| # taz.de -- Migrationspolitik in Deutschland: Richtet euch nach Gerichten | |
| > Gerichtsurteile sind keine linke Show, sondern der Beweis eines | |
| > funktionalen Rechtsstaats. Wer das anzweifelt, hilft mit beim Abbau der | |
| > Demokratie. | |
| Bild: Ignorieren europäisches Gesetz: Bundeskanzler Friedrich Merz (r) und Bun… | |
| In seinem Essay „In Front of your Nose“ schreibt George Orwell: „To see | |
| what is in front of one’s nose needs a constant struggle.“ Auf Deutsch: Um | |
| zu verstehen, was sich direkt vor der eigenen Nase abspielt, bedarf es | |
| eines ständigen Kampfes. Man könnte meinen, dass der britische | |
| Schriftsteller diese Worte nicht im Jahr 1946, sondern für die heutige Zeit | |
| geschrieben hätte. | |
| Denn in einer Zeit, in der autoritäre Erzählungen zur vermeintlichen | |
| Normalität gehören sollen, ist es nicht leicht, sich immer wieder die | |
| Realität zu vergegenwärtigen, die sich vor den eigenen Augen abspielt. Es | |
| ist allzu leicht, sich an das Autoritäre zu gewöhnen oder es zu ignorieren. | |
| Am 2. Juni gab die sechste Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts dem | |
| Antrag von drei Personen statt, die im Mai an der deutsch-polnischen Grenze | |
| trotz ihres Asylgesuchs von der Bundespolizei zurückgewiesen worden waren. | |
| Zwei Richterinnen und ein Richter des Berliner Gerichts urteilten, dass die | |
| [1][Bundesrepublik verpflichtet sei, Asylgesuche nach dem sogenannten | |
| Dublin-Verfahren] zu entscheiden. Ohne ein Prüfverfahren sei die | |
| Zurückweisung rechtswidrig. | |
| ## Keine Einzelfallentscheidung | |
| [2][Dieses Urteil] war nun nicht besonders überraschend. Schon seit der | |
| Ankündigung des damaligen Kanzlerkandidaten und heutigen Bundeskanzlers | |
| Friedrich Merz im Januar 2025, seine Regierung werde „ab Tag eins“ | |
| Geflüchtete an den Grenzen zurückweisen, entspricht es „der klar | |
| herrschenden Meinung unter Migrations- und Europarechtlern“, [3][so das | |
| Fachportal Legal Tribune Online], dass dies mit europäischem Recht nicht | |
| vereinbar sei. Es ist keine allzu umstrittene juristische Meinung. | |
| Was dann passierte, war beachtlich: Bundesinnenminister Alexander Dobrindt | |
| (CSU) bestimmte, dass es sich bei dem Gerichtsurteil lediglich um eine | |
| [4][„Einzelfallentscheidung“ im Eilverfahren] handele. Er sehe | |
| dementsprechend keinen Anlass, seine Politik der Zurückweisung an den | |
| Grenzen zu verändern. | |
| Der Bundeskanzler Friedrich Merz erklärte nach der Entscheidung des | |
| Verwaltungsgerichts: „Wir wissen, dass wir nach wie vor Zurückweisungen | |
| vornehmen können.“ Die höchsten Mandatsträger des Landes sagten offen, dass | |
| sie das Gerichtsurteil – über die Fälle der drei Kläger:innen hinaus – | |
| nicht befolgen würden. | |
| ## Rückenwind von Rechts | |
| Die beiden Politiker erhielten, natürlich, Schützenhilfe von autoritären | |
| Akteuren. So schrieb das Portal Nius, dessen Funktion darin besteht, | |
| rechtsextreme Narrative in die demokratische Mitte zu drücken, hinter dem | |
| Gerichtsurteil stecke ein „Geheimplan der Asyllobby“. | |
| Der Berliner „Grünen-Richter war Mitglied einer links-extremen Gruppe“, | |
| [5][schrieb Björn Harms für Nius]. Die Bild-Zeitung titelte: „So tricksten | |
| drei Somalier den Asyl-Hammer herbei“. Von einem Rechtsstaat war nirgends | |
| die Rede. | |
| Alexander Hoffmann, Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, sprang auch | |
| nicht dem Rechtsstaat, sondern den autoritären Kräften bei. [6][Gegenüber | |
| der Augsburger Allgemeinen Zeitung erklärte der Politiker] bezüglich der | |
| Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichts: „Für mich trägt das klare | |
| Züge einer Inszenierung durch Asyl-Aktivisten.“ | |
| Die [7][Nichtregierungsorganisation Pro Asyl hätte den Fall der drei | |
| Antragsteller:innen also orchestriert]. Laut ihm urteilten die | |
| Gerichte in dieser Sache somit nicht rechtsstaatlich, sondern seien | |
| gesteuert durch linke Aktivisten. Hoffmann liefert keine Belege. | |
| ## Gerichte sind nicht „woke“ | |
| Das beherrschende Narrativ: Die Gerichte wollten eine „woke“ Politik | |
| durchsetzen. Es ist die gängige, gut bekannte Behauptung autoritärer | |
| Kräfte, ob in Polen unter der PiS-Regierung, in Ungarn unter Viktor Orbán | |
| oder in den USA unter Donald Trump: Die Gerichte verfolgten eine linke | |
| Agenda. Deswegen müssten sie gestoppt werden. | |
| In den USA lässt sich diese Strategie live beobachten. Die | |
| Trump-Administration führt einen [8][offenen Kampf gegen die Richterschaft] | |
| des Landes. Sie hat sich für ihren Widerstand gegen die Justiz das Thema | |
| Migration und Asyl ausgesucht. Hier lassen sich Emotionen eben besonders | |
| gut missbrauchen. | |
| Denn wer hier auf den Rechtsstaat verweist, gefährdet in der autoritären | |
| Erzählung die Sicherheit und den Wohlstand der Bevölkerung. Der „illegale | |
| Migrant“ dient auf beiden Seiten des Atlantiks als leicht | |
| instrumentalisierbare Figur. | |
| ## Nach amerikanischem Vorbild | |
| So ignorierte die Trump-Administration mehrere Gerichtsurteile, die mit der | |
| [9][Ausweisung „illegaler Migranten“] zu tun hatten. Er und seine | |
| Gefolgsleute greifen die Justiz notorisch an. | |
| So sagte US-Vizepräsident J. D. Vance, dass Richter:innen nicht die | |
| „legitime Macht“ der Exekutive kontrollieren dürften. Er erklärte also, | |
| dass die [10][Regierung über dem Rechtsstaat stehe] – und dass die Justiz | |
| genau das nicht machen dürfe, wozu sie in einer Demokratie existiert: die | |
| Macht der Regierung überprüfen und im Zweifel einschränken. | |
| So offen agiert die Bundesregierung nicht – immerhin bezeichnen sich die | |
| regierenden Parteien, CDU/CSU und SPD, als „Rechtsstaatsparteien“. Der | |
| Einfluss autoritärer und rechtsextremer Kräfte auf Teile der deutschen | |
| Politik ist allerdings stark. | |
| Innerparlamentarisch durch die AfD, außerparlamentarisch durch Portale wie | |
| Nius. Diese Kräfte bereiten den Weg dafür, wohin sich die Bundesregierung | |
| bewegt – etwa, ob sie sich an Gesetze hält oder nicht. | |
| ## Im Zweifel gegen den Rechtsstaat | |
| Die Bundesregierung hat bei der Migration autoritäre Erzählungen weitgehend | |
| kopiert und sich damit selbst ihrer Handlungsautonomie beraubt. Damit hat | |
| sie bewiesen, dass sie sich im Zweifel gegen den Rechtsstaat stellt. | |
| Dabei geht es den autoritären Kräften weder um Migration noch um Asyl – es | |
| ist schlicht das, was sich historisch am besten eignet, um Demokratien | |
| Schritt für Schritt abzubauen. | |
| Und so wundert es nicht, dass autoritäre Akteur:innen seit Verkündigung | |
| des Urteils die Berliner Richter:innen [11][bedrohen und diffamieren]. | |
| Von den demokratischen Parteien können sie warme Worte, aber keinen Schutz | |
| erwarten. Wenn eine demokratische Regierung den Rechtsstaat angreift, | |
| [12][öffnen sich Schleusen], die sich schwer wieder schließen lassen. | |
| 11 Jun 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Asylpolitik-Grundsaetzliche-Einzelfallentscheidung/!6088483 | |
| [2] /Asylrechtsverschaerfungen/!6089926 | |
| [3] https://www.lto.de/recht/meinung/m/vg-berlin-zurueckweisungen-dobrindt-merz… | |
| [4] /Diffamierungskampagne-gegen-Pro-Asyl/!6090055 | |
| [5] https://x.com/jreichelt/status/1930263468143173769 | |
| [6] https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/zuege-einer-inszenierung-csu-l… | |
| [7] /Pro-Asyl-Chef-zu-Vorwuerfen-von-rechts/!6093501 | |
| [8] /Donald-Trump-und-das-F-Wort/!6065634 | |
| [9] /Kilmar-Abrego-Garcia/!6093318 | |
| [10] /Einsatz-der-Nationalgarde-in-Los-Angeles/!6090079 | |
| [11] /EU-Rechtsprechung-zu-Migration/!6092308 | |
| [12] /Negativismus-in-der-Gesellschaft/!6053214 | |
| ## AUTOREN | |
| Gilda Sahebi | |
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