# taz.de -- Der 1. Mai international: Kampf für gute Arbeit – weltweit | |
> Arbeitnehmerrechte sind unter Druck. Zum 1. Mai wirft die taz einen | |
> Blick in die Türkei, nach Polen, Italien, Frankreich, Argentinien und | |
> China. | |
Bild: Gewerkschaftsprotest am 1. Mai 2024 durch Istanbuls innenstadt | |
Diesmal geht es auch um İmamoğlu | |
Der 1. Mai ist in der Türkei nicht nur der Kampftag der Gewerkschaften, | |
sondern der Opposition insgesamt. Um ihm die politische Brisanz zu nehmen, | |
machte der damalige Ministerpräsident und heutige Präsident Recep Tayyip | |
Erdoğan den Tag 2009 zum gesetzlichen Feiertag. Er sollte damit zu einem | |
Familien – und Frühlingsfest umfunktioniert werden. Doch das schlug fehl. | |
Spätestens seit dem ersten landesweiten Aufstand gegen Erdoğan 2013 ist der | |
1. Mai wieder zu einem Tag politischer Hochspannung geworden. Nach dem | |
sogenannten [1][Gezi-Aufstand] hatte Erdoğan damals alle Demos rund um den | |
zentralen Istanbuler Taksimplatz verboten, dem traditionellen | |
Aufmarschplatz der türkischen Gewerkschaftsbewegung am 1. Mai. Und so | |
spielen sich seit 2013 jedes Jahr die selben Szenen ab: Während die | |
Gewerkschaften ihre Anhänger sammeln, um Richtung Taksimplatz zu | |
marschieren, riegelt die Regierung den Platz schon am Vorabend weiträumig | |
ab. | |
Für die linken Gewerkschaften ist der Taksimplatz aber noch mehr. Er ist | |
der Ort des größten Massakers in der modernen Türkei, an das sie mit ihren | |
Aufmärschen erinnern wollen. Am 1. Mai 1977 wurde die dort stattfindende | |
Kundgebung von Rechtsradikalen, mutmaßlich Grauen Wölfen, angegriffen. Die | |
Killer schossen von den Dächern der umliegenden Häuser, die Massenpanik tat | |
ihr Übriges. 34 Demonstranten wurden getötet. | |
Dieses Massaker an den Gewerkschaftern wird im Nachhinein auch als Auftakt | |
zu einem immer schwerwiegenderen bewaffneten Konflikt zwischen rechten und | |
linken Gruppen gesehen, der schließlich im Militärputsch von 1980 endete. | |
Nach dem Putsch wurden alle Gewerkschaften zerschlagen, die Funktionäre der | |
linken Gewerkschaftsföderation DISK für Jahre ins Gefängnis gesteckt. Erst | |
in den 1990er-Jahren wurde Gewerkschaftsarbeit wieder möglich, ist aber bis | |
heute erschwert. Streiks sind legal so gut wie unmöglich, Kündigungen von | |
aktiven Gewerkschaftern fast die Regel. Vor allem gegen diese Unterdrückung | |
der Gewerkschaften wird am 1. Mai demonstriert. | |
Der 1. Mai in diesem Jahr wird allerdings anders. Die linke | |
Gewerkschaftsföderation DISK hat entschieden, ihre Demonstration nach | |
Kadiköy, dem Zentrum der asiatischen Seite Istanbuls, zu verlegen. Man will | |
nicht wieder den rituellen Kampf um den Taksimplatz aufführen, [2][sondern | |
die Oppositionsbewegung zur Freilassung des im März verhafteten Istanbuler | |
Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu unterstützen]. So wird am 1. Mai die gesamte | |
Opposition gemeinsam für die Freiheit von İmamoğlu und den Hunderten | |
anderen Gefangenen demonstrieren, die während der Aufmärsche seit März | |
festgenommen wurden. Jürgen Gottschlich, Istanbul | |
## Die kämpfenden Frauen von Łódź | |
Majówka heißen in Polen die drei Mai-Feiertage, auf die sich alle freuen: | |
1. Mai – Tag der Arbeit, 2. Mai – Tag der Flagge und 3. Mai – Tag der | |
Verfassung von 1791. Mit etwas Geschick und ausgleichbaren Überstunden kann | |
man also eine ganze Woche zusätzlichen Urlaub abgreifen. | |
Dabei steht der Tag der Arbeit, der zu realsozialistischer Zeit ein | |
staatlicher Feiertag mit Pflichtteilnahme an Propagandaveranstaltungen der | |
Partei war, bei den Polen eigentlich gar nicht hoch im Kurs. Aber als | |
erster Tag der Majówka ist er für viele der Auftakt für ein erstes | |
Grillfest im Grünen und einen Kurztrip an die Ostsee, in die Tatra oder ins | |
Ausland. | |
Einige Tausend ArbeitnehmerInnen werden aber auch ganz traditionell am | |
1.-Mai-Marsch in Łódź, der drittgrößten Stadt Polens, teilnehmen. Łódź | |
stieg im 19. Jahrhundert zur Textilmetropole auf. In den riesigen Fabriken | |
arbeiteten vor allem Frauen, denen die filigrane und kräftezehrende Arbeit | |
an den Webstühlen leichter fiel als den meisten Männern. Diese verdingten | |
sich zumeist auf dem Bau, in der Landwirtschaft und versorgten Haushalt und | |
Kinder. | |
Da die Arbeitsbedingungen in den Fabriken schlecht waren – der | |
ohrenbetäubende Lärm und die vom Wasserdampf ständig feuchte Luft machte | |
den Arbeiterinnen zu schaffen –, begannen sich die Frauen früh in | |
Gewerkschaften zu organisieren. Anders als in Schlesien, wo die Kohlekumpel | |
auf die Barrikaden gingen oder später an der Ostsee, wo die Werftarbeiter | |
für höheren Lohn streikten, gingen die Textilmagnaten in Łódź meist schnell | |
auf die Forderungen der Weberinnen ein. Die Maschinen mussten Tag und Nacht | |
laufen, sonst lohnte sich das Geschäft nicht. | |
Auch in 1970er- und 80er-Jahren, als die Gewerkschafts- und | |
Freiheitsbewegung Solidarność im ganzen Land Triumphe feierte, waren es in | |
Łódź die Frauen, die den Arbeitskampf anführten. Der Systemwechsel 1989 von | |
einer sozialistischen Einparteienherrschaft hin zu einer pluralistischen | |
Demokratie mit freier Marktwirtschaft und der gleichzeitige Aufstieg Chinas | |
zum führenden Billiganbieter von Stoffen und Kleidung, löste in Łódź | |
reihenweise Fabrikschließungen und Massenentlassungen aus. Die | |
Textilmetropole Polens war pleite. | |
Am Tag der Arbeit wird Łódź 2025 wieder im Rampenlicht stehen. Ganz Polen | |
kann dann sehen, dass die Stadt auf dem besten Weg ist, [3][zur führenden | |
Mode-, Film- und Kunstmetropole des Landes aufzusteigen]. Durch das breit | |
angelegte Sanierungsprogramm wird aus der einst dreckigen Industriestadt | |
eine moderne Kulturmetropole, die stolz ist auf ihre vielen | |
Jugendstilhäuser, ihre AvantgardekünstlerInnen und ModedesignerInnen. Und | |
auf ihre selbstbewussten Arbeiterinnentraditionen. Gabriele Lesser, | |
Warschau | |
## Friedliche Aussichten – trotz Milei | |
Mit einer Ankündigung hat die argentinische Regierung den | |
Gewerkschaftsdachverband CGT in ein Dilemma gestürzt. „Donnerstag, 1. Mai: | |
Tag der Arbeit. Freitag, 2. Mai: arbeitsfreier Tag für touristische | |
Zwecke.“ Die Folge dieses Fin de Semana XXL, dieses viertägigen | |
Wochenendes: Am 1. Mai sind viele schon unterwegs Richtung Kurzurlaub statt | |
demonstrierend auf der Straße. | |
Also soll die traditionelle Veranstaltung zum Tag der Arbeit dieses Jahr am | |
30. April stattfinden, doch da müssen die meisten arbeiten. Der | |
[4][diesjährige Marsch zum Monument „Canto al Trabajo“] (Ode an die Arbeit) | |
dürfte deshalb im engsten Kreis begangen werden. Nur kleine linke Parteien | |
und Organisationen haben zu einer Veranstaltung direkt am 1. Mai | |
aufgerufen, und auch sie rechnen mit keiner allzu großen Teilnehmerzahl: | |
Die Protestveranstaltung findet in einer überdachten und überschaubaren | |
Sporthalle satt. Und so wird es in den Straßen von Argentiniens Hauptstadt | |
Buenos Aires am 1. Mai ruhig und leer sein, während sich eine Blechkarawane | |
mit jenen, die es sich leisten können, in Richtung der südlichen Badeorte | |
am Atlantik bewegen wird. | |
Diese friedlichen Aussichten für den 1. Mai überraschen angesichts der | |
radikalen Sparpolitik der nicht mehr ganz so neuen Regierung des libertären | |
Präsidenten Javier Milei. Die führte bereits zur Streichung von | |
Zehntausenden von Arbeitsplätzen und [5][zum Rückgang der Reallöhne und | |
Renten und damit der Kaufkraft der Einkommen]. Doch so wie der Wahlsieg von | |
Javier Milei die gesamte politische Landschaft wie ein Erdbeben erschüttert | |
hat, hat er auch die Gewerkschaften getroffen – auch wenn Milei erst vor | |
wenigen Wochen den dritten Generalstreik während seiner siebzehnmonatigen | |
Amtszeit erleben musste. | |
Wie die traditionellen Parteien sind auch die Gewerkschaften bei vielen | |
diskreditiert. Einige ihrer Bosse sind seit Jahrzehnten im Amt oder ihre | |
Nachfolge wurde innerfamiliär geregelt. Gleichzeitig gleichen viele | |
Einzelgewerkschaften eher Sozial- und Krankenversicherungsunternehmen, die | |
ihre eigenen Interessen verfolgen, anstatt als kämpferische Organisationen | |
für die Rechte der Arbeitnehmer einzutreten. | |
Dies war nicht immer der Fall. Im Jahr 1890 wurde der 1. Mai in Buenos | |
Aires zum ersten Mal mit Demonstrationen gefeiert, die hauptsächlich aus | |
dem damaligen sozialistischen Lager kamen. Seit 1925 ist der 1. Mai ein | |
gesetzlicher Feiertag im Land, der laut Gesetzestext „die Pflicht der | |
öffentlichen Hand beinhaltet, ihn zu einem heiteren und glückverheißenden | |
Tag der sozialen Solidarität und des geistigen Friedens zu machen“. Ein | |
Satz, der auch aus der eingangs erwähnten Ankündigung der Regierung von | |
Milei stammen könnte. Jürgen Vogt, Buenos Aires | |
## Stress in der Goldenen Woche | |
Wer beim Tag der Arbeit im selbsternannten „Arbeiterparadies“ China an | |
Fahnen schwingende Demomärsche denkt, könnte falscher nicht liegen. Wenig | |
fürchtet die Parteiführung mehr als Menschenansammlungen, die politische | |
Forderungen stellen. Doch zumindest eine Gemeinsamkeit gibt es zum | |
deutschen Feiertag: Die chinesischen ArbeiterInnen können am 1. Mai | |
ebenfalls entspannen. Genauer gesagt haben sie dieses Jahr sogar bis zum 5. | |
Mai frei. | |
Das Kalkül hinter den sogenannten „Goldenen Wochen“, von denen Ende der | |
90er Jahre drei im Jahr eingeführt wurden, war ein rein ökonomisches. Die | |
Parteiführung wollte damals mit verlängerten Wochenenden [6][den schwachen | |
Binnenkonsum] ankurbeln. Das Wohl der ArbeiterInnen stand nur an zweiter | |
Stelle. Der Tag der Arbeit bedeutet für viele ChinesInnen denn auch vor | |
allem eins: Stress. Wenn 1,4 Milliarden Menschen auf einen Schlag Ferien | |
machen, ist der Andrang auf die Zug- und Flugtickets riesiger als das | |
begrenzte Angebot. | |
Doch der Bevölkerung bleibt wenig anderes über, als mitzudrängeln. | |
Schließlich gibt es kaum Alternativen zum Verreisen. Die meisten Chinesen | |
haben lediglich Anspruch auf fünf bezahlte Ferientage im Jahr. Und selbst | |
die, die öfter freinehmen dürften, tun dies nicht – aus „Respekt“ gegen… | |
den Vorgesetzten. Der soziale Druck, als Faulenzer dazustehen, ist immens. | |
Die Arbeitskultur passt längst nicht mehr zu einer Volkswirtschaft, die in | |
vielen Zukunftstechnologien führend ist und neben dem produzierenden | |
Gewerbe auch den Dienstleistungssektor stärken möchte. Insbesondere die | |
urbanen Millennials leiden unter einem kollektiven Burn-out und anlässlich | |
des Tags der Arbeit posaunen sie ihren Unmut oft auf den sozialen Medien | |
hinaus. | |
Die Staatsführung scheint allmählich einzulenken. Denn sie hat begriffen, | |
dass die kollektive Überarbeitung nicht förderlich ist, um die | |
demografische Alterung der Gesellschaft zu stoppen. Die Geburtenrate hat | |
sich während der letzten zehn Jahren halbiert. Das bedeutet natürlich auch, | |
dass die wirtschaftliche Produktivität schon bald sinken wird. | |
Dementsprechend sind die Unternehmen angewiesen, ihren Angestellten eine | |
bessere Work-Life-Balance zu bieten. Das führt auch dazu, dass in vielen | |
Büros nach 22 Uhr automatisch die Lichter abgedreht werden – um zu | |
vermeiden, dass sich einige „vorbildliche“ Arbeiter aus falsch verstandener | |
Aufopferung die Nächte um die Ohren schlagen. Fabian Kretschmer, Seoul | |
## Megakonzert statt politischen Drucks | |
Auch dieses Jahr werden am 1. Mai Zehntausende in Mailand, Turin, Neapel, | |
Palermo, Rom und kleineren Städten Italiens auf die Straße gehen. Sie | |
folgen dem Aufruf der drei großen Gewerkschaftsbünde CGIL, CISL und UIL. | |
Auf dem Papier stellen die drei Bünde eine Macht dar. Immerhin elf | |
Millionen Menschen gehören ihnen an, neben zahlreichen Rentner*innen | |
sind darunter knapp sieben Millionen Arbeitnehmer*innen – ein für | |
europäische Verhältnisse ordentlicher gewerkschaftlicher Organisationsgrad | |
von gut 30 Prozent. | |
Das sieht nach gewerkschaftlicher Einheit und Stärke aus. Doch das Bild | |
trügt. Sowohl in der Tarifpolitik als auch im politischen Raum sind die | |
Arbeitnehmerorganisationen seit Jahren in der Defensive. Italien | |
verzeichnet die mieseste Lohnentwicklung aller OECD-Staaten. Während die | |
Reallöhne zwischen 1990 und 2020 überall sonst stiegen, gingen sie in | |
Italien um rund 3 Prozent zurück. Und auch die durch die hohe Inflation | |
ausgelösten Reallohnverluste seit 2022 vermochten die Gewerkschaften nicht | |
auszugleichen. [7][Giorgia Melonis Rechtsregierung] will von Dialog nichts | |
wissen. | |
In der Tarifpolitik setzen die wirtschaftlichen Daten den | |
Arbeitnehmer*innen zusätzlich zu. Italien hat seit gut drei | |
Jahrzehnten innerhalb der EU die schlechteste Entwicklung beim Wachstum des | |
BIP und bei der Produktivität. Darüber hinaus weist es eine kleinteilige, | |
zersplitterte Firmenstruktur auf, in der kleine Klitschen dominieren und | |
die Gewerkschaften meist gar nicht präsent sind. | |
Im politischen Raum wiederum sind die drei Bünde tief gespalten. Der größte | |
Bund, die linke CGIL, fährt ebenso wie die drittgrößte Organisation, die | |
UIL, einen klaren Antiregierungskurs, während die in katholischer Tradition | |
stehende CISL von Opposition gegen Meloni nichts wissen will. Das zeigt | |
sich beim Ruf nach der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, laut | |
vorgetragen von der CGIL und der UIL, von der CISL dagegen abgelehnt. | |
Ebenso bei der von der CGIL angestrengten Volksabstimmung, die auf die | |
Abschaffung diverser Gesetze zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zielt. | |
Auch wenn alle drei Organisationen am 1. Mai wieder gemeinsam auf die | |
Straße gehen, ist ihr Verhältnis unterkühlt. Politischer Druck lässt sich | |
so nicht aufbauen. | |
Doch ein Erfolg ist den drei Bünden schon jetzt gewiss: das „Concertone“, | |
ein Megakonzert mit freiem Eintritt, zu dem sie am 1. Mai auf der riesigen | |
Piazza San Giovanni in Rom aufrufen. Dutzende italienische Popstars werden | |
den ganzen Tag über rund 500.000 meist jungen Zuschauer*innen einheizen. | |
Wenigstens dieses von den Gewerkschaften ausgerichtete Großereignis erfreut | |
sich ungebrochener Popularität. Michael Braun, Rom | |
## Getrennt, aber allesamt gegen Macrons Rentenreform | |
„Vergessen wir nicht, dass der 1. Mai nicht der Tag der Arbeit ist, den | |
Pétain (der Chef der Kollaboration mit den Nazi-Besetzern von 1940 bis | |
1945) ins Leben gerufen hat, sondern der internationale Tag des Kampf für | |
die Arbeiterrechte und der internationalen Solidarität“, erinnert Fabrice | |
Lerestif, Sekretär der FO-Gewerkschaftsverband in der Bretagne seine | |
Kolleginnen und Kollegen. „In einer Welt, in der die Lüge triumphiert, in | |
der Trump den Friedensnobelpreis verlangt, Putin Lektionen in Sachen | |
Demokratie erteilt und Marine Le Pen sich auf den Kampf von Martin Luther | |
King beruft“, hält er es für notwendig, die wahre Geschichte des 1. Mai zu | |
verteidigen. In seiner Stadt Rennes, einer Hochburg der sozialen Bewegungen | |
in Frankreich, demonstrieren die Gewerkschaften und Linksorganisationen | |
einheitlich. | |
In Paris dagegen feiern die großen Gewerkschaftsverbände (CGT, FO, CFDT und | |
UNSA) den 1. Mai, wie oft schon in der jüngeren Vergangenheit, getrennt. | |
Was aber nicht bedeutet, dass sie sehr unterschiedliche Forderungen im | |
Kampf für die Rechte der Werktätigen stellen. Ganz im Gegenteil bleiben die | |
Gewerkschaften zumindest in einem Punkt einig und geschlossen in ihrer | |
Mobilisierung zum Widerstand: Die Regierung, und mit ihr Staatspräsident | |
Emmanuel Macron, müsse auf die sehr unpopuläre Rentenreform von 2023 | |
zurückkommen und die pauschale Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters | |
zurücknehmen. | |
Das heißt indes nicht, dass alle prinzipiell gegen eine Reform wären, die | |
langfristig die Finanzierung des Systems sicherstellen soll. Vor allem die | |
traditionell zu Kompromissen bereite CFDT, die ursprünglich aus der | |
christlich-sozialen Arbeiterbewegung hervorgegangen ist, wäre bereit, mit | |
den Arbeitgebern und der Regierung über die Beitragszahlungen der | |
Sozialpartner oder auch die Bedingungen für den Ruhestand zu diskutieren. | |
Die klassenkämpferischen Gewerkschaften, allen voran die 130-jährige CGT | |
(Confédération Générale Travail) und die von dieser im Kalten Krieg | |
abgespaltene und ursprünglich „antikommunistische“ Force Ouvrière (FO) | |
machen aus der Rückkehr zum Rentenalter mit 62 und der Ablehnung jeglicher | |
Verschlechterung der Bedingungen für die Altersvorsorge der | |
Arbeiter*innen eine Existenzfrage. Die CFDT ist heute vor der CGT und | |
FO der mitgliederstärkste nationale Bund. | |
Aufgrund ihrer Geschichte wollen vor allem die auf ihre politische | |
Unabhängigkeit bestehenden Gewerkschaften des viertgrößten Verbands UNSA | |
(Union des syndicats autonomes) eindeutig politische Forderungen oder | |
Proteste wie zum Beispiel gegen die Aufrüstung und „Kriegswirtschaft“ in | |
Abgrenzung zu den übrigen Gewerkschaftstendenzen nicht unterstützen. Im | |
Gegensatz zur UNSA ist der Verband Solidaires (zum Teil entstanden aus dem | |
von der CFDT ausgeschlossenen linken Flügels) politisch sehr links | |
engagiert. | |
Allen Gewerkschaften gemeinsam ist seit vielen Jahren das Problem des sehr | |
geringen Organisationsgrads. Waren nach dem Krieg rund 30 Prozent der | |
Arbeitnehmer Mitglied eine Verbands, waren es 1980 nur noch 15 und heute | |
wie seit rund 20 Jahren gerade noch knapp 10 Prozent. Diese schwache | |
Repräsentativität erklärt es auch teilweise, dass in Frankreich nie ein | |
wirklicher sozialer Dialog zustande kam, in dem die Gewerkschaften wirklich | |
das nötige Gewicht hatten. Alles wird so zu einer Frage der auf der Straße | |
und mit Streiks „gemessenen“ Kräfteverhältnisse. | |
Wirklich stark bei eindrucksvollen Aktionen sind die Gewerkschaften im | |
öffentlichen Dienst, insbesondere bei der Bahn und den städtischen | |
Verkehrsbetrieben sowie im Bildungssektor. Das erlaubt es ihnen, die | |
Regierungspolitik (wie bei der Reform des Arbeitsrechts und des | |
Rentenalters) in wochenlangen Konflikten herauszufordern. Da die Regierung | |
bei den Bildungsausgaben sparen will, ist eines sicher: Die nächste | |
Streikbewegung kommt demnächst. Rudolf Balmer, Paris | |
1 May 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Die-Bewegung-rund-um-den-Taksim-Platz/!5065557 | |
[2] /Grosskundgebung-fuer-Freilassung-mamolus/!6079608 | |
[3] /Reise-nach-Polen/!5952602 | |
[4] /Argentiniens-Gewerkschaften-am-1-Mai/!6008112 | |
[5] /Proteste-in-Argentinien/!6071846 | |
[6] /Diesmal-meint-es-Peking-ernst/!6073141 | |
[7] /Italien-unter-Meloni/!5963994 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
Rudolf Balmer | |
Michael Braun | |
Gabriele Lesser | |
Fabian Kretschmer | |
Jürgen Vogt | |
## TAGS | |
Arbeit | |
Tag der Arbeit / 1. Mai | |
GNS | |
Gewerkschaft | |
wochentaz | |
Social-Auswahl | |
GNS | |
Unternehmen | |
Games | |
Tag der Arbeit / 1. Mai | |
Tag der Arbeit / 1. Mai | |
Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan | |
Tag der Arbeit / 1. Mai | |
Prekäre Arbeit | |
Arbeitszeit | |
wochentaz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Autoritäre und extreme Regierungen: Arbeiten wird riskanter | |
Die Unterdrückung von Arbeitnehmerrechten nimmt zu – besonders in Europa | |
und Amerika. Das zeigt ein Index des Internationalen Gewerkschaftsbunds. | |
Arbeit in der Games-Branche: Von wegen spielerisch | |
Die Games-Branche gibt sich lustig, kollegial und progressiv. Doch hinter | |
den Kulissen leiden Entwickler:innen unter Stress und Sexismus. | |
Demos der Gewerkschaften: Über eine Viertelmillion Menschen | |
Zum 1. Mai demonstrieren bundesweit Hunderttausende – in Köln gegen | |
Jobabbau, in Görlitz für Gerechtigkeit und überall gegen rechte Dominanz. | |
Demos zum Tag der Arbeit: „Achtstundentag statt Hamsterrad“ | |
Mehr als 300.000 Menschen demonstrieren für bessere Arbeitsbedingungen und | |
höhere Löhne. Kanzler Scholz wirbt für „starke Gewerkschaften“. | |
1. Mai in der Türkei: Polizeigewalt und viele Festnahmen in Istanbul | |
Zum 1. Mai mobilisieren türkische Opposition und Gewerkschaften zu einer | |
Großkundgebung. Am Taksimplatz nimmt die Polizei Hunderte Menschen fest. | |
Tag der Arbeit: Verdi warnt vor Ende des Acht-Stunden-Tags | |
In Deutschland gilt der Acht-Stunden-Tag – Schwarz-Rot will ihn aber | |
abschaffen. Zum Tag der Arbeit warnt ein Spitzengewerkschafter vor | |
Mehrbelastung. | |
Pläne der neuen Regierung: Mehr Überstunden bis ins hohe Alter | |
Mehr Überstunden, weniger Teilzeit und arbeiten bis ins hohe Alter: ein | |
Blick auf die Pläne der neuen Regierung zum Tag der Arbeit. | |
Koalitionspläne für Wochenarbeitszeit: Effektiv mehr Zeit | |
Der DGB kritisiert die geplante Flexibilisierung der Wochenarbeitszeit. | |
Doch die Vorteile der Koalitionspläne für die Arbeitnehmer überwiegen. | |
Koalitionsvertrag schwarz-rot: Immer schön fleißig! | |
Ein Blick in den Koalitionsvertrag von Union und SPD zeigt: Die künftige | |
Regierung will Politik für Leistungsträger machen. Wer sind die eigentlich? |