# taz.de -- Verkehrswende in Paris: Reise nach Utopia | |
> Ein Besuch der Grünen in Paris zeigt: Der Stadtumbau ist machbar, wenn | |
> man denn nur will. Berlin könnte viel von der französischen Hauptstadt | |
> lernen. | |
Bild: Auf dem Weg zur Fahrradstadt | |
Paris taz | [1][Antje Kapek] sitzt am Ufer, freut sich und ist zugleich ein | |
bisschen angefressen: „Hier geht’s und in Berlin wird es seit Jahren mit | |
allen möglichen Argumenten verhindert.“ Sie meint die vielen fröhlichen | |
Menschen, die ein paar Meter weiter [2][in der Seine schwimmen], mitten in | |
Paris, nur einen Fußmarsch von Notre-Dame entfernt. | |
Die „Baignade Bras-Marie“ ist eines von drei Pop-up-Flussbädern, die die | |
Stadt ihren BewohnerInnen in diesem Sommer geschenkt hat – nachdem sie | |
vergangenes Jahr die Wasserqualität des Flusses für die Olympischen Spiele | |
mit Mühe auf ein vertretbares Niveau gebracht hatte. | |
Um Fortbewegung im Wasser geht es der grünen Berliner Abgeordneten aber | |
eigentlich nicht bei ihrem Besuch der Partnerstadt, vielmehr um die auf den | |
Straßen. Mit ihrer Kollegin Oda Hassepaß und einigen MitarbeiterInnen ist | |
sie für drei Tage hergekommen, um sich ein Bild von der [3][Mobilitätswende | |
à la française] zu machen. | |
Paris wird in Berlin seit Jahren als strahlendes Vorbild und Gegenentwurf | |
zum stockenden Stadtumbau an der Spree hochgehalten, auch von den beiden | |
verkehrspolitischen Sprecherinnen der Grünenfraktion. Jetzt wollen sie sich | |
das einmal mit eigenen Augen ansehen – und verstehen, warum auch | |
anscheinend hier geht, was Berlin nicht so recht hinkriegt. | |
## So wenig Autos | |
Schon der erste Spaziergang durchs Marais, das alte Viertel am rechten | |
Seineufer, lässt die Berliner Delegation ins Schwärmen geraten: So wenig | |
Autos, so viele FußgängerInnen, so viele Fahrräder! Auf der Rue Rivoli, wo | |
sich noch vor wenigen Jahren das Blech vom Hôtel de Ville bis zu den | |
Tuilerien staute, ist nur noch eine Spur für Kraftfahrzeuge übrig. Daneben, | |
mit Granitschwellen und Pollern abgegrenzt, verlaufen breite Radspuren in | |
beide Richtungen, die auch gut genutzt werden. | |
Besonders freuen sich die BesucherInnen, als sie ein Lastenrad entdecken, | |
das drei „Vélibs“ transportiert. Die graugrünen Leihräder, mechanische u… | |
elektrische, sind allgegenwärtig, überall gibt es Stationen, an denen | |
manchmal mehrere Dutzend angedockt auf die nächste Fahrt warten. | |
In Berlin hat die Senatsverkehrsverwaltung gerade die Förderung für das | |
Leihradsystem der Firma [4][Nextbike auslaufen lassen]. Die vergleichsweise | |
wenigen festen Stationen werden gerade abgeschraubt und werden in vielen | |
Fällen wieder Parkplätzen für Autos weichen. Auch sonst hat die CDU es nach | |
zwei Jahren in der Landesregierung geschafft, die vorsichtige | |
Aufbruchstimmung der grünen Verkehrspolitik seit 2016 wieder abzuwürgen. | |
Gelder werden gekürzt, Projekte gestoppt, [5][Geschwindigkeitsbegrenzungen | |
wieder aufgehoben]. | |
In Paris dagegen scheint es akzeptierte Normalität zu sein, dass seit 2021 | |
überall mit wenigen Ausnahmen Tempo 30 gilt – wobei dieses Stadtgebiet nur | |
der Fläche innerhalb der Berliner Ringbahn entspricht, aber ungleich | |
dichter besiedelt ist. Begrenzt wird es von der Stadtautobahn périphérique, | |
auf der seit letztem Herbst Tempo 50 herrscht. | |
## Die Skepsis weicht | |
Köpfe sind deshalb trotz aller französischen Revolutionsliebe noch nicht | |
gerollt. Wobei die Frau, die hinter all diesen Maßnahmen steht, die | |
sozialistische Bürgermeisterin Anne Hidalgo, bei den Kommunalwahlen im März | |
2026 nicht mehr antritt. Und der Kandidat ihrer Partei, Emmanuel Grégoire | |
liegt in aktuellen Umfragen nur auf Platz zwei, weit hinter seiner | |
konservativen Konkurrentin, der französischen Kulturministerin Rachida | |
Dati. | |
Knapp hinter Grégoire sieht die Meinungsforschung den Grünen David | |
Belliard, Hidalgos Stellvertreter und zuständig für | |
Verkehrsangelegenheiten. | |
Kapek und Hassepaß treffen ihn an einem symbolischen Ort: in einer der | |
schon fast 300 Pariser Schulstraßen. In der Rue Charles Baudelaire im 12. | |
Arrondissement (Stadtbezirk) parkt der schlanke Mann mit dem kurz | |
getrimmten Vollbart sein E-Bike vor der école maternelle, einem staatlichen | |
Kindergarten und weist die BesucherInnen gleich stolz auf die Obstbäume | |
hin, die die Stadt hier gepflanzt hat. Sie sorgen für frisches Grün und ein | |
paar Früchte, während auf beiden Seiten des Straßenabschnitts simple | |
Schranken den motorisierten Verkehr draußen halten. Nur Müllabfuhr oder | |
Feuerwehr dürfen sie öffnen. | |
„Als wir diese Straße vor vier Jahren als eine der ersten umgestaltet | |
haben, gab es noch viel Skepsis“, sagt Belliard. „Heute ist das alles viel | |
leichter geworden. Wenn mich Leute sehen, fragen sie: Wann macht ihr das | |
endlich auch vor der Schule meiner Kinder?“ Dabei habe anfangs gar nicht | |
das Sicherheitsargument die Hauptrolle gespielt, sondern die heftige | |
Luftverschmutzung. An manchen Tagen hätten die Kinder in den Pausen nicht | |
zum Spielen das Gebäude verlassen dürfen. Dass die Pariser Luft | |
mittlerweile deutlich besser geworden ist, wie alle Messungen zeigen, | |
dürfte freilich an der Summe aller Maßnahmen in der Stadt liegen, nicht nur | |
an der Verkehrsberuhigung im direkten Umfeld. | |
## Viel Geld hilft viel – und Personal | |
Belliard spricht über den „Plan Vélo 2“ für den Ausbau der | |
Fahrradinfrastruktur in Anne Hidalgos laufender zweiter Amtszeit: Ein Paket | |
von 250 Millionen Euro, nach dem 150 Millionen umfassenden ersten Programm | |
in den Jahren von 2015 bis 2020. Zahlen, die so manchen BerlinerInnen | |
Tränen in die Augen treiben dürften. | |
Aber Geld sei ja eigentlich auch in der deutschen Hauptstadt genug da, | |
wirft Antje Kapek ein und erwähnt die [6][„Tangentialverbindung Ost“], die | |
Straße zwischen Marzahn und der Wuhlheide, die der Senat sich mehrere | |
Hundert Millionen Euro kosten lassen will. Und Oda Hassepaß gibt zu | |
bedenken, dass die Folgen eines ungebremsten Klimawandels am Ende noch viel | |
teurer würden: „Wir haben doch gar keine Alternative.“ | |
Dann aber können die beiden nur staunend zur Kenntnis nehmen, was der | |
stellvertretende Bürgermeister noch über das Pariser Erfolgsrezept sagt: | |
„Wir haben eine personell sehr gut ausgestattete Stadtverwaltung, von deren | |
Effizienz ich selbst immer wieder überrascht bin.“ Von der Planung bis zur | |
Ausführung könne diese vieles ganz ohne Ausschreibungen durchführen. Sogar | |
die benötigten StadtplanerInnen bilde man in Eigenregie aus. Fazit: „Wenn | |
wir beschließen, eine Straße umzubauen, ist das zwei Jahre später | |
erledigt.“ | |
## Gelebte Beteiligung | |
Bei einem weiteren Ortstermin, diesmal im 11. Arrondissement, verstärkt | |
sich der Eindruck, dass Geld und Personal tatsächlich nicht die | |
drängendsten Probleme in Paris sind. Andoni Briones und Justine Le vom | |
Programm „Embellir votre quartier“ (frei übersetzt: „Unser Viertel soll | |
schöner werden“) führen die Gruppe durch die schmalen Straßen im Pariser | |
Osten und zeigen, wie diese an strategischen Stelle lebenswerter gestaltet | |
werden. Das Programm startete 2021, damals wurden in der gesamten Stadt | |
rund 40 Quartiere identifiziert. Es folgten Beteiligungsformate, bei denen | |
die Verbesserungswünsche der BewohnerInnen ermittelt wurden. | |
„Die Leute sagen uns: Hier wollen wir mehr Bäume, hier ist es zu eng für | |
jemanden im Rollstuhl, hier ist es zu laut“, so Briones, „sie sind die | |
eigentlichen Experten für den Stadtraum. Dass sie sagen, sie wollten alles | |
so lassen, wie es ist, kommt ziemlich selten vor.“ Bis zu 7 Millionen Euro | |
pro Quartier können die PlanerInnen ausgeben. Zwei der vier Quartiere im | |
11. Arrondissement haben Briones, Le und ihre KollegInnen schon | |
abgearbeitet, der Dritte ist in Arbeit, für den Vierten reicht die Zeit vor | |
der Wahl nicht mehr aus, und das Team will nichts anfangen, was eine | |
mögliche konservative Stadtverwaltung vielleicht nicht weiterfinanziert. | |
Die Gruppe versammelt sich auf der Place Marek Edelman, ursprünglich nur | |
das Teilstück einer Nebenstraße vor der Einmündung in den Boulevard de | |
Belleville. Jetzt ist es zu einer kleinen Fußverkehrsoase geworden.Neben | |
Büschen gibt es statt parkenden und fahrenden Autos mehr Platz für die | |
Tische eines Cafés und ein paar Open-Air-Fitnessgeräte. | |
Ein paar Ecken weiter erklärt Justine Le, dass die auf früheren Parkplätzen | |
am Straßenrand angelegten und mit Büschen, Stauden und Gräsern dicht | |
bepflanzten Grünflächen über eine automatische Bewässerung verfügen. Das | |
verhindere, dass die Pflanzen schnell vertrocknen und unansehnlich werden | |
und die Miniparks bald als Müllhalde missbraucht werden, sagt sie. | |
## Heilige Kuh Auto | |
In Berlin wäre es weniger einfach, so viele Parkplätze wegzunehmen, merkt | |
Antje Kapek an: „Bei uns sind Autos heilig.“ Das sei in Frankreich gar | |
nicht so anders, erwidert Briones. | |
Andererseits: Zwei Drittel der Pariser Haushalte hätten kein eigenes Auto, | |
schließlich sei der öffentliche Nahverkehr sehr dicht ausgebaut. Wer nicht | |
aufs Auto verzichten könne oder wolle, habe aber immer die Möglichkeit, | |
einen privaten Stellplatz zu mieten. In den Parkhäusern und Garagen gebe es | |
genug Platz, die Zahlen lägen vor. Was die Begrenzung des | |
Durchgangsverkehrs angehe, setzt das Programm übrigens weniger auf Poller | |
oder Schranken, sondern auf Einbahnstraßen oder Schilder. | |
Ist Paris tatsächlich das Utopia der Verkehrswende, die große Blaupause für | |
Berlin? So einfach ist es nicht. Das fängt beim ÖPNV an, der trotz vieler | |
neuer Elektrobusse und einiger frisch eingeweihter Tramlinien vom riesigen | |
Netz der Métro dominiert wird. Das unterirdische Labyrinth ist alles andere | |
als barrierefrei: Ganze 90 Prozent aller Bahnsteige sind nur über Treppen | |
zu erreichen, ein Umbau ist in vielen Fällen selbst mittelfristig kaum | |
vorstellbar. Fahrräder dürfen übrigens auch nicht mitgenommen werden. | |
Über der Erde ist das Fahrradnetz zwar in den vergangenen Jahren beachtlich | |
gewachsen, und auf vielen größeren Straßen rollt es sich bequem und mit | |
sicherer Trennung vom Kfz-Verkehr. Allein durch die Verstetigung von | |
Pop-up-Radwegen – in Frankreich coronapistes genannt – kamen in den | |
vergangenen Jahren 45 Kilometer neu hinzu. Aber schon in der nächsten | |
Straße können Radspuren plötzlich im Nichts enden oder werden | |
handtuchschmal. Die Platzierung der Fahrradsymbole auf dem Asphalt wirkt | |
manchmal fast improvisiert. Berliner RadaktivistInnen, die schon mal mit | |
dem Maßband die Vorgaben des Mobilitätsgesetzes überprüfen, bekämen hier | |
zuverlässig Herzrasen. | |
Auch der Zustand der knapp 20.000 Vélib-Leihräder ist beklagenswert. Die | |
große Zahl relativiert sich schnell, wenn man merkt, wie viele von ihnen | |
kaum oder gar nicht nutzbar sind. Die E-Bikes sind oft entladen und lassen | |
sich nicht aus den Docks herauslösen, es gibt platte Reifen, Tretlager | |
knacken erbärmlich, manchmal bricht auch einfach beim Anfahren eine Pedale | |
ab. | |
## Krise bei Vélib | |
Nach Einschätzung von Corentin Roudaut, Aktivist der Organisation „Paris en | |
selle“ (Paris auf dem Sattel) ist die Betreiberfirma nicht in der Lage, das | |
System mit der Fördersumme der Stadt und den politisch vorgegebenen | |
günstigen Leihtarifen wirtschaftlich zu betreiben. Es sei auch nicht die | |
erste Krise von Vélib, seit es 2007 unter Anne Hidalgos Vorgänger Bertrand | |
Delanoë eingeführt wurde, so Roudaut. | |
Für ihn war es im Übrigen „die Bürgermeisterin, die den Unterschied gemacht | |
hat“. Auch in Paris gab es seit Jahrzehnten Fahrradaktivismus, Hidalgo aber | |
habe eben politisch massiv in den Stadtumbau investiert. Dabei sei sie aber | |
auch von Zufallsfaktoren getragen worden: Schon vor der Coronapandemie | |
hätten massive Eisenbahn- und Generalstreiks in den Jahren 2018 und 2019 | |
für eine plötzliche Zweiradrenaissance gesorgt. | |
Für Antje Kapek und Oda Hassepaß geht es dennoch mit der Überzeugung zurück | |
nach Berlin, dass ein Vergleich der beiden Metropolen keiner zwischen | |
Äpfeln und Birnen sei, wie die CDU immer behaupte. Sie werden künftig wohl | |
öfter im Abgeordnetenhaus auf ihre Pariser Beobachtungen verweisen. | |
Für den begleitenden taz-Journalisten ist übrigens noch etwas anderes | |
hängengeblieben: In Paris herrscht ein spürbar anderer Esprit, eine gewisse | |
Entspanntheit im Verkehr, die auch den BerlinerInnen guttäte. Gerast, | |
gehupt, gedrängelt und geschimpft wird offenbar deutlich weniger als bei | |
uns. Vielleicht ist es schon ein Erfolg der Verkehrsberuhigung, vielleicht | |
ist es das Mehr an Savoir-vivre. Oder lag es einfach nur an den | |
Sommerferien, in denen sich die halbe Stadt ans Meer verabschiedet? | |
23 Jul 2025 | |
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