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# taz.de -- Radtour für die Verkehrswende: Fahrraddemo durch den Osten
> In zwei Wochen von Eisenach nach Berlin auf der „Tour de Verkehrswende“
> der NGO „Changing Cities“. Unser Autor ist vier Tage mitgeradelt.
Bild: Demonstration von „Changing Cities“, „Respect Cyclists“ und dem A…
Erfurt taz | Der Mann mit der empörten Stimme hat sich kürzlich ein Pedelec
gekauft und kündigt nunmehr ein Leben als „Kampfrentner für die
Verkehrswende“ an. Er berichtet von absurden Einseitigkeiten in der
Infrastrukturförderung durch den Bund rund um seine Heimatstadt Erfurt:
Autobahnen ausbauen immer wieder, aber der dringend notwendige
Lückenschluss im Schienennetz „noch aus der Zeit vor der Wende“ werde trotz
aller Appelle seit über 30 Jahren nicht angepackt.
Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) tauche ab, schimpft er, wodurch
allein 300 Lkw einer großen Holzfirma täglich nach Tschechien pendeln
müssten. „Die Firma will auf die Schiene, sie hat Züge mit modernster
Technik, aber es fehlt an einem kleinen Stück Gleis.“ Ganze drei Kilometer
seien es. „So kann man doch mit der Welt nicht umgehen. Ich weiß gar nicht,
wo ich mich überall hinkleben müsste.“
Der polternde Alte heißt [1][Bodo Ramelow, 68, und ist Ministerpräsident
von Thüringen]. Er begrüßt an diesem Tag vor Erfurts Rathaus die
RadlerInnengruppe von „Tour de Verkehrswende“. Fast eine Stunde nimmt er
sich Zeit zum Austausch, trotz Wahlkampf und ohne sonstige Presse.
Organisatorin der Tour ist die [2][Verkehrs-NGO Changing Cities] aus
Berlin, Selbstverständnis: „Wir sind eine bunte und laute Bewegung für
lebenswerte Städte.“ Wir radeln von Eisenach über Jena Richtung Chemnitz,
Dresden und Cottbus nach Berlin. 35 Leute sind angemeldet zur
„Fahrgemeinschaft für die Zukunft“ (30 Euro/Tag inkl. Zeltplatz und vegane
Verpflegung).
Mit den OrtsfahrerInnen für eine Etappe sind an die 50 Leute pro Tag
unterwegs. Ziel: Interesse wecken für eine gleichberechtigte Infrastruktur,
mehr sichere Radwege, einen besseren ÖPNV, dazu ausdrücklich die Vernetzung
mit lokalen Initiativen.
## Politische Tour de France
Die Tour gilt als Demonstration, weshalb uns die Polizei begleitet. Zwei
Wochen zieht die Pedalenkarawane durchs Land. Der jüngste Teilnehmer Jamino
ist 10, ansonsten sind alle Alter von 18 bis 71 dabei, Kathrin im Rollstuhl
mit ihrem flotten Handbike oft vorneweg. Außer ihr haben nur drei andere
einen Pedelec-Motor. Inge, Grundschullehrerin für Humanistische Lebenskunde
in Berlin, lässt auf ihrer orangenen Warnweste lesen: „Nicht hupen. Suche
sicheren Radweg.“ Sie lacht über die Formulierung „Politische Tour de
France“, von der die Freie Presse aus Chemnitz zur Begrüßung geschrieben
hatte.
Gestartet waren wir von der Zeltwiese des Gemeindehauses Johanniskirche in
Eisenach, Postadresse: Am Gebräun. Woher der Name kommt, der so sehr zur
nahen Wahl in Thüringen passen will, konnten weder Einheimische erklären
noch eine befragte KI.
Auch CDU-Oberbürgermeister Christoph Ihling, der uns am Morgen vor dem
Rathaus mit nichtssagenden warmen Worten empfangen hatte, muss passen.
„Eisenach ist Autostadt!“ hatte vor Jahren sein SPD-Amtsvorgänger
postuliert, auch wenn der letzte Wartburg 1991 hier vom Band rollte. Es
gibt nur wenige Radwegpuzzlestücke, zudem oft in üblem Zustand. Genau 300
Meter Fahrradstraße hat Eisenach.
Während der Verkehrswendetour vollführen wir immer mal wieder die eigene
Verkehrswende. So heißt das kurze Einbiegen in einen Feldweg, um die lange
Autoschlange hinter uns verkehrsfreundlich durchzulassen. Dann
180-Grad-Wende, um nach den Blechdosen weiterzufahren. Zum Dank gibt es mal
den Scheibenwischer von hinterm Scheibenwischer, einen Finger oder auch mal
einen dummen Kommentar: „Auf die Radwege mit Euch. Da ist doch ooch
schöner.“
Beim Radfahren erlebt man die Spaltung der Gesellschaft besonders deutlich,
zwischen Asphaltimperialisten und Speichenheinis. Pöbeleien waren indes
Ausnahme. Alle TeilnehmerInnen wunderten sich, wie freundlich und zugewandt
die meisten PassantInnen waren, wie sie Aufmunterndes riefen, zum
Klingelgebimmel lächelten.
Hinter Gotha gibt der einheimische Hartmut beim Pedalentritt den
Fremdenführer: Da links das Napoleonsdenkmal, zeigt er, da hinten der
mächtige Glockenturm auf dem höchsten Berg der Umgebung, dazu historische
Details bei der Ortsdurchfahrt Nohra: „Hier hatte die Rote Armee einen
großen Standort-Flugplatz. Sonntags haben die gelangweilten Piloten die
Bürger stundenlang mit Tiefflügen gut genervt. Und wieder die Schallmauer –
wummms.“ Zum Dank bekommt der keuchende Mann auf seinem betagten Bike
bergauf Schiebehilfe vom Pedelec-Fahrer.
In Jena beglückwünscht uns der lokale ADFC-Aktivist, dass wir die B7
unfallfrei runter in die Stadt geschafft haben. „Aber ihr hattet ja
Polizei. Allein brauchst du da maximale mentale Resilienz.“ In Weimar hatte
Uta Kühne vom mühevollen Radentscheid in ihrer Stadt berichtet. Entgegen
aller Absprachen lehnte ihn der Stadtrat ab. Erst der nachverhandelte
Verzicht auf eine Fahrradstraße (drohender Parkplatzmord!) brachte Anfang
2023 die Zustimmung. Und? „Die Liste ist lang. Umgesetzt bislang: genau gar
nichts.“
Viele Umstehende nicken, man kennt Ähnliches überall. Besonders dummdreist
ist Berlin mit der [3][Verkehrshalse der CDU-Regierung, die Radwege abbauen
lässt]. Das empört Mitorganisatorin Claudia besonders. Sie ist Lok-Fahrerin
bei der S-Bahn und Radaktivistin, also für die Verkehrsvernunft doppelt im
Einsatz. Doppeldeutig sagt sie: „Im Führerstand mache ich alles mit links“
und deutet das Fahren per Handhebel an.
Ankunft in Berlin ist am 30. August, Abschlusskundgebung Invalidenpark um
15 Uhr. Die Tourleitung freut sich über Mitfahrende ab 10 Uhr in
Schöneiche, Start Festplatz Grätzsteig 11.
23 Aug 2024
## LINKS
[1] /Wahlen-in-Thueringen/!6017702
[2] https://changing-cities.org/
[3] /Radinfrastruktur-in-Berlin/!6026735
## AUTOREN
Bernd Müllender
## TAGS
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Ute Bonde
Ute Bonde
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