# taz.de -- Anklagewelle gegen Antifa: „Die Gewalt kam damals zu uns“ | |
> Der Berliner Thomas J. ist mit sechs weiteren Linken wegen mutmaßlicher | |
> Angriffe auf Neonazis angeklagt. In seiner Jugend wurde er zum | |
> Antifaschisten. | |
Bild: In den 90er Jahren in Königs Wusterhausen musste man sich entscheiden: r… | |
Am Ende bemerkte Thomas J., dass es eng wird. Er hatte eine Polizistin an | |
seinem Fahrrad gesehen, als es angeschlossen im Berliner Stadtteil Wedding | |
stand, damals, am 21. Oktober vergangenen Jahres. Er sei später dennoch mit | |
dem Rad losgefahren – als ihn plötzlich mehrere Beamte eines | |
Einsatzkommandos mit gezückten Waffen vom Sattel gezogen und festgenommen | |
hätten. Da war seine Flucht, nach zwei Jahren, vorbei. „Es war klar, dass | |
das eines Tages passieren kann“, sagt Thomas J. gelassen. „Darauf hatte ich | |
mich lange vorbereitet.“ | |
J. sitzt, als er das erzählt, an einem Aprilvormittag im Besucherraum der | |
JVA Moabit in Berlin, ein wuchtiger Bau hinter meterhohen Mauern, eines der | |
größten Untersuchungsgefängnisse Deutschlands. Der muskulöse 48-Jährige, | |
volltätowierte Arme, schwarzes Shirt, spricht ruhig und höflich, die Hände | |
legt er gefaltet auf den Tisch. Der Raum ist hell und in die Jahre | |
gekommen, auch andere Gefangene empfangen dort gerade Besuch, beaufsichtigt | |
von JVA-Mitarbeitenden. | |
Auf Thomas J. aber richten sich besonders genaue Blicke. Bevor er | |
hereingeführt wurde, war er penibel kontrolliert worden, musste sogar seine | |
Armbanduhr abgeben. An seinem Besuchertisch sitzen nun noch zwei | |
mittelprächtig gelaunte LKA-Beamte mit Schreibblock und machen sich | |
Notizen. | |
Denn J. gilt den Sicherheitsbehörden momentan als einer der gefährlichsten | |
Linksextremen in Deutschland. Der Mann aus Berlin-Kreuzberg soll der | |
Kampftrainer der Autonomen-Gruppe um die Leipzigerin Lina E. gewesen sein, | |
die ab 2018 mehrere schwere Angriffe auf Rechtsextreme in Sachsen und | |
Thüringen begangen haben soll, auch mit Schlagstöcken und Hämmern. | |
So jedenfalls sieht es die Bundesanwaltschaft. Schon den Fall Lina E. hatte | |
die oberste Ermittlungsbehörde an sich gezogen. Es war eine Zäsur im Kampf | |
der Sicherheitsbehörden gegen militante Linke. | |
Der Verfassungsschutz konstatierte einen Strategiewechsel der Szene: Habe | |
dort vorher Gewalt gegen Sachen für vermittelbar gegolten, nicht aber | |
Gewalt gegen Menschen, habe dieser Grundsatz keinen Bestand mehr. Der | |
Geheimdienst sah die Szene „an der Schwelle zum Linksterrorismus“ stehen. | |
Die damalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) warnte, in | |
linksextremen Gruppen seien „Hemmschwellen gesunken, politische Gegner auch | |
mit äußerster Brutalität anzugreifen“. Beim LKA Sachsen wurde eine Soko | |
Linx gebildet. Es folgten bundesweit Razzien und Festnahmen. | |
## So viele Antifaschist*innen in Haft wie lange nicht | |
[1][Nun sitzen so viele Antifaschist*innen in Haft wie seit vielen | |
Jahren nicht.] Und Lina E. und drei Mitangeklagte wurden bereits vor zwei | |
Jahren vor dem Oberlandesgericht Dresden zu Haftstrafen von bis zu fünf | |
Jahren verurteilt. | |
Und jetzt folgt der nächste Schlag der Bundesanwaltschaft. [2][Ende | |
vergangener Woche verschickte sie Anklagen gegen sieben weitere | |
Antifaschist*innen], die sie der Gruppe um Lina E. zurechnet. Eine | |
Anklage ging an Thomas J. Die Vorwürfe: Mitgliedschaft in oder | |
Unterstützung einer linksextremistischen, kriminellen Vereinigung, | |
gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung, Sachbeschädigung. Neben | |
Thomas J. kommen die anderen angeklagten Linken aus Berlin und Leipzig, | |
sind deutlich jünger als er: Johann G., Tobias E., Paul M., Melissa K., | |
Henry A. und Julian W. Ihr Prozess soll vor dem Oberlandesgericht Dresden | |
geführt werden. | |
Vor allem auf Johann G. hatten es die Ermittler abgesehen. Der 31-jährige | |
frühere Geschichtsstudent gilt als eigentlicher Kopf der Gruppe, Spitzname | |
„Gucci“ – er war früher der Lebensgefährte von Lina E. Die Polizei füh… | |
ihn als einen von derzeit zehn linken Gefährdern bundesweit. Auf den | |
Knöcheln seiner Hände steht tätowiert: „Hate Cops“. Sachsens Innenminist… | |
Armin Schuster (CDU) nennt ihn den „Drahtzieher“. | |
[3][Ein Kronzeuge, der Szeneabtrünnige Johannes D.], hatte bei der Polizei | |
Johann G. und Lina E. schwer belastet: Sie hätten zu Trainings und | |
Überfällen eingeladen, dafür Autonome aus mehreren Städten rekrutiert. Ziel | |
sei es gewesen, die Neonazis „nachhaltig“ zu verletzen, sie „psychisch zu | |
brechen“. Mindestens sechs Überfälle soll ihre Gruppe verübt haben – bei | |
fast allen soll Johann G. dabei gewesen sein. | |
Nach einem Angriff auf den rechtsextremen Kneipenwirt und Kampfsportler | |
Leon Ringl im Oktober 2019 in Eisenach, nach dem am Tatort Blut von ihm | |
zurückblieb, tauchte G. ab. Fast fünf Jahre war er auf der Flucht, | |
angeblich bis nach Thailand. Bis zu 10.000 Euro waren für Hinweise auf ihn | |
ausgelobt. Dennoch soll er noch im Februar 2023 bei Angriffen auf | |
Rechtsextreme in Budapest dabei gewesen sein, am Rand des europaweiten | |
Aufmarschs [4][„Tag der Ehre“]. Bevor er dann im vergangenen November in | |
einem Regionalzug in Thüringen gefasst wurde, angeblich auf dem Weg zu | |
einer Freundin. | |
## Thomas J. wurde lange von Fahndern gesucht | |
Auch Thomas J. wurde lange von Fahndern gesucht. Schon im Sommer 2022 hatte | |
die Polizei seine Kreuzberger Wohnung durchsucht. Ein Haftbefehl lag da | |
gegen ihn noch nicht vor. Doch nun war J. gewarnt und verschwand. Wo er | |
sich in den zwei folgenden Jahren aufhielt, will er in der JVA Moabit, | |
neben den zwei LKA-Beamten, nicht sagen. Klar aber ist, dass sein Umfeld | |
überwacht wurde. | |
Im Mai 2023 hatte ihn die Polizei eigentlich schon erwischt: Sie stoppte | |
ihn in einem Auto bei einer Kontrolle in Brandenburg – aber Thomas J. sei | |
davongerast, so hieß es damals. In der JVA sagt er, so sei es nicht | |
gewesen: Die Beamten hätten ihn schlicht nicht festgesetzt, denn einen | |
Haftbefehl habe es damals immer noch nicht gegeben. Am Ende sollen ihm die | |
Ermittler auf die Spur gekommen sein, weil er mit seiner EC-Karte Geld | |
abgehoben hatte – und der Geldautomat daraufhin überwacht wurde. So | |
behauptete es zumindest die Bild direkt nach der Festnahme. | |
Dass Thomas J. in der Berliner Antifa-Szene aktiv ist, ist dagegen kein | |
Geheimnis. Als einer der Älteren ist er dort breit bekannt, Spitzname | |
„Nanuk“, nach seinem früheren Hund. Oder als „KW-Thomas“, nach seinem | |
Geburtsort Königs Wusterhausen, einer Kleinstadt südlich von Berlin, in der | |
er bis zu seinem 27. Lebensjahr lebte. Einige kennen ihn auch aus dem | |
Kampfsport, wo er seit Jahren aktiv ist und auch Selbstverteidigungskurse | |
anbietet, nach eigener Auskunft auch für Firmen. Zuletzt arbeitete er zudem | |
als Sicherheitsmann oder Industriekletterer. | |
Die Ermittler aber werfen Thomas J. vor, zwei Kampfsporttrainings auch für | |
die Gruppe um Lina E. und Johann G. angeboten zu haben – um sie gezielt für | |
Angriffe auf Neonazis vorzubereiten. Eines soll im August 2019 in einem | |
linken Hausprojekt in Leipzig stattgefunden haben, ein zweites ein Jahr | |
später. Zwischendurch, im Oktober 2019, soll Thomas J. auch beim ersten von | |
zwei Angriffen der Gruppe auf den Eisenacher Neonazi Leon Ringl dabei | |
gewesen sein. Auch an einer zweiten „Ausfahrt“ sei Thomas J. dabei gewesen | |
– ohne aber dass es hier zu einem Angriff kam. | |
Dazu beunruhigt die Sicherheitsbehörden, dass Thomas J. ab 2014 wiederholt | |
in [5][Rojava] gewesen sein soll, der autonomen kurdischen Enklave in | |
Nordsyrien. Springer-Blätter zitierten Ermittler, er sei dort | |
„Scharfschütze“ gewesen. Auch wird ihm vorgeworfen, in der Silvesternacht | |
2018 bei linken Angriffen auf eine Außenstelle des Bundesgerichtshofs in | |
Leipzig und auf ein Burschenschaftsgebäude dabei gewesen zu sein. | |
## Faeser: „Niemand kann sich im Untergrund sicher fühlen“ | |
Als Thomas J. schließlich am 21. Oktober vergangenen Jahres festgenommen | |
wird, äußert sich selbst die damalige Innenministerin Faeser und spricht | |
von einem „wichtigen Ermittlungserfolg“. Der Rechtsstaat habe „einen lang… | |
Atem im Kampf gegen gefährliche Linksextremisten“, so die Sozialdemokratin. | |
„Niemand kann sich im Untergrund sicher fühlen“. | |
Ob es stimme, was über ihn in der Zeitung stehe, hätten ihn Mitgefangene | |
gefragt, als er in den Knast kam, erzählt Thomas J. in der JVA Moabit. Er | |
gibt sich über die Vorwürfe gelassen, fast belustigt. Allerlei „wilde | |
Sachen“ stünden im Haftbefehl, sagt der 48-Jährige. Darüber reden darf er | |
beim Besuch in der JVA nicht – die LKA-Männer untersagen, über | |
Verfahrensinhalte zu sprechen. | |
Thomas J. verweist darauf, dass auch die Vorwürfe gegen ihn alle auf dem | |
Kronzeugen Johannes D. basierten. „Und der hatte ein Interesse, den | |
Behörden etwas zu liefern, um selbst davonzukommen.“ Wie genau denn die | |
Trainings ausgesehen haben sollen, fragt er noch. Und dass er nicht wüsste, | |
dass es Scharfschützen bei der kurdischen YPG | |
(„Volksverteidigungseinheiten“) gäbe. Alles andere werde sich vor Gericht | |
zeigen. „Ich freue mich auf den Prozess.“ | |
Dass Thomas J. in Rojava war, ist gut möglich. Polizisten fanden in seiner | |
Wohnung Gewehrutensilien. Und [6][ein taz-Protokoll von 2017,] in dem ein | |
anonymer Berliner Aktivist seine Kampfeinsätze in Rojava gegen den IS | |
schildert. Die Ermittler glauben, dieser Aktivist sei Thomas J. Im taz-Text | |
erzählt der Protagonist, er habe, nach 20 Jahren im autonomen | |
Antifaschismus, nach einer neuen Perspektive gesucht. In Rojava werde | |
versucht, eine neue Gesellschaft aufzubauen, es sei eine Revolution. „Ich | |
habe mich entschieden, Teil dieser Revolution zu werden.“ Die Ermittlungen | |
zu Thomas J.s womöglicher Rojava-Zeit hat die Bundesanwaltschaft inzwischen | |
jedoch eingestellt. Auch vom Vorwurf der Angriffe in Leipzig ist nur noch | |
ein Landfriedensbruch übrig. | |
Die Bundesanwaltschaft aber hängt auch die anderen Vorwürfe hoch, die | |
Angriffe der Gruppe von Lina E. und Johann G. In ihrer Anklage betont sie, | |
wie gezielt die Rechtsextremen im Vorfeld ausgespäht worden seien, bevor | |
sie attackiert wurden. Wie sie bei den Angriffen teils schwer verletzt | |
wurden. Beim Angriff im Oktober 2019 in Eisenach, auf die Szenekneipe | |
„Bulls Eye“ des Neonazis Leon Ringl, bei dem Thomas J. dabei gewesen sein | |
soll, wurde ein knappes Dutzend Gäste verletzt, das Inventar zerstört. Die | |
vermummten Angreifer flohen damals. Es war die Tat, bei der vor Ort Blut | |
von Johann G. zurückblieb. | |
Und es war Kronzeuge Johannes D., der den Ermittlern erzählte, dass auch | |
Thomas J. bei dem Angriff dabei gewesen sei. Der Kindergärtner war lange | |
Zeit ebenso Teil der Berliner autonomen Szene, auch er gehörte zu den | |
Beschuldigten der Gruppe um Lina E. und Johann G. Als der 32-Jährige im | |
Herbst 2021 wegen Vergewaltigungsvorwürfen aus der Szene verstoßen wurde, | |
wandte er sich an den Verfassungsschutz – und packte bei der Polizei über | |
die Gruppe aus, elf Tage lang. Nannte Namen, wer an welchen Überfällen | |
beteiligt gewesen sein soll. Auch den von Thomas J. | |
Nur: Außer bei einem Angriff will Johannes D. bei keiner Tat dabei gewesen | |
sein. Auch nicht bei der im Oktober 2019 in Eisenach. In einem Berliner | |
Park aber habe „Thomas“ von diesem Überfall erzählt und dass Johann G. do… | |
Blut verloren habe, berichtete Johannes D. nach taz-Informationen den | |
Ermittlern. D. habe aus der Erzählung geschlossen, dass Thomas J. bei der | |
Aktion dabei gewesen sein muss. Zudem habe „Thomas“ ein Training für 50 | |
Antifas in Leipzig geleitet, erzählte Johannes D. den Ermittlern. Geübt | |
worden sei etwa ein „Überwältigen von politischen Gegnern“, eingeladen | |
hätten damals Johann G. und Lina E. Und Johannes D. schilderte noch die | |
langjährigen Erfahrungen von Thomas J. in der militanten Szene, im Umfeld | |
des Hausprojekts [7][Rigaer 94 in Berlin-Friedrichshain] – konkret wird er | |
auch hier nicht. | |
## Anwältin hält die Aussagen des Kronzeugen für wertlos | |
Thomas J.s Anwältin Antonia von der Behrens hält die Aussagen des | |
Kronzeugen Johannes D. für wertlos. Dessen Behauptungen seien reine | |
Mutmaßungen und angebliches Wissen vom Hörensagen, sagt sie. Es gebe | |
keinerlei Beweise, dass Thomas J. in Eisenach dabei gewesen sei oder was | |
genau bei dem Training in Leipzig passiert sein soll. Johannes D. habe mit | |
Thomas J. schlicht jemanden benannt, den die Ermittler – anders als Lina E. | |
oder Johann G. – noch nicht kannten und an dem die Polizei ein Interesse | |
hatte. Um sich so einen Strafrabatt zu verschaffen – den er später auch | |
bekam. | |
Die Behörden und Gerichte aber halten den Kronzeugen Johannes D. bis heute | |
für glaubwürdig – und Thomas J. für gefährlich. An der Tür seiner Zelle … | |
der JVA Moabit hingen lange Zeit farbige Punkte, die einen „besonderen | |
Beobachtungsbedarf“ und erhöhte Sicherheitsauflagen markierten. Anfangs | |
wurde stündlich seine Zelle kontrolliert, er durfte sich nur in Begleitung | |
von Aufseher*innen durch das Gefängnis bewegen, „Hand in Hand“. Bis | |
heute wird ihm ein „Aufschluss“ verwehrt, das stundenweise freie Bewegen | |
mit Mitgefangenen auf der Station. Über Monate wurde ihm keine Post | |
ausgehändigt, teilweise auch die seiner Anwältin nicht. Im März erhielt | |
Thomas J. dann nach eigener Auskunft 100 Briefe auf einmal. Als er zum | |
Haftrichter nach Karlsruhe gefahren wurde, in einem Tross von drei | |
Polizeitransportern, verbrachte er neun Stunden gefesselt – nach eigener | |
Auskunft ohne Toilettenpause, ohne Verpflegung. | |
Thomas J. nennt die Gründe für seine Haft „fadenscheinig“. Er gibt sich | |
dennoch recht unbeeindruckt. Der Knast sei nicht so schlimm, wie man denkt, | |
sagt er. „Das ist kein Drama hier, kein dunkles Loch. Man muss davor keine | |
Angst haben. Ich kann hier durchaus etwas selbstbestimmt machen.“ Aber er | |
sei eben auch privilegiert. „Ich spreche Deutsch, habe Unterstützung, eine | |
starke Mutter.“ Anderen Gefangenen könne er mit Anträgen helfen, teile mit | |
ihnen Zeitungsartikel oder spiele Tischtennis. Es sei auch sein Alter, das | |
ihn gelassener mache, sagt Thomas J. „Ich hab schon einiges erlebt. Für | |
Jüngere knallt der Knast sicher noch mehr rein.“ | |
Seine Anwältin Antonia von der Behrens hält es für rechtlich untragbar, | |
dass ihr Mandant überhaupt in Haft ist. „Das Bild, das die Behörden und die | |
Springerpresse von meinem Mandanten zeichnen, ist völlig überzogen. Selbst | |
nach dem Haftbefehl des Bundesgerichtshofs hatte er nur eine randständige | |
Rolle.“ | |
Es werde ihm nur die Unterstützung einer kriminellen Vereinigung | |
vorgeworfen und die Beteiligung an einer gefährlichen Körperverletzung. | |
„Und diese Vorwürfe beruhen allein auf den alten Angaben des Kronzeugen. | |
Neue Ermittlungen hat es faktisch nicht gegeben“, so von der Behrens. „Es | |
gibt keinerlei Gründe dafür, dass er auch noch nach über sieben Monaten in | |
Haft sitzt.“ Tatsächlich saßen auch im ersten Prozess gegen Lina E. die | |
drei Mitbeschuldigten nicht in Haft. Bei Thomas J. aber verweist die | |
Bundesanwaltschaft auf sein vorheriges Abtauchen – und auf ihren Kronzeugen | |
Johannes D. | |
## Der Berliner Tobias E. saß bereits in Ungarn in Haft | |
Und der belastete auch die anderen nun Angeklagten. Auch sie sollen bei | |
Angriffen der Gruppe um Lina E. und Johann G. dabei gewesen sein, bei | |
Trainings oder anderen Treffen. Etwa der nun beschuldigte [8][Berliner | |
Tobias E.], der beim zweiten Angriff in Eisenach dabei gewesen sein soll | |
und bei einem weiteren in Dessau. Er war zuletzt in Ungarn inhaftiert, ein | |
ungarisches Gericht verurteilte den 31-Jährigen zu drei Jahren Haft, die | |
später auf gut anderthalb Jahre verkürzt wurden. Nachdem Tobias E. diese in | |
Ungarn abgesessen hatte, wurde er im Dezember nach Deutschland ausgewiesen | |
– wo ihn die Polizei sofort wieder festnahm. | |
Seitdem sitzt Tobias E. in der JVA Burg, einem Hochsicherheitsgefängnis in | |
Sachsen-Anhalt, wo ihn die taz kürzlich besucht hat. Auch bei dem Gespräch | |
saß eine Mitarbeiterin des LKA dabei, auch Tobias E. konnte deshalb nicht | |
über die Vorwürfe der Bundesanwaltschaft reden. Stattdessen berichtete er | |
über seine Haftzeit in Ungarn, die von „Gewalt und Willkür“ geprägt gewe… | |
sei. Und auch seine Anwältin Anna Luczak nannte die Beweislage gegen ihn | |
zuletzt als „dünn“, die Haft „völlig unnötig“. Die Bundesanwaltschaf… | |
hängt auch seinen Fall hoch: Zuvor hatte eigentlich bereits die | |
Staatsanwaltschaft Gera Anklage gegen Tobias E. erhoben – diese dann aber | |
zurückgenommen, damit die Bundesanwaltschaft übernehmen kann. | |
Für Antonia von der Behrens, die Anwältin von Thomas J., ist das Vorgehen | |
der Bundesanwaltschaft nicht nachzuvollziehen. Das Verfahren sei | |
„aufgebläht“, die Bundesanwaltschaft wolle „einen neuen Mammutprozess ge… | |
Antifaschisten“, kritisiert sie. Dafür würden „völlig unterschiedliche | |
Sachverhalte und Personen über die Konstruktion einer kriminellen | |
Vereinigung verbunden“. Ein faires Verfahren sei schon heute „höchst | |
zweifelhaft“. | |
Bei der Bundesanwaltschaft aber steht die nächste Anklagerunde schon bevor: | |
wegen der Angriffe in Budapest. Weitere sieben Autonome sitzen deshalb | |
derzeit in Haft. [9][Ein weiterer Beschuldigter, der Syrer Zaid A.], ist | |
haftverschont – ihm droht als Nichtdeutschem die Auslieferung nach Ungarn. | |
Für die anderen sieben hat die Bundesanwaltschaft bereits erklärt, die | |
Verfahren in Deutschland führen zu wollen. | |
## Eine Gruppe von Budapest-Gesuchten stellte sich freiwillig | |
Die Budapest-Gesuchten waren fast zwei Jahre abgetaucht, ehe sie sich im | |
Januar stellten. Eine Person war von Zielfahndern des sächsischen LKA schon | |
vorher gefasst und nach Ungarn ausgeliefert worden – rechtswidrig, wie das | |
Bundesverfassungsgericht zuletzt feststellte: die 24-jährige nonbinäre | |
Thüringer*in Maja T. [10][Sie befindet sich derzeit in Ungarn im | |
Hungerstreik.] | |
Die linke Szene brauchte etwas Anlauf, inzwischen antwortet sie mit breiter | |
Solidarität. Vor den Gefängnissen, in denen die inhaftierten Antifas | |
sitzen, gab es Kundgebungen. Am 14. Juni soll in Jena eine bundesweite | |
Demonstration stattfinden. Auch vor der JVA Moabit wurde für Thomas J. | |
demonstriert. In der Stadt fordern Graffiti seine Freilassung. Als | |
Unterstützer*innen für ihn eine Solidaritätsveranstaltung im | |
Kreuzberger Club SO36 organisierten, war der Laden proppenvoll. Auf der | |
1.-Mai-Demo in Berlin wurde in einem Redebeitrag auf seinen Fall | |
hingewiesen – mit dem Appell, sich nicht spalten zu lassen. Thomas J. sei | |
„einer von uns“, heißt es in einem Szeneaufruf. Er gehöre nicht ins | |
Gefängnis, „sondern mit uns allen auf die Straße“. | |
## Aufwachsen während der Baseballeschlägerjahre in Brandenburg | |
Thomas J. freut sich über die Unterstützung. Und er erzählt im Besucherraum | |
der JVA, wie er zur Antifa kam. Und das hat mit Königs Wusterhausen zu tun. | |
Anfang der neunziger Jahre wuchs er dort als Teenager auf, in den | |
[11][Baseballschlägerjahren]. Es ist die Zeit, als in | |
[12][Rostock-Lichtenhagen], [13][Hoyerswerda] oder [14][Mölln] | |
Rechtsextreme Pogrome verüben, in der es nicht nur in Brandenburg tödliche | |
Angriffe auf Migranten oder junge Punks gab. „Die Opfer waren Jugendliche | |
wie ich“, sagt Thomas J. Man habe sich früh entscheiden müssen, ob man | |
rechts oder links stehe. Für ihn sei die Entscheidung klar gewesen. Und als | |
Linker sei er vor Ort bei den Nazis bekannt gewesen. | |
„Das war eine enthemmte Zeit. Die Gewalt kam damals zu uns.“ Freunde von | |
ihm seien zusammengeschlagen worden, Rechtsextreme in Wohnungen | |
eingedrungen, später wurden bei Neonazis Rohrbomben gefunden. Im Sommer | |
1991 sei in einem Ortsteil auf linke Hausbesetzer geschossen worden – der | |
Täter habe in seiner Straße gewohnt, erzählt Thomas J. Im Mai 1992 wurde | |
dann ein nigerianischer Aslysuchender von Neonazis in Königs Wusterhausen | |
zusammengeschlagen und in einen See geworfen. Er überlebte nur knapp. Einer | |
der Täter: der damals 22-jährige Carsten S., der dafür zu acht Jahren Haft | |
verurteilt wird, aber früh frei kommt, weil er sich als V-Mann anwerben | |
lässt, [15][Tarnname „Piatto“]. Und der später im Umfeld des NSU-Trios | |
auftaucht. | |
Im November 1992 seien dann „die beiden Marios“ tot neben S-Bahngleisen bei | |
Königs Wusterhausen gefunden worden, zwei 17-Jährige. Die Polizei ging von | |
einem Unfall zweier Sprayer aus, ihre Freunde aber verwiesen darauf, dass | |
sie auch Antifas waren und zuvor rechte Morddrohungen erhielten. Einige | |
Monate später sei Jeff, ein Schwarzer, von einem Rechtsextremen überfahren | |
worden – er starb einige Tage später. Der Täter sei auf seine Schule | |
gegangen, sagt Thomas J. „Die Gewalt war sehr real und sehr nah. Und eines | |
der Targets war auch ich.“ | |
Tatsächlich habe es damals auch einen versuchten Angriff auf ihn gegeben, | |
berichtet Thomas J. Er habe ihn abwehren können. „Es gab nur eine Wahl: | |
Entweder du rennst oder du wehrst dich.“ Es sei schnell klar gewesen, dass | |
sich die Linken vor Ort organisieren müssten, sagt er. „Es gab damals keine | |
Polizei und keinen Staat, die gekommen wären. Und die Eltern der Nazis | |
waren mit der Wendesituation beschäftigt. Wir mussten uns selber helfen.“ | |
Er habe sich damals mit anderen Linken auf dem evangelischen Kirchhof | |
getroffen, habe Selbstverteidigung eingeübt und Telefonketten vereinbart, | |
sei mit einem Messer zur Schule gegangen. | |
Im Juli 2001 wird Thomas J. dann wieder zum Ziel. Mit anderen schläft er | |
nachts auf einer Bühne eines linken Festivals in Königs Wusterhausen, um | |
das Gelände zu schützen. Als plötzlich Brandsätze auf die Bühne fliegen, | |
geworfen von zwei Rechtsextremen. „Wir wurden wach, als die Mollis über uns | |
flogen“, erinnert sich Thomas J. Dass niemand schwer verletzt wurde, sei | |
Zufall gewesen. „Es war klar, wer die Täter waren, die wurden damals | |
überwacht.“ Dennoch habe es Jahre gedauert, bis diese vor Gericht standen | |
und verurteilt wurden. | |
## Notwehr oder Selbstjustiz | |
Wie weit die antifaschistische Selbstverteidigung zuletzt in Teilen der | |
linken Szene ging, darüber wird nun demnächst vor dem Oberlandesgericht | |
Dresden verhandelt. Im ersten Prozess, gegen Lina E. und die drei | |
Mitangeklagten, hatte Richter Hans Schlüter-Staats deutliche Kritik an der | |
Gruppe geäußert. Die Bekämpfung des Rechtsextremismus sei zwar ein | |
„achtenswertes Motiv“, sagte er. Aber auch gewalttätige Nazis seien „nic… | |
vogelfrei“. Für die Angriffe habe es „keine nur ansatzweise notwehrähnlic… | |
Situation“ gegeben, es sei schlicht Selbstjustiz gewesen. | |
Thomas J. erinnert in der JVA Moabit dagegen daran, dass der Eisenacher | |
Neonazi Leon Ringl mit seiner Kampfsportgruppe [16][Knockout51] jahrelang | |
Menschen verprügelte und in der Stadt einen „Nazi-Kiez“ errichten wollte. | |
Antifa-Gruppen hätten früh darauf aufmerksam gemacht, ohne dass die Polizei | |
eingeschritten sei. Erst als es zu den Angriffen gekommen war, seien die | |
Behörden aktiv geworden. „Das war nicht irgendwer. Wie weit sollte das noch | |
gehen?“ | |
Thomas J. drohen nun mehrere Jahre Haft. Da er nur als Unterstützer der | |
Gruppe angeklagt ist, könnte er noch am glimpflichsten davonkommen. Die | |
höchste Strafe dürfte Johann G. erwarten – weit mehr als die gut fünf Jahre | |
Haft, die seine frühere Partnerin Lina E. bekam. Thomas J. sagt in der JVA | |
Moabit, er sei „optimistisch“, was den Prozess angehe. „Und was soll | |
passieren? Irgendwann ist auch das hier mit dem Knast vorbei.“ | |
10 Jun 2025 | |
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