Krisenfaktor. | |
taz: Wäre es denn nun eine intelligente Reform bei der Rente, eine | |
Differenzierung der Lebensarbeitszeit einzuführen? Leute mit körperlich | |
harten Jobs arbeiten weniger Jahre bis zum vollen Rentenanspruch, | |
Beschäftigte mit Schreibtischtätigkeiten länger. Das könnte die Ausgaben | |
der Rentenversicherung verringern und potenziell die Beiträge der | |
Arbeitenden und Firmen entlasten. | |
Truger: Ich bin skeptisch, wie man die Tätigkeiten voneinander abgrenzt. | |
Auch Schreibtischberufe können körperlich anstrengend sein, Angestellte | |
klagen über zunehmenden Stress. Manche Leute arbeiten erst in der | |
Fertigung, später in der Verwaltung. Wie legt man die Anteile im Lebenslauf | |
für die Berechnung der Lebensarbeitszeit fest? Das ist nicht die richtige | |
Debatte in der momentanen Krise. Sowieso steigt doch die Lebensarbeitszeit | |
an. Die 67 Jahre für alle werden erst 2031 erreicht. | |
taz: Was wäre denn die richtige Debatte? Aktuell vorgeschlagen wird | |
beispielsweise auch, [4][dass man das erste Jahr der Pflegebedürftigkeit | |
selbst bezahlt] oder der Anspruch auf Bürgergeld sinkt, wenn man Termine | |
beim Jobcenter versäumt. | |
Truger: Der Pflege-Vorschlag ist Aktionismus, nicht durchdacht, aus der | |
Hüfte geschossen. Viele Bürgerinnen und Bürger haben gar kein Geld, das | |
eine Jahr zu bezahlen, weil die Versorgung Zehntausende Euro kosten kann. | |
Ich bin dafür, die beschlossenen Kommissionen ein paar Monate arbeiten zu | |
lassen und sich dann auf vernünftige Maßnahmen zu einigen. Für das | |
Bürgergeld haben wir als Sachverständigenrat für Wirtschaft mal dies | |
vorgeschlagen: Der Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen, steigt, wenn der | |
zusätzliche Lohn weniger stark mit dem Bürgergeld verrechnet wird, die | |
Arbeitenden also ein besseres Einkommen erzielen. Das kostet den Staat am | |
Ende nichts, weil die Menschen mehr arbeiten und die Armutsquote sinkt. Das | |
wäre eine konstruktive, schöne Reform, bei der nicht die ärmsten Leute die | |
Zeche zahlen. Es ist auch nichts dagegen einzuwenden, die Schwarzarbeit | |
besser zu bekämpfen – und vor allem die Steuerhinterziehung. | |
taz: Die schwarz-rote Koalition muss Kompromisse schließen. | |
CDU-Haushaltspolitiker Andreas Mattfeldt hat nun vorgeschlagen: Die Union | |
bekommt gewisse Einsparungen bei den Sozialausgaben, im Gegenzug akzeptiert | |
sie den SPD-Wunsch für höhere Einkommen- oder Kapitalsteuern, um den | |
Haushalt zu finanzieren. Was halten Sie davon? | |
Truger: Das klingt zumindest nach einem versöhnlichen Ansatz, wie die | |
Parteien der Regierung miteinander umgehen sollten. | |
taz: „Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir | |
volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar“, sagt CDU-Kanzler | |
Friedrich Merz. Dieser Satz lässt sich auch so lesen, dass die Betonung auf | |
der Belebung der Wirtschaft liegt. | |
Truger: Da passiert schon einiges. Das Sondervermögen für Infrastruktur | |
sowie die Steuerabschreibungen bei Investitionen unterstützen die | |
Unternehmen. Bis sich die Wirkungen zeigen, dauert es aber noch etwas. | |
Nächstes Jahr sieht es hoffentlich besser aus. | |
taz: Die Unternehmen müssen mehr attraktive Produkte herstellen, den | |
technischen Fortschritt beschleunigen, die Produktivität steigern, aus der | |
wir unseren Wohlstand generieren. Wie macht man das? | |
Truger: Wenn die Betriebe dank der neuen Abschreibungen ihre Maschinen und | |
Ausstattung erneuern, werden sie produktiver. Der Staat sollte außerdem | |
mehr für Forschung, Bildung und gute Kinderbetreuung ausgeben. Das erhöht | |
perspektivisch auch die Produktivität. Mit Kürzungen bekommt man es aber | |
nicht hin. | |
taz: In den nächsten 20 Jahren könnten die Staatsfinanzen unter enormen | |
Stress geraten. So hohe Schulden wie momentan aufzunehmen, funktioniert | |
nicht ewig. Irgendwann muss man die horrenden Militärausgaben von 150 | |
Milliarden Euro jährlich aus Einnahmen finanzieren. Wie kann das klappen? | |
Truger: Das geht nur solidarisch, indem die Steuerlast für hohe Einkommen | |
und Vermögen steigt. Aber auch teure Subventionen wie das Dieselprivileg | |
müssen dann weg. | |
28 Aug 2025 | |
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Hannes Koch | |
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