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# taz.de -- Verkehrswende: Auf den Straßen von Paris
> Frankreichs Hauptstadt will weg vom Auto und gilt weltweit als Vorbild
> für ambitionierte Verkehrspolitik. Klappt das? Rauf aufs Rad, ab durch
> Paris.
Bild: Radfahrer*innen an der Seine in Paris
Die Pariser:innen sind stolz auf ihre Fahrradwege. Risse bekam diese
Liebe, [1][als Paul Varry starb]. Mitte Oktober ignorierte ein SUV-Fahrer
laut Augenzeug:innenberichten mehrere rote Ampeln und fuhr mit seinem
Fahrzeug auf einer Radspur. Nachdem er auf dem Fuß eines Radfahrers zum
Stehen gekommen war, stellte dieser ihn zur Rede. Es kam zum Streit, und
der Autofahrer überfuhr den 27-jährigen Varry.
Schock und Wut waren groß. Die Aktivist:innen von Paris en Selle
(„Paris im Sattel“), mit denen auch Paul Varry für bessere Radwege gekämp…
hatte, waren nicht überrascht: „Wer täglich mit dem Rad unterwegs ist, wird
früher oder später angegriffen“, sagt Corentin Roudaut, Sprecher der
Organisation.
Zum Image der Stadt passt das nicht. Schon seit Mitte der 1990er Jahre
steht das Fahrrad in Paris immer stärker im Mittelpunkt der
Verkehrspolitik. Vor allem die [2][amtierende linke Bürgermeisterin Anne
Hidalgo] hat die französische Hauptstadt weltweit zu einem Vorbild für die
Abkehr vom Auto gemacht. In den sozialen Medien gehen regelmäßig Videos von
quirligen Fahrradstraßen viral. Legten die Pariser:innen im Jahr 2010
noch drei Prozent ihrer Strecken mit dem Fahrrad zurück, sind es
mittlerweile über elf Prozent.
Wie hat diese Entwicklung Paris verändert? Und wo stößt sie noch an ihre
Grenzen? Das lässt sich erfahren, wenn man hier in die Pedale tritt.
## Station 1: Louvre
Wir starten im Zentrum der Stadt, wo sich die Tourist:innen tummeln. Die
Rue de Rivoli verläuft knapp zweihundert Meter nördlich der Seine, sie
verbindet den Place de la Concorde mit dem Louvre und dem Rathaus. Im Mai
2020 nahm Bürgermeisterin Hidalgo die Coronapandemie zum Anlass, den
Autoverkehr auf der bekannten Straße hart einzuschränken.
„Paris ist wirklich ein leuchtendes Beispiel für politischen Willen“,
schwärmt der kanadisch-dänische Stadtplaner und Radverkehrexperte Mikael
Colville-Andersen. Paris ist seine zweite Heimat. „Diese Entschlossenheit
kann man nicht lernen“, sagt er, „Man muss die richtigen Leute wählen.“
Hidalgo habe mit diesem Vorstoß im Herzen der Stadt das Signal gesetzt,
dass sie es mit dem Umbau ernst meint. „Das Projekt hat Symbolkraft“, sagt
auch Corentin Roudaut von Paris en Selle.
Die während der Pandemie getroffene Entscheidung war kein Einzelfall. Bis
zum Ende des ersten Lockdowns errichtete die Stadt 52 Kilometer an
Pop-up-Radwegen, die bis 2026 allesamt durch Umbaumaßnahmen dauerhaft
installiert werden sollen. Zeitgleich schoss die Anzahl der
Radfahrer:innen in die Höhe: Allein auf der Rue de Rivoli rollten 2021
[3][nach offiziellen Zählungen] mehr als 4,1 Millionen Räder über die
großzügig angelegten Spuren. Busse, Lieferwagen und Taxis fahren meist im
Schritttempo neben ihnen her.
## Station 2: Boulevard de Sébastopol
Von der Rue de Rivoli gelangt man per Handzeichen auf den Boulevard de
Sébastopol. Hier ist es mit der entspannten Sightseeingtour allerdings
schon wieder vorbei. Auf der meistbefahrenen Fahrradstraße der Stadt
drängen sich täglich rund 14.000 Räder. An einem besonders verkehrsreichen
Tag im Herbst 2022 waren es sogar doppelt so viele. Für sie gibt es neben
den Autospuren aber häufig nur gerade so viel Platz, dass zwei Lastenräder
einander nicht streifen; Parkbuchten bremsen die Fahrt, abbiegende Autos
machen sie gefährlich.
Die Behörden hatten die Pariser Begeisterung für das Fahrrad wohl zunächst
unterschätzt. Auf die derzeitige Menge an Radfahrer:innen ist die Route
schlichtweg nicht ausgelegt. Erst 2019 wurde der Radweg auf dem Boulevard
eröffnet, schon kurz darauf war klar, dass die aufwändig installierte
Infrastruktur erweitert werden muss.
Für Mikael Colville-Andersen steht diese Entwicklung für ein größeres
Problem: „Die Verantwortlichen in Paris versuchen, das Rad in die
bestehende Infrastruktur zu quetschen, statt die Straße wieder zu
demokratisieren.“ Die Stadt plane jede Straße einzeln, die
unterschiedlichen Konzepte führten zu Verwirrung. Seiner Meinung nach
sollten Planer:innen auf Ideen zurückgreifen, die anderswo bereits
mühsam perfektioniert wurden – wie [4][zum Beisiel in Kopenhagen].
Verkehrsplanungen wie in der dänischen Hauptstadt seien „ein Geschenk, weil
andere das schon vor über hundert Jahren erfolgreich umgesetzt haben“, sagt
Colville-Andersen. „Eigentlich muss man das nur noch kopieren.“
## Station 3: Ecole élémentaire Saint-Jacques
Nun wechseln wir die Flussseite. Nur ein paar Blocks südlich der Seine
liegt die Grundschule Saint-Jacques in einer grünen, verkehrsberuhigten
Straße. Wer es beschaulich haben möchte, der sollte in Paris nach
Kindergärten und Grundschulen Ausschau halten. In der ganzen Stadt ähneln
die Straßen vor Bildungseinrichtungen inzwischen kleinen Parks. [5][Die
„rues aux enfants“] (Straßen für Kinder) sollen nicht nur den Schulweg
sicherer machen – sie sind auch ein Autoverbot durch die Hintertür. Vor
etwa der Hälfte aller Kindergärten und Schulen in der Stadt dürfen Autos
nur eingeschränkt oder überhaupt nicht mehr fahren. Rund ein Drittel
solcher Straßen haben die Bezirke etwa durch Blumenbeete oder Steinbänke
komplett umgebaut.
Um diese Entwicklung zu feiern, veranstaltete Paris Ende September das
erste „Straßenfest für Kinder“. Überall in der Stadt konnten Kinder einen
Samstag lang lernen, wie man Pflanzen umtopft, Karaoke singen oder sich die
Gesichter bemalen lassen. Die „rues aux enfants“ sind ein Erfolg, bis 2026
sollen noch einmal mehrere Dutzend hinzukommen. Das Beispiel zeigt, dass
die Abkehr vom Auto am besten dort funktioniert, wo Menschen den Effekt
täglich erleben, wie auf dem Schulweg. Und wo die Folgen am wichtigsten
sind.
## Station 4: Boulevard Saint-Germain
Wir biegen ab und gelangen auf den Boulevard Saint-Germain. Hier geht es
wieder hektisch zu. Zweispurig in beiden Richtungen fahren Autos vorbei am
weltberühmten Literaturcafé Les Deux Magots. Platz für einen Fahrradweg
wurde hier nicht geschaffen, stattdessen teilen sich die
Radfahrer:innen eine Spur mit immer wieder haltenden Bussen, Taxis oder
der Müllabfuhr. Darauf vertrauen, dass die beim Abbiegen Rücksicht nehmen?
Lieber nicht.
„Wir sind noch nicht so weit, dass sich jeder auf dem Fahrrad sicher fühlen
kann“, sagt auch Corentin Roudaut. Die Forderung von Paris en Selle sei
daher: „Wir wollen unbedingt, dass alle Verkehrsteilnehmer voneinander
getrennt werden.“ Ziel müsse sein, die Stadt auf das Niveau von Kopenhagen
zu bringen. Am Willen von Bürgermeisterin Hidalgo zweifelt Roudaut dabei
nicht. Es seien die Verwaltungen einiger Pariser Arrondissements, der
Stadtbezirke, die auf der Bremse stünden. Sie sind für die Umsetzung
zuständig – und hinken laut einer Untersuchung von Paris en Selle dem
aktuellen Fahrradplan der Hauptstadt hinterher. Nur rund ein Drittel aller
geplanten Projekte seien, Stand August 2024, erfolgreich umgesetzt worden.
Und die Zeit, in der Anne Hidalgo Druck machen kann, läuft bald ab: Gerade
erst hat die 65-Jährige angekündigt, bei der Kommunalwahl 2026 nicht erneut
zu kandidieren.
## Station 5: Gare de Port-Royal
Nun geht es Richtung Süden. Auch die Strecke von der Seine zum Bahnhof
Port-Royal können Radler:innen neuerdings vom Autoverkehr getrennt
fahren – dank der Olympischen Spiele in diesem Sommer. Um die
Austragungsorte besser miteinander zu verbinden, hat Paris sein Fahrradnetz
um 70 Kilometer ausgebaut; weitere 35 Kilometer kamen in den Vororten von
Seine-Saint-Denis hinzu.
Damit [6][wurde Olympia zum zweiten Treiber der Fahrradwende] nach der
Pandemie. Und zu einem Lehrstück dafür, wie sich Großereignisse nachhaltig
für eine gute Stadtplanung nutzen lassen. Die neuen Radwege sind unter
anderem dazu gedacht, Lücken in der bestehenden Infrastruktur schließen.
Hier hat das geklappt: Wir radeln sicher am Jardin de Luxembourg vorbei und
genießen linker Hand den Blick auf das Panthéon. Und weil es so schön ist,
machen wir am Bahnhof kehrt und fahren zurück nach Norden, nun mit Blick
auf die Stadt. Wer Lust auf noch mehr hat, lässt sich den Berg hinunter zur
Kathedrale Notre-Dame rollen.
An dieser Stelle wirkt das Radwegenetz der Stadt außerhalb der Stoßzeiten
fast überdimensioniert, die Fahrradspuren sind mitunter regelrecht leer.
Roudaut sieht darin kein Problem: „Wer Radwege plant, sollte sich nicht zu
sehr einschränken. Man muss groß denken! Denn man glaubt gar nicht, wie
viele Menschen umsteigen, sobald man erst mal ein gutes Radnetz in der
Stadt hat.“
19 Apr 2025
## LINKS
[1] /Proteste-in-Frankreich/!6041540
[2] /Anne-Hidalgo-und-die-Fahrradstadt-Paris/!vn5826592/
[3] https://www.paris.fr/pages/les-pistes-cyclables-provisoires-vont-devenir-pe…
[4] /Stadtplanung-fuer-die-Zukunft/!5921081
[5] https://www.ruedelavenir.com/actualites/rues-aux-enfants-appel-regional-a-i…
[6] /Radeln-in-der-Olympiastadt/!6025074
## AUTOREN
Nick Heubeck
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