# taz.de -- Linken droht Auslieferung nach Ungarn: Der Härtefall | |
> Deutsche Linke sollen in Budapest Rechtsextreme angegriffen haben. Zaid | |
> A. droht die Auslieferung nach Ungarn. Tobias E. war dort bereits in | |
> Haft. | |
Bild: Protest gegen die Auslieferungen nach Ungarn: Mehr als 1.000 Menschen gin… | |
Gerade erst, sagt Zaid A., habe er wieder geträumt, dass er mit Freunden | |
unterwegs sei, draußen in der Stadt. „Und dann bin ich aufgewacht und hab | |
die Gitter gesehen. Da war sofort wieder klar, wo ich bin.“ In einer Zelle, | |
wenige Quadratmeter groß, in der JVA Köln, draußen am Stadtrand. Und das | |
schon seit zwei Monaten. Zu Hause war Zaid A. noch viel länger nicht, zwei | |
Jahre schon nicht mehr. Seit der Sache mit Budapest. | |
Zaid A. sitzt am Dienstag im kargen, blassgelb gestrichenen Besuchsraum der | |
JVA Köln, als er davon erzählt. Ein Wärter hat ihn hereingeführt, ein | |
zweiter in der Ecke Platz genommen, er verfolgt das ganze Gespräch. Zaid A. | |
trägt eine blaue Pulloverjacke, die dunklen Haare kurz, setzt sich an einen | |
kleinen Holztisch, das einzige Möbelstück im Raum. Er lächelt. Es gehe ihm | |
„eher gut“, sagt der 21-Jährige. „Ich versuche klarzukommen, das Beste a… | |
der Situation zu machen. Was als Nächstes kommt, liegt ja nicht in meiner | |
Hand.“ | |
Die Situation ist die: dass Zaid A. demnächst in einem ganz anderen | |
Gefängnis sitzen könnte – in einem in Ungarn. Dorthin droht dem Nürnberger | |
und gebürtigen Syrer die Auslieferung. Die Haft in der JVA Köln, in der | |
sich Zaid A. derzeit befindet, ist bereits die Auslieferungshaft. Denn das | |
rechtsautoritär regierte Ungarn unter Viktor Orbán will ihn dort vor | |
Gericht sehen. | |
Im Februar 2023 soll Zaid A. [1][mit anderen Linken aus Deutschland und | |
Italien Rechtsextreme in Budapest angegriffen haben]. Diese hatten sich | |
dort, wie jedes Jahr, zu ihrem „Tag der Ehre“ versammelt, um den letzten | |
„Widerstand“ von SS und Wehrmacht 1945 im von der Roten Armee belagerten | |
Budapest zu glorifizieren. Aufmarschiert wird in Uniformen und Stahlhelmen, | |
gezeigt werden Hakenkreuze und Hitlergrüße. Vor zwei Jahren aber gab es | |
gewalttätigen Gegenprotest. | |
Vermummte griffen vor und nach dem Aufmarsch insgesamt neun Personen an, | |
die sie als Teilnehmende des Neonazi-Treffens ausmachten. Aus einer | |
mehrköpfigen Gruppe heraus prügelten sie auf diese ein, auch mit | |
Schlagstöcken. Nach 30 Sekunden rannten sie auf ein Signal davon. Laut den | |
ungarischen Ermittlern erlitten die Angegriffenen Kopfplatzwunden, | |
Prellungen und Knochenbrüche. Verletzungen, die lebensgefährlich hätten | |
sein können. | |
## Weder menschenrechtskonforme Haftbedingungen noch ein faires Verfahren | |
Mitverantwortlich dafür soll auch Zaid A. gewesen sein. Ungarische und | |
deutsche Ermittler berufen sich dabei auf Videoaufnahmen und | |
Zeugenaussagen. Welche genau, wissen Zaid A. und seine Anwältin Anna Busl | |
allerdings nicht. „Die Beweislage ist bisher völlig undurchsichtig“, sagt | |
Busl. „Wir kennen nur den ungarischen Auslieferungsantrag, und der bleibt | |
oberflächlich.“ Busl aber warnt eindringlich: In Ungarn würden Zaid A. | |
weder menschenrechtskonforme Haftbedingungen erwarten noch ein faires | |
Verfahren – umso mehr nicht, als er Linker und Migrant ist. „Es darf unter | |
keinen Umständen eine Auslieferung erfolgen.“ | |
Klar ist: Noch vor Ort in Budapest werden am 11. Februar 2023 zwei | |
Berliner*innen festgenommen, [2][Tobias E. und Anna M.], und die | |
Italienerin Ilaria Salis, die später bekannt wird, weil sie für eine | |
italienische Linkspartei ins Europaparlament einzieht. Nach den anderen | |
Angreifer*innen suchen ungarische Behörden mit einer Großfahndung, mit | |
Steckbriefen und Fotos – nach insgesamt elf Deutschen. Allesamt sind es | |
junge Linke, die meisten Anfang zwanzig, viele aus Sachsen oder Thüringen. | |
Einer von ihnen: Zaid A. | |
Doch die Gesuchten tauchen unter. Zwei Jahre sind sie für die deutschen und | |
ungarischen Fahnder nicht zu finden. Diese befragen Angehörige, hören | |
Telefone ab, beschatten Familienfeste – ohne Erfolg. Bis sich vor zwei | |
Monaten, am 20. Januar, [3][sieben der neun Gesuchten überraschend | |
freiwillig der Polizei stellen], in Köln, Hamm, Kiel und Bremen. Auch Zaid | |
A. ist darunter. Seitdem sitzt er in der JVA Köln. | |
War er in Budapest dabei? Zu seinem Verfahren darf Zaid A. in der JVA Köln | |
nichts sagen, so lautet die Vorgabe der JVA. Der Angestellte im | |
Besucherraum wacht darüber. Aber über die drohende Auslieferung kann Zaid | |
A. sprechen. Natürlich kreisten seine Gedanken ständig darum, sagt er. | |
„Diese Gedanken sind Dauerstress.“ Die Entscheidung mache einen „massiven | |
Unterschied“, wie sein Leben weitergehe. „Es steht fünfzig-fünfzig.“ | |
Dabei sah alles mal ganz anders aus. Im August 2014 war die Familie nach | |
Deutschland gekommen, geflohen aus Syrien, in dem der Bürgerkrieg tobte. | |
Die Familie landete erst in Sammelunterkünften, dann wurde sie nach | |
Nürnberg geschickt. Die Eltern bauten sich ein Unternehmen auf. Zaid kam | |
als 11-Jähriger in die sechste Klasse, schloss sich direkt einem Orchester | |
an, in dem er Geige spielte. „Weit überdurchschnittlich“ sei er dort über | |
Jahre engagiert gewesen, später auch im Orchestervorstand, heißt es dort. | |
Über ein Konzert schreibt eine Lokalzeitung, Zaid A.s Geigenspiel | |
„begeisterte“ mit „großer Klangschönheit“. Er macht sein Abitur, abso… | |
ein Freies Soziales Jahr an einer Schule. Und er geht auch auf Demos. Er | |
sei schon immer politisch interessiert gewesen, sagt Zaid A. in der JVA. | |
Antirassismus sei ein großes Thema für ihn. Er will Lehrer werden, geht | |
dafür zum Studium nach Köln. | |
„Bis dahin war alles perfekt“, sagt Alia A., die Mutter von Zaid A., die | |
eigentlich anders heißt, ihren Namen aber nicht öffentlich machen will. | |
Dann kam der Februar 2023. Und Zaid A. tauchte ab. „Es begann eine schlimme | |
Zeit“, sagt Alia A. „Wir haben uns immer Sorgen gemacht. Wo schläft er? Wie | |
verbringt er seine Zeit? Geht es ihm gut?“ | |
Es sind nicht nur ungarische, sondern auch deutsche Sicherheitsbehörden, | |
die in dieser Zeit warnen: [4][Die brutalen Angriffe der Linken hätten eine | |
neue Qualität] – denn schon ab 2018 verübte eine [5][Gruppe um die | |
Leipzigerin Lina E.] in Sachsen und Thüringen ähnliche Angriffe auf | |
Rechtsextreme. Es drohe eine Radikalisierung der Untergetauchten, sagt | |
Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU). Der Verfassungsschutz sieht | |
die Szene „an der Schwelle zum Linksterrorismus“. | |
Im Dezember 2023 gelingt den Fahndern eine erste Festnahme: Sie fassen Maja | |
T. in einem Berliner Hotel, eine nonbinäre Thüringer*in. [6][Es ist der | |
Fall, der später zum Politikum wird]. Auch Maja T. soll bei zwei Angriffen | |
in Budapest dabei gewesen sein, wird in der JVA Dresden inhaftiert. Am | |
Abend des 27. Juni 2024 gibt das Kammergericht Berlin dem | |
Auslieferungsersuchen Ungarns statt. Noch in der Nacht wird Maja T. vom | |
sächsischen LKA in einem Helikopter nach Österreich geflogen, von dort nach | |
Budapest gefahren. All dies, noch ehe das Bundesverfassungsgericht über | |
eine Eilbeschwerde von T.s Anwälten gegen die Auslieferung entscheiden | |
kann. Als Karlsruhe dieser tags darauf stattgibt, ist Maja T. bereits in | |
Ungarn – der Beschluss bleibt folgenlos. | |
## Vergeblicher Versuch eines Deals mit der Bundesanwaltschaft | |
Die anderen Abgetauchten aber bleiben verschwunden. Doch sie halten Kontakt | |
zu ihren Anwält*innen, die der Bundesanwaltschaft ein Angebot machen: | |
Sollte diese zusichern, dass die Verfahren in Deutschland geführt werden, | |
würden sich die Gesuchten stellen. Doch die Bundesanwaltschaft macht diese | |
Zusicherung nicht. | |
In Briefen aus der ungarischen Haft beklagt Maja T. derweil eine andauernde | |
Isolationshaft. Es gebe Bettwanzen und Kakerlaken, verweigerte Arztbesuche, | |
fehlendes gesundes Essen, kein Tageslicht in der Zelle. Regelmäßig müsse | |
T. sich entkleiden, ihr werde Schlaf entzogen, weil nachts stündlich das | |
Licht angeschaltet werde. In anderen Zellen würden Inhaftierte verprügelt. | |
„Ich höre Schreie und Schläge.“ | |
Und trotzdem stellen sich am 20. Januar Zaid A. und die anderen sechs der | |
deutschen Polizei. Warum? Er habe lange auf eine Zusicherung der | |
Bundesanwaltschaft gehofft, sagt Zaid A. „Aber da war keinerlei Willen, nur | |
Härte.“ Die Perspektive sei dann gewesen, verschwunden zu bleiben, für sehr | |
lange Zeit. „Das wäre schon möglich gewesen, es war durchaus eine | |
selbstbestimmte Zeit.“ Gleichzeitig sei er 21 Jahre, habe noch was vor mit | |
seinem Leben, wollte „zurück in die Normalität, zumindest so weit es geht�… | |
## Europäischer Haftbefehl auf Antrag Ungarns | |
Also fuhr Zaid A. am Morgen des 20. Januar mit seiner Anwältin Anna Busl | |
und einer weiteren Gesuchten zum wuchtigen Bau des Polizeipräsidium Köln, | |
holte sich vorher noch ein kleines Frühstück und einen Tee. Er werde | |
gesucht, habe er dort erklärt, und seine Papiere vorgelegt. „Die waren | |
total überfordert.“ Über eine Stunde habe er anschließend im Warteraum | |
gesessen, bis die Beamten geklärt hatten, dass Zaid A. tatsächlich gesucht | |
wurde. „Ich hätte jederzeit wieder gehen können.“ Aber der 21-Jährige bl… | |
sitzen. Dann wurde er festgenommen. | |
Was an dem Tag allerdings erst richtig klar wurde: Gegen Zaid A. lag nur | |
ein europäischer Haftbefehl auf Antrag Ungarns vor, keiner der | |
Bundesanwaltschaft. Denn Zaid A. ist kein deutscher Staatsbürger. Sein | |
Einbürgerungsprozess lief noch, stand kurz vorm Abschluss – inzwischen ruht | |
er. Für einen Nichtdeutschen, dem eine Straftat im Ausland vorgeworfen | |
wird, aber sieht sich die Bundesanwaltschaft nicht zuständig. Während die | |
anderen sechs Haftbefehle vom Bundesgerichtshof bekamen, wanderte Zaid A. | |
direkt in Auslieferungshaft. | |
Inzwischen aber sprach sich die Bundesanwaltschaft für die anderen sechs | |
Festgenommenen gegen eine Auslieferung aus: Es sei „vorrangig“, ihre | |
Verfahren in Deutschland zu führen. Für Zaid A. aber wurde diese Ansage | |
nicht erteilt. Ein Sprecher der Berliner Generalstaatsanwaltschaft, wo die | |
Verfahren derzeit gebündelt werden, sagte der taz, zu allen Verfahren, die | |
bisher eingetroffen seien, werde man einen Antrag auf Nichtauslieferung | |
stellen. Der Fall von Zaid A. ist bisher nicht dabei. | |
Der 21-Jährige kann das nicht nachvollziehen. „Ich bin hier aufgewachsen, | |
spreche besser Deutsch als Arabisch. Ich bin mit Deutschland weit mehr | |
verbunden als mit Syrien.“ Auch seine Mutter Alia A. sagt, sie liebe dieses | |
Land, habe hier ihre Kinder großgezogen. Nun aber heißt es, ihr Sohn sei | |
kein Teil dieses Landes, auch nach zehn Jahren nicht. „Das tut wirklich | |
weh.“ | |
Anwältin Anna Busl wird ebenso deutlich. „Meinem Mandanten werden dieselben | |
Taten wie den anderen sechs Beschuldigten vorgeworfen“, sagt Busl. „Wenn | |
also die anderen nicht nach Ungarn ausgeliefert werden und ihnen in | |
Deutschland ein Prozess gemacht wird, dann muss das auch für meinen | |
Mandanten gelten. Da gibt es eigentlich gar nichts zu diskutieren.“ | |
Alia A. konnte mit ihrem Mann und einer Tochter inzwischen einmal ihren | |
Sohn besuchen, seit er in Haft ist. Es war auch eine Erleichterung. „Wir | |
wussten jetzt, wo er ist. Und dass es ihm gut geht.“ Aber seitdem sei da | |
wieder eine Angst. Die Angst, dass ihr Sohn wieder verschwindet. Nun nach | |
Ungarn. „Diese Angst hat mir schon viele Nächte den Schlaf geraubt.“ | |
Und für Zaid A. steht auch aufenthaltsrechtlich viel auf dem Spiel. Seit | |
dem Sturz von Assad in Syrien steht der Geflüchtetenstatus von | |
Syrer*innen hierzulande generell infrage. Die Bundesregierung drohte | |
zuletzt wiederholt kriminellen Geflüchteten mit Abschiebungen, explizit | |
auch Syrier*innen. Auch solchen, die noch nicht verurteilt sind. | |
Wusste er, dass sein Fall kompliziert wird, komplizierter als die anderen? | |
Zaid A. hält kurz inne. „Dass es so schwierig wird, war nicht klar.“ Bereue | |
er es, dass er sich gestellt habe? „Nein. Allein für die anderen hat es | |
sich ja schon gelohnt.“ | |
Was Zaid A. aber droht, zeigt weiter der Fall Maja T.. Als im Februar das | |
Bundesverfassungsgericht der Verfassungsbeschwerde von T. recht gibt und | |
die Auslieferung nachträglich für rechtswidrig erklärt, weil das Berliner | |
Kammergericht die Haftbedingungen für Maja T. als nonbinäre Person „nicht | |
hinreichend aufgeklärt“ habe, läuft die Nachricht in Zaid A.s Zelle über | |
den Fernseher. „Das hat mich wütend gemacht. Das war ja wie eine | |
Entführung. Das reiht sich ein in die weltweite Entwicklung, in der sich | |
Autoritäre über das Recht stellen.“ Wenige Tage später begann dann in | |
Budapest der Prozess gegen Maja T. [7][In den Saal geführt wurde T. in | |
Fußfesseln und an einer Leine.] Die Staatsanwaltschaft bot einen Deal an: | |
14 Jahre gegen ein Geständnis. Maja T. lehnte ab. Nun drohen bis zu 24 | |
Jahre Haft. „Es ist sehr schwer, auf Menschenrechte zu hoffen, wenn Fälle | |
wie Maja passieren“, sagt Zaid A. | |
Wie es ist, in Ungarn inhaftiert zu sein, [8][hat auch Tobias E. erlebt]. | |
Er war es, der am 11. Februar 2023 noch in Budapest festgenommen wurde. Die | |
Polizei war auf eine Personengruppe aufmerksam geworden, hatte diese | |
verfolgt und Tobias E. und zwei andere schließlich aus einem Taxi gezerrt. | |
Dann verschwand E. für fast zwei Jahre in ungarischer Haft. | |
Inzwischen sitzt der 31-Jährige in Deutschland in Haft, in der JVA Burg, | |
einem Hochsicherheitsgefängnis auf einem Acker in Sachsen-Anhalt. Wer hier | |
zu Tobias E. gelangen will, muss penible Kontrollen durchlaufen, sieben | |
Türen müssen sich öffnen. Auch Tobias E. wird in einen nackten grauen | |
Besucherraum geführt, in schwarzer Trainingsjacke, die Haare gescheitelt. | |
Er wirkt aufgeräumt. „Die Leute hier drin beschweren sich ja über alles | |
Mögliche“, sagt der 31-Jährige. „Aber das hier ist alles nichts im | |
Vergleich zu Ungarn.“ | |
Auch Tobias E. kann nichts zu den Vorwürfen aus Ungarn sagen – auch bei | |
seinem Gespräch sitzt ein JVA-Mitarbeiter in der Ecke, dazu noch eine Frau | |
vom Landeskriminalamt. Aber Tobias E. kann über seine Haftzeit in Ungarn | |
berichten. Als er festgenommen wurde, sei er erst mal in ein Gefängnis | |
außerhalb von Budapest gebracht worden, anfangs ohne Kontakt zu einem | |
Anwalt, erzählt er. „Die Wärter begrüßten mich mit Sieg-Heil-Rufen.“ Sp… | |
sei er in ein Gefängnis nach Budapest gekommen. Die Erfahrungen seien dort | |
die gleichen gewesen: „Gewalt und Willkür.“ | |
Er sei in Zellen mit ein oder zwei anderen Gefangenen gewesen, erzählt | |
Tobias E. Es habe Kakerlaken und Bettwanzen gegeben. Im Winter sei es | |
klirrend kalt und gleichzeitig verboten gewesen, sich in Bettdecken zu | |
hüllen. Im Sommer wiederum so heiß, dass Gefangene kollabierten. Auch | |
nachts habe es Zellenkontrollen gegeben, regelmäßig musste man sich dafür | |
komplett ausziehen. Das Essen habe aus Reis oder zerklumpten Nudeln | |
bestanden. Strom wurde oft über Stunden abgestellt, auch als | |
Kollektivstrafe. In Duschräume habe man nur sporadisch gedurft – oft, ohne | |
dass es dort Wasser gab. Viele Gefangene seien krank geworden, wären mit | |
Bissen übersät gewesen. „Ich hatte zum Glück nur Ausschlag und einen | |
zerstörten Backenzahn nach einer Zahn-OP im Gefängnis.“ | |
## Prügel im Duschraum – wo es keine Kameras gibt | |
Schlimmer aber sei die Gewalt gewesen, sagt Tobias E. Er habe versucht, | |
sich möglichst unauffällig zu verhalten und so unter dem Radar der Wärter | |
zu bleiben. Andere Gefangene aber seien wegen Nichtigkeiten oder | |
inszenierter Anlässe von Wärtern oder „vermummten Kommandos“ verprügelt | |
worden – im Duschraum, wo es keine Kameras gab. Oder offen im Flur, selbst | |
als Konsulatsangehörige vor Ort waren. „Es geschah ständig und war völlig | |
unberechenbar.“ Gefangene hätten Knochenbrüche von den Attacken erlitten. | |
Ein älterer Gefangener, ein Algerier, habe danach Atemnot bekommen, er sei | |
gestorben. | |
Und Tobias E. bemerkte schnell Hierarchien. Als Nicht-Ungar habe er weniger | |
Essen bekommen, wurde häufiger beschimpft. Als Weißer sei es ihm aber immer | |
noch besser ergangen als arabischen Gefangenen. „Die wurden mit | |
Ziegenlauten provoziert. Es war menschenverachtend.“ Die deutsche Botschaft | |
habe von den Zuständen gewusst, ist Tobias E. überzeugt. „Aber sie haben | |
nichts dagegen gemacht. Ich habe meiner Familie gesagt, sie sollten mich | |
bitte nicht besuchen kommen, weil es so schrecklich war.“ | |
Die Berichte von Tobias E. lassen sich schwer überprüfen. Aber auch NGOs | |
wie das ungarische Helsinki-Komitee warnen vor Gewalt durch Haftpersonal in | |
ungarischen Gefängnissen, vor Isolationshaft und schlechter Hygiene. Zudem | |
gebe es politische Einflussnahme auf Verfahren. Auch die EU-Kommission | |
rügte wiederholt die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. | |
Tobias E. stand schließlich am 29. Januar 2024 vor einem Budapester Gericht | |
– dem gleichen, in dem nun auch Maja T. der Prozess gemacht wird. Die | |
Anklage: Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Einen konkreten | |
Angriff konnte die Staatsanwaltschaft Tobias E. nicht nachweisen. Anders | |
als Maja T. ließ er sich auf einen Deal ein. Auch dazu will Tobias E. sich | |
nicht äußern. [9][Der Berliner wurde schließlich zu drei Jahren Haft | |
verurteilt], die sein ungarischer Anwalt später auf ein Jahr und zehn | |
Monate absenken konnte. Mit der angerechneten U-Haft saß er die Strafe bis | |
zum letzten Tag in Ungarn ab. | |
„Ich wollte nur nach Hause, hatte schon Flugtickets, es war alles | |
gebucht“, erzählt Tobias E. Dann aber beantragte die Bundesanwaltschaft | |
seine erneute Festnahme – und seine Auslieferung nach Deutschland. Weil dem | |
31-Jährigen hierzulande zwei weitere Angriffe vorgeworfen wurden, 2019 in | |
Dessau und Eisenach, hier als Teil der Lina-E.-Gruppe. Tobias E. wurde am | |
20. Dezember nach Frankfurt/Main ausgeflogen, dort sofort wieder | |
festgenommen. Seitdem sitzt er in der JVA Burg, wartet nun auf seine | |
nächste Anklage. „Das ist alles sehr fragwürdig“, findet seine Anwältin | |
Anna Luczak. Gerade die Beweise für den Angriff in Dessau seien dünn, auch | |
dürfe es am Ende keine Doppelbestrafung geben. „Und die erneute Haft ist | |
völlig unnötig. Mein Mandant hat sich nie einem Verfahren entzogen, er | |
würde sich auch den neuen Vorwürfen stellen.“ | |
Für Zaid A. sieht das seine Anwältin Anna Busl nicht anders, hält dessen | |
Haft für ebenso unbegründet. Da dieser sich selbst gestellt habe, sei eine | |
Fluchtgefahr abwegig. Busl stellte bereits einen Antrag auf Haftverschonung | |
von Zaid A. Darüber ist bisher noch nicht entschieden. | |
Inzwischen aber beschäftigen die Budapest-Fälle auch das Auswärtige Amt von | |
Noch-Ministerin Annalena Baerbock (Grüne) und die Bundesregierung. Die | |
Vorführung von Maja T. beim Prozess in Budapest nannte auch das Ministerium | |
„befremdlich“ und versicherte, man setzte sich „intensiv“ für den Fall… | |
Maja T.s Anwälte kritisierten dagegen, davon bekomme man nicht viel mit. Zu | |
den Auslieferungsersuchen heißt es aus dem Auswärtigen Amt, dies sei allein | |
eine Frage der Justiz, die Bundesregierung spiele hier keine Rolle. | |
## Kommende Woche wird über drei Auslieferungsverfahren entschieden | |
Dabei zeigte ausgerechnet das von der Postfaschistin Giorgia Meloni | |
regierte Italien, das es anders geht. Im Fall der ebenfalls in Budapest | |
gefassten Ilaria Salis bestellte es den ungarischen Botschafter ein, als | |
auch Salis in Ketten vor Gericht vorgeführt wurde. Die kam danach erst in | |
Hausarrest, [10][dann erhielt sie Immunität, weil sie ins Europaparlament | |
einzog]. Die Auslieferung eines zweiten Italieners wegen der Budapester | |
Angriffe lehnte ein Mailänder Gericht ab. | |
Es sei bitter, dass Deutschland so wenig Druck auf Ungarn mache, sagt Zaid | |
A. in der JVA Köln. „Dabei sagt doch selbst das Bundesverfassungsgericht, | |
dass das rechtswidrig war.“ Käme es in seinem Fall zur Auslieferung, wäre | |
es wohl noch unwahrscheinlicher, dass sich das Auswärtige Amt für ihn, den | |
Syrer, einsetze. „Dann wäre mein Schutz komplett weg.“ | |
Dafür setzen sich nun andere für Zaid A. ein. In Nürnberg und anderen | |
Städten, auch vor der JVA Köln, protestierten Antifa-Gruppen, um eine | |
Auslieferung von ihm und den anderen zu verhindern. Freunde aus dem | |
Orchester planen eine Aktion. Er komme kaum hinterher, Briefe zu | |
beantworten, sagt Zaid A. Das alles sei eine „super Stütze, man fühlt sich | |
nicht allein“. | |
Auch die Linken-Neubundestagsabgeordnete Lea Reisner ist beim Besuch bei | |
Zaid A. im Gefängnis dabei. Auch sie empört der Fall. „Zaid darf unter | |
keinen Umständen nach Ungarn ausgeliefert werden“, sagt sie. Die | |
Rechtsstaatlichkeit stehe dort seit Jahren in der Kritik, es drohe ihm eine | |
„unmenschliche Behandlung“ und eine „unrechtmäßige Abschiebung nach | |
Syrien“. „Das wäre ein klarer Verstoß gegen internationales Recht.“ | |
Tatsächlich könnte sich die Sache bald entscheiden. Eine Sprecherin des | |
Berliner Kammergerichts erklärte der taz, dass dort kommende Woche über die | |
ersten drei Auslieferungsverfahren der im Januar Festgenommenen entschieden | |
werde. Zaid A.s Fall gehört nicht dazu. Würde hier am Ende tatsächlich auf | |
eine Auslieferung entschieden, will seine Anwältin durch alle Instanzen | |
gehen. Aber auch bei einem Prozess in Deutschland wäre der Ausgang offen. | |
Erst zuletzt klagte die Bundesanwaltschaft eine Beschuldigte der | |
Budapest-Angriffe, die Nürnberger Kunststudentin Hanna S., vor dem | |
Oberlandesgericht München an. Der Vorwurf: versuchter Mord. | |
Alia A., die Mutter von Zaid A., hofft trotzdem auf einen Prozess | |
hierzulande. „Wenn er nach Ungarn muss, ist seine Zukunft zerstört. Hier in | |
Deutschland hätte er immer noch eine Chance.“ Auch Zaid A. selbst hofft auf | |
diese Chance. Wenn er irgendwann wieder frei sei, würde es mit dem | |
Lehrerjob nun wohl schwierig, meint der 21-Jährige. Aber er würde dann | |
etwas anderes studieren oder vielleicht auch etwas Handwerkliches machen. | |
In der JVA hilft er nun anderen, übersetzt für sie Dokumente. Er sei hier | |
„eine Art Hobbyanwalt“, sagt er und lacht. Und er spielt viel Gitarre, | |
dies wurde ihm in der Zelle erlaubt. Zaid A. versucht jetzt wieder das | |
Beste aus der Situation zu machen. Und auf das Beste zu hoffen. | |
20 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Fahndung-gegen-Linksaussen/!5985352 | |
[2] /Urteil-gegen-deutschen-Autonomen/!5988475 | |
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[5] /BGH-Urteil-zu-Lina-E/!6073363 | |
[6] /Prozess-gegen-Maja-T/!6068242 | |
[7] /Prozess-gegen-Maja-T/!6068242 | |
[8] /Urteil-gegen-deutschen-Autonomen/!5988475 | |
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