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# taz.de -- Anklagewelle gegen Antifa: „Die Gewalt kam damals zu uns“
> Der Berliner Thomas J. ist mit sechs weiteren Linken wegen mutmaßlicher
> Angriffe auf Neonazis angeklagt. In seiner Jugend wurde er zum
> Antifaschisten.
Bild: In den 90er Jahren in Königs Wusterhausen musste man sich entscheiden: r…
Am Ende bemerkte Thomas J., dass es eng wird. Er hatte eine Polizistin an
seinem Fahrrad gesehen, als es angeschlossen im Berliner Stadtteil Wedding
stand, damals, am 21. Oktober vergangenen Jahres. Er sei später dennoch mit
dem Rad losgefahren – als ihn plötzlich mehrere Beamte eines
Einsatzkommandos mit gezückten Waffen vom Sattel gezogen und festgenommen
hätten. Da war seine Flucht, nach zwei Jahren, vorbei. „Es war klar, dass
das eines Tages passieren kann“, sagt Thomas J. gelassen. „Darauf hatte ich
mich lange vorbereitet.“
J. sitzt, als er das erzählt, an einem Aprilvormittag im Besucherraum der
JVA Moabit in Berlin, ein wuchtiger Bau hinter meterhohen Mauern, eines der
größten Untersuchungsgefängnisse Deutschlands. Der muskulöse 48-Jährige,
volltätowierte Arme, schwarzes Shirt, spricht ruhig und höflich, die Hände
legt er gefaltet auf den Tisch. Der Raum ist hell und in die Jahre
gekommen, auch andere Gefangene empfangen dort gerade Besuch, beaufsichtigt
von JVA-Mitarbeitenden.
Auf Thomas J. aber richten sich besonders genaue Blicke. Bevor er
hereingeführt wurde, war er penibel kontrolliert worden, musste sogar seine
Armbanduhr abgeben. An seinem Besuchertisch sitzen nun noch zwei
mittelprächtig gelaunte LKA-Beamte mit Schreibblock und machen sich
Notizen.
Denn J. gilt den Sicherheitsbehörden momentan als einer der gefährlichsten
Linksextremen in Deutschland. Der Mann aus Berlin-Kreuzberg soll der
Kampftrainer der Autonomen-Gruppe um die Leipzigerin Lina E. gewesen sein,
die ab 2018 mehrere schwere Angriffe auf Rechtsextreme in Sachsen und
Thüringen begangen haben soll, auch mit Schlagstöcken und Hämmern.
So jedenfalls sieht es die Bundesanwaltschaft. Schon den Fall Lina E. hatte
die oberste Ermittlungsbehörde an sich gezogen. Es war eine Zäsur im Kampf
der Sicherheitsbehörden gegen militante Linke.
Der Verfassungsschutz konstatierte einen Strategiewechsel der Szene: Habe
dort vorher Gewalt gegen Sachen für vermittelbar gegolten, nicht aber
Gewalt gegen Menschen, habe dieser Grundsatz keinen Bestand mehr. Der
Geheimdienst sah die Szene „an der Schwelle zum Linksterrorismus“ stehen.
Die damalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) warnte, in
linksextremen Gruppen seien „Hemmschwellen gesunken, politische Gegner auch
mit äußerster Brutalität anzugreifen“. Beim LKA Sachsen wurde eine Soko
Linx gebildet. Es folgten bundesweit Razzien und Festnahmen.
## So viele Antifaschist*innen in Haft wie lange nicht
[1][Nun sitzen so viele Antifaschist*innen in Haft wie seit vielen
Jahren nicht.] Und Lina E. und drei Mitangeklagte wurden bereits vor zwei
Jahren vor dem Oberlandesgericht Dresden zu Haftstrafen von bis zu fünf
Jahren verurteilt.
Und jetzt folgt der nächste Schlag der Bundesanwaltschaft. [2][Ende
vergangener Woche verschickte sie Anklagen gegen sieben weitere
Antifaschist*innen], die sie der Gruppe um Lina E. zurechnet. Eine
Anklage ging an Thomas J. Die Vorwürfe: Mitgliedschaft in oder
Unterstützung einer linksextremistischen, kriminellen Vereinigung,
gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung, Sachbeschädigung. Neben
Thomas J. kommen die anderen angeklagten Linken aus Berlin und Leipzig,
sind deutlich jünger als er: Johann G., Tobias E., Paul M., Melissa K.,
Henry A. und Julian W. Ihr Prozess soll vor dem Oberlandesgericht Dresden
geführt werden.
Vor allem auf Johann G. hatten es die Ermittler abgesehen. Der 31-jährige
frühere Geschichtsstudent gilt als eigentlicher Kopf der Gruppe, Spitzname
„Gucci“ – er war früher der Lebensgefährte von Lina E. Die Polizei füh…
ihn als einen von derzeit zehn linken Gefährdern bundesweit. Auf den
Knöcheln seiner Hände steht tätowiert: „Hate Cops“. Sachsens Innenminist…
Armin Schuster (CDU) nennt ihn den „Drahtzieher“.
[3][Ein Kronzeuge, der Szeneabtrünnige Johannes D.], hatte bei der Polizei
Johann G. und Lina E. schwer belastet: Sie hätten zu Trainings und
Überfällen eingeladen, dafür Autonome aus mehreren Städten rekrutiert. Ziel
sei es gewesen, die Neonazis „nachhaltig“ zu verletzen, sie „psychisch zu
brechen“. Mindestens sechs Überfälle soll ihre Gruppe verübt haben – bei
fast allen soll Johann G. dabei gewesen sein.
Nach einem Angriff auf den rechtsextremen Kneipenwirt und Kampfsportler
Leon Ringl im Oktober 2019 in Eisenach, nach dem am Tatort Blut von ihm
zurückblieb, tauchte G. ab. Fast fünf Jahre war er auf der Flucht,
angeblich bis nach Thailand. Bis zu 10.000 Euro waren für Hinweise auf ihn
ausgelobt. Dennoch soll er noch im Februar 2023 bei Angriffen auf
Rechtsextreme in Budapest dabei gewesen sein, am Rand des europaweiten
Aufmarschs [4][„Tag der Ehre“]. Bevor er dann im vergangenen November in
einem Regionalzug in Thüringen gefasst wurde, angeblich auf dem Weg zu
einer Freundin.
## Thomas J. wurde lange von Fahndern gesucht
Auch Thomas J. wurde lange von Fahndern gesucht. Schon im Sommer 2022 hatte
die Polizei seine Kreuzberger Wohnung durchsucht. Ein Haftbefehl lag da
gegen ihn noch nicht vor. Doch nun war J. gewarnt und verschwand. Wo er
sich in den zwei folgenden Jahren aufhielt, will er in der JVA Moabit,
neben den zwei LKA-Beamten, nicht sagen. Klar aber ist, dass sein Umfeld
überwacht wurde.
Im Mai 2023 hatte ihn die Polizei eigentlich schon erwischt: Sie stoppte
ihn in einem Auto bei einer Kontrolle in Brandenburg – aber Thomas J. sei
davongerast, so hieß es damals. In der JVA sagt er, so sei es nicht
gewesen: Die Beamten hätten ihn schlicht nicht festgesetzt, denn einen
Haftbefehl habe es damals immer noch nicht gegeben. Am Ende sollen ihm die
Ermittler auf die Spur gekommen sein, weil er mit seiner EC-Karte Geld
abgehoben hatte – und der Geldautomat daraufhin überwacht wurde. So
behauptete es zumindest die Bild direkt nach der Festnahme.
Dass Thomas J. in der Berliner Antifa-Szene aktiv ist, ist dagegen kein
Geheimnis. Als einer der Älteren ist er dort breit bekannt, Spitzname
„Nanuk“, nach seinem früheren Hund. Oder als „KW-Thomas“, nach seinem
Geburtsort Königs Wusterhausen, einer Kleinstadt südlich von Berlin, in der
er bis zu seinem 27. Lebensjahr lebte. Einige kennen ihn auch aus dem
Kampfsport, wo er seit Jahren aktiv ist und auch Selbstverteidigungskurse
anbietet, nach eigener Auskunft auch für Firmen. Zuletzt arbeitete er zudem
als Sicherheitsmann oder Industriekletterer.
Die Ermittler aber werfen Thomas J. vor, zwei Kampfsporttrainings auch für
die Gruppe um Lina E. und Johann G. angeboten zu haben – um sie gezielt für
Angriffe auf Neonazis vorzubereiten. Eines soll im August 2019 in einem
linken Hausprojekt in Leipzig stattgefunden haben, ein zweites ein Jahr
später. Zwischendurch, im Oktober 2019, soll Thomas J. auch beim ersten von
zwei Angriffen der Gruppe auf den Eisenacher Neonazi Leon Ringl dabei
gewesen sein. Auch an einer zweiten „Ausfahrt“ sei Thomas J. dabei gewesen
– ohne aber dass es hier zu einem Angriff kam.
Dazu beunruhigt die Sicherheitsbehörden, dass Thomas J. ab 2014 wiederholt
in [5][Rojava] gewesen sein soll, der autonomen kurdischen Enklave in
Nordsyrien. Springer-Blätter zitierten Ermittler, er sei dort
„Scharfschütze“ gewesen. Auch wird ihm vorgeworfen, in der Silvesternacht
2018 bei linken Angriffen auf eine Außenstelle des Bundesgerichtshofs in
Leipzig und auf ein Burschenschaftsgebäude dabei gewesen zu sein.
## Faeser: „Niemand kann sich im Untergrund sicher fühlen“
Als Thomas J. schließlich am 21. Oktober vergangenen Jahres festgenommen
wird, äußert sich selbst die damalige Innenministerin Faeser und spricht
von einem „wichtigen Ermittlungserfolg“. Der Rechtsstaat habe „einen lang…
Atem im Kampf gegen gefährliche Linksextremisten“, so die Sozialdemokratin.
„Niemand kann sich im Untergrund sicher fühlen“.
Ob es stimme, was über ihn in der Zeitung stehe, hätten ihn Mitgefangene
gefragt, als er in den Knast kam, erzählt Thomas J. in der JVA Moabit. Er
gibt sich über die Vorwürfe gelassen, fast belustigt. Allerlei „wilde
Sachen“ stünden im Haftbefehl, sagt der 48-Jährige. Darüber reden darf er
beim Besuch in der JVA nicht – die LKA-Männer untersagen, über
Verfahrensinhalte zu sprechen.
Thomas J. verweist darauf, dass auch die Vorwürfe gegen ihn alle auf dem
Kronzeugen Johannes D. basierten. „Und der hatte ein Interesse, den
Behörden etwas zu liefern, um selbst davonzukommen.“ Wie genau denn die
Trainings ausgesehen haben sollen, fragt er noch. Und dass er nicht wüsste,
dass es Scharfschützen bei der kurdischen YPG
(„Volksverteidigungseinheiten“) gäbe. Alles andere werde sich vor Gericht
zeigen. „Ich freue mich auf den Prozess.“
Dass Thomas J. in Rojava war, ist gut möglich. Polizisten fanden in seiner
Wohnung Gewehrutensilien. Und [6][ein taz-Protokoll von 2017,] in dem ein
anonymer Berliner Aktivist seine Kampfeinsätze in Rojava gegen den IS
schildert. Die Ermittler glauben, dieser Aktivist sei Thomas J. Im taz-Text
erzählt der Protagonist, er habe, nach 20 Jahren im autonomen
Antifaschismus, nach einer neuen Perspektive gesucht. In Rojava werde
versucht, eine neue Gesellschaft aufzubauen, es sei eine Revolution. „Ich
habe mich entschieden, Teil dieser Revolution zu werden.“ Die Ermittlungen
zu Thomas J.s womöglicher Rojava-Zeit hat die Bundesanwaltschaft inzwischen
jedoch eingestellt. Auch vom Vorwurf der Angriffe in Leipzig ist nur noch
ein Landfriedensbruch übrig.
Die Bundesanwaltschaft aber hängt auch die anderen Vorwürfe hoch, die
Angriffe der Gruppe von Lina E. und Johann G. In ihrer Anklage betont sie,
wie gezielt die Rechtsextremen im Vorfeld ausgespäht worden seien, bevor
sie attackiert wurden. Wie sie bei den Angriffen teils schwer verletzt
wurden. Beim Angriff im Oktober 2019 in Eisenach, auf die Szenekneipe
„Bulls Eye“ des Neonazis Leon Ringl, bei dem Thomas J. dabei gewesen sein
soll, wurde ein knappes Dutzend Gäste verletzt, das Inventar zerstört. Die
vermummten Angreifer flohen damals. Es war die Tat, bei der vor Ort Blut
von Johann G. zurückblieb.
Und es war Kronzeuge Johannes D., der den Ermittlern erzählte, dass auch
Thomas J. bei dem Angriff dabei gewesen sei. Der Kindergärtner war lange
Zeit ebenso Teil der Berliner autonomen Szene, auch er gehörte zu den
Beschuldigten der Gruppe um Lina E. und Johann G. Als der 32-Jährige im
Herbst 2021 wegen Vergewaltigungsvorwürfen aus der Szene verstoßen wurde,
wandte er sich an den Verfassungsschutz – und packte bei der Polizei über
die Gruppe aus, elf Tage lang. Nannte Namen, wer an welchen Überfällen
beteiligt gewesen sein soll. Auch den von Thomas J.
Nur: Außer bei einem Angriff will Johannes D. bei keiner Tat dabei gewesen
sein. Auch nicht bei der im Oktober 2019 in Eisenach. In einem Berliner
Park aber habe „Thomas“ von diesem Überfall erzählt und dass Johann G. do…
Blut verloren habe, berichtete Johannes D. nach taz-Informationen den
Ermittlern. D. habe aus der Erzählung geschlossen, dass Thomas J. bei der
Aktion dabei gewesen sein muss. Zudem habe „Thomas“ ein Training für 50
Antifas in Leipzig geleitet, erzählte Johannes D. den Ermittlern. Geübt
worden sei etwa ein „Überwältigen von politischen Gegnern“, eingeladen
hätten damals Johann G. und Lina E. Und Johannes D. schilderte noch die
langjährigen Erfahrungen von Thomas J. in der militanten Szene, im Umfeld
des Hausprojekts [7][Rigaer 94 in Berlin-Friedrichshain] – konkret wird er
auch hier nicht.
## Anwältin hält die Aussagen des Kronzeugen für wertlos
Thomas J.s Anwältin Antonia von der Behrens hält die Aussagen des
Kronzeugen Johannes D. für wertlos. Dessen Behauptungen seien reine
Mutmaßungen und angebliches Wissen vom Hörensagen, sagt sie. Es gebe
keinerlei Beweise, dass Thomas J. in Eisenach dabei gewesen sei oder was
genau bei dem Training in Leipzig passiert sein soll. Johannes D. habe mit
Thomas J. schlicht jemanden benannt, den die Ermittler – anders als Lina E.
oder Johann G. – noch nicht kannten und an dem die Polizei ein Interesse
hatte. Um sich so einen Strafrabatt zu verschaffen – den er später auch
bekam.
Die Behörden und Gerichte aber halten den Kronzeugen Johannes D. bis heute
für glaubwürdig – und Thomas J. für gefährlich. An der Tür seiner Zelle …
der JVA Moabit hingen lange Zeit farbige Punkte, die einen „besonderen
Beobachtungsbedarf“ und erhöhte Sicherheitsauflagen markierten. Anfangs
wurde stündlich seine Zelle kontrolliert, er durfte sich nur in Begleitung
von Aufseher*innen durch das Gefängnis bewegen, „Hand in Hand“. Bis
heute wird ihm ein „Aufschluss“ verwehrt, das stundenweise freie Bewegen
mit Mitgefangenen auf der Station. Über Monate wurde ihm keine Post
ausgehändigt, teilweise auch die seiner Anwältin nicht. Im März erhielt
Thomas J. dann nach eigener Auskunft 100 Briefe auf einmal. Als er zum
Haftrichter nach Karlsruhe gefahren wurde, in einem Tross von drei
Polizeitransportern, verbrachte er neun Stunden gefesselt – nach eigener
Auskunft ohne Toilettenpause, ohne Verpflegung.
Thomas J. nennt die Gründe für seine Haft „fadenscheinig“. Er gibt sich
dennoch recht unbeeindruckt. Der Knast sei nicht so schlimm, wie man denkt,
sagt er. „Das ist kein Drama hier, kein dunkles Loch. Man muss davor keine
Angst haben. Ich kann hier durchaus etwas selbstbestimmt machen.“ Aber er
sei eben auch privilegiert. „Ich spreche Deutsch, habe Unterstützung, eine
starke Mutter.“ Anderen Gefangenen könne er mit Anträgen helfen, teile mit
ihnen Zeitungsartikel oder spiele Tischtennis. Es sei auch sein Alter, das
ihn gelassener mache, sagt Thomas J. „Ich hab schon einiges erlebt. Für
Jüngere knallt der Knast sicher noch mehr rein.“
Seine Anwältin Antonia von der Behrens hält es für rechtlich untragbar,
dass ihr Mandant überhaupt in Haft ist. „Das Bild, das die Behörden und die
Springerpresse von meinem Mandanten zeichnen, ist völlig überzogen. Selbst
nach dem Haftbefehl des Bundesgerichtshofs hatte er nur eine randständige
Rolle.“
Es werde ihm nur die Unterstützung einer kriminellen Vereinigung
vorgeworfen und die Beteiligung an einer gefährlichen Körperverletzung.
„Und diese Vorwürfe beruhen allein auf den alten Angaben des Kronzeugen.
Neue Ermittlungen hat es faktisch nicht gegeben“, so von der Behrens. „Es
gibt keinerlei Gründe dafür, dass er auch noch nach über sieben Monaten in
Haft sitzt.“ Tatsächlich saßen auch im ersten Prozess gegen Lina E. die
drei Mitbeschuldigten nicht in Haft. Bei Thomas J. aber verweist die
Bundesanwaltschaft auf sein vorheriges Abtauchen – und auf ihren Kronzeugen
Johannes D.
## Der Berliner Tobias E. saß bereits in Ungarn in Haft
Und der belastete auch die anderen nun Angeklagten. Auch sie sollen bei
Angriffen der Gruppe um Lina E. und Johann G. dabei gewesen sein, bei
Trainings oder anderen Treffen. Etwa der nun beschuldigte [8][Berliner
Tobias E.], der beim zweiten Angriff in Eisenach dabei gewesen sein soll
und bei einem weiteren in Dessau. Er war zuletzt in Ungarn inhaftiert, ein
ungarisches Gericht verurteilte den 31-Jährigen zu drei Jahren Haft, die
später auf gut anderthalb Jahre verkürzt wurden. Nachdem Tobias E. diese in
Ungarn abgesessen hatte, wurde er im Dezember nach Deutschland ausgewiesen
– wo ihn die Polizei sofort wieder festnahm.
Seitdem sitzt Tobias E. in der JVA Burg, einem Hochsicherheitsgefängnis in
Sachsen-Anhalt, wo ihn die taz kürzlich besucht hat. Auch bei dem Gespräch
saß eine Mitarbeiterin des LKA dabei, auch Tobias E. konnte deshalb nicht
über die Vorwürfe der Bundesanwaltschaft reden. Stattdessen berichtete er
über seine Haftzeit in Ungarn, die von „Gewalt und Willkür“ geprägt gewe…
sei. Und auch seine Anwältin Anna Luczak nannte die Beweislage gegen ihn
zuletzt als „dünn“, die Haft „völlig unnötig“. Die Bundesanwaltschaf…
hängt auch seinen Fall hoch: Zuvor hatte eigentlich bereits die
Staatsanwaltschaft Gera Anklage gegen Tobias E. erhoben – diese dann aber
zurückgenommen, damit die Bundesanwaltschaft übernehmen kann.
Für Antonia von der Behrens, die Anwältin von Thomas J., ist das Vorgehen
der Bundesanwaltschaft nicht nachzuvollziehen. Das Verfahren sei
„aufgebläht“, die Bundesanwaltschaft wolle „einen neuen Mammutprozess ge…
Antifaschisten“, kritisiert sie. Dafür würden „völlig unterschiedliche
Sachverhalte und Personen über die Konstruktion einer kriminellen
Vereinigung verbunden“. Ein faires Verfahren sei schon heute „höchst
zweifelhaft“.
Bei der Bundesanwaltschaft aber steht die nächste Anklagerunde schon bevor:
wegen der Angriffe in Budapest. Weitere sieben Autonome sitzen deshalb
derzeit in Haft. [9][Ein weiterer Beschuldigter, der Syrer Zaid A.], ist
haftverschont – ihm droht als Nichtdeutschem die Auslieferung nach Ungarn.
Für die anderen sieben hat die Bundesanwaltschaft bereits erklärt, die
Verfahren in Deutschland führen zu wollen.
## Eine Gruppe von Budapest-Gesuchten stellte sich freiwillig
Die Budapest-Gesuchten waren fast zwei Jahre abgetaucht, ehe sie sich im
Januar stellten. Eine Person war von Zielfahndern des sächsischen LKA schon
vorher gefasst und nach Ungarn ausgeliefert worden – rechtswidrig, wie das
Bundesverfassungsgericht zuletzt feststellte: die 24-jährige nonbinäre
Thüringer*in Maja T. [10][Sie befindet sich derzeit in Ungarn im
Hungerstreik.]
Die linke Szene brauchte etwas Anlauf, inzwischen antwortet sie mit breiter
Solidarität. Vor den Gefängnissen, in denen die inhaftierten Antifas
sitzen, gab es Kundgebungen. Am 14. Juni soll in Jena eine bundesweite
Demonstration stattfinden. Auch vor der JVA Moabit wurde für Thomas J.
demonstriert. In der Stadt fordern Graffiti seine Freilassung. Als
Unterstützer*innen für ihn eine Solidaritätsveranstaltung im
Kreuzberger Club SO36 organisierten, war der Laden proppenvoll. Auf der
1.-Mai-Demo in Berlin wurde in einem Redebeitrag auf seinen Fall
hingewiesen – mit dem Appell, sich nicht spalten zu lassen. Thomas J. sei
„einer von uns“, heißt es in einem Szeneaufruf. Er gehöre nicht ins
Gefängnis, „sondern mit uns allen auf die Straße“.
## Aufwachsen während der Baseballeschlägerjahre in Brandenburg
Thomas J. freut sich über die Unterstützung. Und er erzählt im Besucherraum
der JVA, wie er zur Antifa kam. Und das hat mit Königs Wusterhausen zu tun.
Anfang der neunziger Jahre wuchs er dort als Teenager auf, in den
[11][Baseballschlägerjahren]. Es ist die Zeit, als in
[12][Rostock-Lichtenhagen], [13][Hoyerswerda] oder [14][Mölln]
Rechtsextreme Pogrome verüben, in der es nicht nur in Brandenburg tödliche
Angriffe auf Migranten oder junge Punks gab. „Die Opfer waren Jugendliche
wie ich“, sagt Thomas J. Man habe sich früh entscheiden müssen, ob man
rechts oder links stehe. Für ihn sei die Entscheidung klar gewesen. Und als
Linker sei er vor Ort bei den Nazis bekannt gewesen.
„Das war eine enthemmte Zeit. Die Gewalt kam damals zu uns.“ Freunde von
ihm seien zusammengeschlagen worden, Rechtsextreme in Wohnungen
eingedrungen, später wurden bei Neonazis Rohrbomben gefunden. Im Sommer
1991 sei in einem Ortsteil auf linke Hausbesetzer geschossen worden – der
Täter habe in seiner Straße gewohnt, erzählt Thomas J. Im Mai 1992 wurde
dann ein nigerianischer Aslysuchender von Neonazis in Königs Wusterhausen
zusammengeschlagen und in einen See geworfen. Er überlebte nur knapp. Einer
der Täter: der damals 22-jährige Carsten S., der dafür zu acht Jahren Haft
verurteilt wird, aber früh frei kommt, weil er sich als V-Mann anwerben
lässt, [15][Tarnname „Piatto“]. Und der später im Umfeld des NSU-Trios
auftaucht.
Im November 1992 seien dann „die beiden Marios“ tot neben S-Bahngleisen bei
Königs Wusterhausen gefunden worden, zwei 17-Jährige. Die Polizei ging von
einem Unfall zweier Sprayer aus, ihre Freunde aber verwiesen darauf, dass
sie auch Antifas waren und zuvor rechte Morddrohungen erhielten. Einige
Monate später sei Jeff, ein Schwarzer, von einem Rechtsextremen überfahren
worden – er starb einige Tage später. Der Täter sei auf seine Schule
gegangen, sagt Thomas J. „Die Gewalt war sehr real und sehr nah. Und eines
der Targets war auch ich.“
Tatsächlich habe es damals auch einen versuchten Angriff auf ihn gegeben,
berichtet Thomas J. Er habe ihn abwehren können. „Es gab nur eine Wahl:
Entweder du rennst oder du wehrst dich.“ Es sei schnell klar gewesen, dass
sich die Linken vor Ort organisieren müssten, sagt er. „Es gab damals keine
Polizei und keinen Staat, die gekommen wären. Und die Eltern der Nazis
waren mit der Wendesituation beschäftigt. Wir mussten uns selber helfen.“
Er habe sich damals mit anderen Linken auf dem evangelischen Kirchhof
getroffen, habe Selbstverteidigung eingeübt und Telefonketten vereinbart,
sei mit einem Messer zur Schule gegangen.
Im Juli 2001 wird Thomas J. dann wieder zum Ziel. Mit anderen schläft er
nachts auf einer Bühne eines linken Festivals in Königs Wusterhausen, um
das Gelände zu schützen. Als plötzlich Brandsätze auf die Bühne fliegen,
geworfen von zwei Rechtsextremen. „Wir wurden wach, als die Mollis über uns
flogen“, erinnert sich Thomas J. Dass niemand schwer verletzt wurde, sei
Zufall gewesen. „Es war klar, wer die Täter waren, die wurden damals
überwacht.“ Dennoch habe es Jahre gedauert, bis diese vor Gericht standen
und verurteilt wurden.
## Notwehr oder Selbstjustiz
Wie weit die antifaschistische Selbstverteidigung zuletzt in Teilen der
linken Szene ging, darüber wird nun demnächst vor dem Oberlandesgericht
Dresden verhandelt. Im ersten Prozess, gegen Lina E. und die drei
Mitangeklagten, hatte Richter Hans Schlüter-Staats deutliche Kritik an der
Gruppe geäußert. Die Bekämpfung des Rechtsextremismus sei zwar ein
„achtenswertes Motiv“, sagte er. Aber auch gewalttätige Nazis seien „nic…
vogelfrei“. Für die Angriffe habe es „keine nur ansatzweise notwehrähnlic…
Situation“ gegeben, es sei schlicht Selbstjustiz gewesen.
Thomas J. erinnert in der JVA Moabit dagegen daran, dass der Eisenacher
Neonazi Leon Ringl mit seiner Kampfsportgruppe [16][Knockout51] jahrelang
Menschen verprügelte und in der Stadt einen „Nazi-Kiez“ errichten wollte.
Antifa-Gruppen hätten früh darauf aufmerksam gemacht, ohne dass die Polizei
eingeschritten sei. Erst als es zu den Angriffen gekommen war, seien die
Behörden aktiv geworden. „Das war nicht irgendwer. Wie weit sollte das noch
gehen?“
Thomas J. drohen nun mehrere Jahre Haft. Da er nur als Unterstützer der
Gruppe angeklagt ist, könnte er noch am glimpflichsten davonkommen. Die
höchste Strafe dürfte Johann G. erwarten – weit mehr als die gut fünf Jahre
Haft, die seine frühere Partnerin Lina E. bekam. Thomas J. sagt in der JVA
Moabit, er sei „optimistisch“, was den Prozess angehe. „Und was soll
passieren? Irgendwann ist auch das hier mit dem Knast vorbei.“
10 Jun 2025
## LINKS
[1] /Redakteur-ueber-Haft-Ratgeber/!6071772
[2] /Wegen-Angriffen-auf-Rechtsextreme/!6092526
[3] /Autonome-Gruppe-um-Lina-E/!5918374
[4] /Antifa-Aktivist-ueber-Nazi-Treffen/!5987563
[5] /Stiftungsmitarbeiterin-ueber-Rojava/!6068779
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[7] /Autonomes-Hausprojekt-in-Berlin/!6025537
[8] /Berliner-Antifa-Szene-im-Fall-Lina-E/!5934801
[9] /Linken-droht-Auslieferung-nach-Ungarn/!6073407
[10] /Inhaftierte-Linke-in-Ungarn/!6092374
[11] /Buch-ueber-rechte-Gewalt-in-den-1980ern/!6090994
[12] /30-Jahre-Rostock-Lichtenhagen/!5874650
[13] /30-Jahre-Pogrome-in-Hoyerswerda/!5799570
[14] /30-Jahre-nach-Brandanschlag-in-Moelln/!5893471
[15] /Zehn-Jahre-nach-NSU-Enttarnung/!5809433
[16] /Prozess-gegen-Knockout-51/!6082149
## AUTOREN
Konrad Litschko
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In seinem eigenen Prozess bekommt dieser nun einen Strafrabatt.
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