Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Demos der Gewerkschaften: Über eine Viertelmillion Menschen
> Zum 1. Mai demonstrieren bundesweit Hunderttausende – in Köln gegen
> Jobabbau, in Görlitz für Gerechtigkeit und überall gegen rechte Dominanz.
Bild: Der DGB ruft unter dem Motto „1. Mai – Mach dich stark mit uns!“ zu…
Görlitz und Köln taz | Mit hunderten Demonstrationen und Kundgebungen in
ganz Deutschland haben die Gewerkschaften [1][am 1. Mai] ihre Forderungen
nach Zukunftsinvestitionen, fairen Löhnen und einem starken Sozialstaat
untermauert. Bundesweit kamen nach Gewerkschaftsangaben rund 310.000
Menschen, im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen allein
waren es bei rund 70 Veranstaltungen rund 90.000. In Köln zogen die
Demonstrant:innen vom Haus des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) am
Hans-Böckler-Platz zum zentralen Heumarkt – dort waren es rund 8.000.
Auf der DGB-Bühne auf dem Heumarkt erklärte IG Metall-Vorstand Hans-Jürgen
Urban als Hauptredner, Arbeitnehmer:innen dürften und wollten nicht
mit „Arbeitsplatzabbau und Einkommensverzicht“ dafür zahlen, dass viele
Unternehmen den Wandel hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft „verschlafen“
hätten: „Klimaneutrales Arbeiten, Konsumieren und Leben“ – das sei „die
Jahrhundertaufgabe“, vor der nicht nur die deutsche Gesellschaft stehe.
Nötig sei dazu „grüner Wasserstoff statt Kohle“ ebenso wie der Umstieg der
Autoindustrie auf „Elektro-Antriebe statt Verbrenner“.
Gleichzeitig forderte der IG-Metall-Vorstand „mehr
Verteilungsgerechtigkeit“ durch Steuern auf „übergroße Erbschaften,
Vermögen und Einkommen über der Millionengrenze“. Überfällig sei „ein
Investitionsbooster“, erklärte Urban: „Her mit dem Geld!“ Nötig sei auch
eine Stärkung der gesetzlichen Rente, in die künftig auch „Beamte,
Freiberufler, Politiker und Selbstständige“ einzahlen sollten – und keine
„weiteren Milliarden in kapitalgedeckte Produkte“ zur Alterssicherung.
Auch warnte der Metaller, der als Honorarprofessor in Jena lehrt, vor der
erstarkten AfD. Die in weiten Teilen rechtsextreme Partei tarne sich nur
als „Anwalt der kleinen Leute“, erklärte Urban. „Wer sich ärgert, ja wer
wütend ist über Niedriglöhne, explodierende Mieten und abgehängte Regionen,
der sollte nicht nach denen treten, denen es noch schlechter geht“, mahnte
er unter starkem Applaus: „Hetze gegen Minderheiten hilft nicht gegen
kapitalistische Ungerechtigkeiten.“
## Eine Basisarbeit für Frieden sei nötig
Auch der Vorsitzende und die Geschäftsführerin [2][des DGB] in Köln, Witich
Roßmann und Judith Gövert, warnten schon bei ihrem Warm-up vor den
Rechtsextremen – nicht nur mit Blick auf die im September in NRW
anstehenden Kommunalwahlen. Die seien nicht nur „Feinde der Demokratie“,
sondern auch „Leugner des Klimawandels“. Um das Leben der Menschen vor Ort
zu verbessern, müsse schnell mehr bezahlbarer Wohnraum her. Ein „Skandal“
sei, dass sich „junge Familien, Azubis und Studis“ Wohnen in Köln schlicht
nicht mehr leisten könnten, erklärte Gövert.
Dort liegen die durchschnittlichen Preise für Mietwohnungen offiziell bei
12,60 Euro – der Immobilienmakler Engel & Völkers weist bei Neuvermietungen
dagegen 16,31 Euro pro Quadratmeter aus. Schon ein WG-Zimmer koste in Köln
heute durchschnittlich 583 Euro im Monat, klagten auch Lars Kadelka, in der
Region Köln-Bonn Vorsitzender der DGB-Jugend, und seine Co-Vorsitzende
Janine Deling. Die Bafög-Wohnkostenpauschale liege dagegen bei nur 360 Euro
– und einem Auszubildenden im ersten Lehrjahr blieben bei einer
Ausbildungsvergütung von 680 Euro nicht einmal 100 Euro im Monat für
„alles, was man zum Leben braucht“.
Wie der Metaller Urban blickte auch Kölns DGB-Chef Roßmann skeptisch auf
die noch mit der alten Bundestagsmehrheit und damit auch mit Stimmen der
Grünen beschlossenen unbegrenzten Rüstungsausgaben. Vor Ort nötig sei eine
„Basisarbeit für den Frieden“ – und in Köln bedeute das eine Fortsetzung
der Städtepartnerschaft mit der chinesischen Hauptstadt Peking: „Wer sich
kennt und schätzt“, rief Roßmann, „schießt nicht aufeinander.“
Thema waren auch die drohenden Arbeitsplatzverluste beim Kölner Autobauer
Ford. Nach dem Willen von Ford-Deutschlandchef Marcus Wassenberg sollen
dort weitere 2.900 tarifgebundene Arbeitsplätze wegfallen – dabei hatten
sich Geschäftsführung und Betriebsrat schon 2023 auf den
sozialverträglichen Abbau 2.300 Jobs geeinigt. Bei Ford in Köln würden dann
weniger als 9.000 Menschen arbeiten – noch Ende des vergangenen Jahrzehnts
waren es noch knapp 20.000.
Es sei „ein Offenbarungseid, was sich die Ford-Zentrale da erlaubt“,
kritisierte deshalb IG-Metall-Vorstand Urban. Jetzt stehe die Urabstimmung
an, die im Kampf um die Arbeitsplätze unbefristete Streiks möglich machen
wird. „Zeigt euch solidarisch und kampfbereit“, appellierte Urban nicht nur
an die Ford-Belegschaft, sondern alle Kölner:innen.
## Drohende kündigungswelle bei Ford
Hintergrund der drohenden Kündigungswelle ist der Umstieg auf die
Elektromobilität. Ford hatte die Produktion des Verbrenner-Klassikers
Fiesta, der jahrzehntelang in Köln gebaut wurde, 2023 eingestellt. Doch die
stattdessen hergestellten hochpreisigen Elektromodelle Explorer und Capri
verkaufen sich nur schleppend – ihre Einstands-Listenpreise beginnen bei
satten 42.500 Euro. Der Betriebsrat wirft der Geschäftsführung deshalb
falsche Produktplanung vor: Offenbar wolle sich Ford auf die Produktion von
relativ wenigen, aber teuren und damit renditenstarken Autos konzentrieren
und den Massenmarkt erschwinglicher Einstiegsmodelle Herstellern etwa aus
China überlassen.
Schlicht „asozial“ sei das Vorgehen des Ford-Managements, kritisierte
deshalb Betriebsratschef Benjamin Gruschka. Aktuell liefen in Köln nicht
mehr wie zu Fiesta-Zeiten 2.000, sondern nur noch 500 Fahrzeuge am Tag vom
Band. „Von der Idee Henry Fords, bezahlbare Fahrzeuge zu bauen, sind wir
weit entfernt“, meinte Gruschka. Dabei könne die Produktion „der teuren
Autos nicht all die Werke auslasten, in denen wir seit Jahren arbeiten“,
hatte der Sprecher der IG Metall bei Ford, David Lüdtke, in der taz schon
im November geklagt – schließlich sollen europaweit insgesamt sogar 4.000
Stellen gestrichen werden.
Doch Ford will seinen Sparkurs offenbar mit Härte durchsetzen. Wie erst vor
einer Woche bekannt wurde, plant der Autobauer, Teile seines Werksgeländes
im Kölner Norden zu verkaufen. Außerdem hat der US-Mutterkonzern eine
sogenannte Patronatserklärung aus dem Jahr 2006, mit der Ford für die
Schulden seiner deutschen Tochter gebürgt hat, im März gekündigt. Zwar gab
es im Gegenzug eine Finanzspritze von 4,4 Milliarden Euro – doch die
Verbindlichkeiten von Ford Deutschland liegen – auch durch den
kostenintensiven Umstieg auf die schlecht laufende Elektromobilität – bei
5,8 Milliarden.
Selbst eine Insolvenz der Deutschland-Tochter von Ford ist mit Wegfall der
Patronatserklärung deshalb denkbar. Hinfällig wäre damit auch der Schutz
vor betriebsbedingten Kündigungen, den Geschäftsführung und Betriebsrat
2023 im Gegenzug zum vereinbarten Stellenabbau der ersten 2.300 Jobs
vereinbart hatten. „Jetzt drohen sie der gesamten Belegschaft mit der
Insolvenz“, warnte Beriebsratschef Gruschka. „Das wäre der Super-GAU.“
## Auch Görlitz zeigt die rote Flagge
Zwar richtete der DGB seine zentrale Maikundgebung in der Europäischen
Kulturhauptstadt Chemnitz aus – doch besonders spannend war ein Blick nach
Görlitz an der Neiße, wo Vielfalt und politische Mischung der Veranstaltung
ein besonderes Profil gaben. Unter dem Motto „Mach dich stark – mit uns“
zog ein breites Bündnis vom Hauptbahnhof zur Wiese zwischen
Gerhart-Hauptmann-Theater und der alten Kaisertrutz. Hunderte Besucher der
verschiedensten Stände nahmen von einem knappen Dutzend AfD-Anhänger kaum
Notiz, die in etwa hundert Meter Entfernung auf der gegenüberliegenden
Straßenseite etwas ratlos herumstanden.
Dieses Bild trügt allerdings. Diese DGB-Maidemo fügte dem schillernden Bild
einer Stadt politischer Kontraste eine weitere Facette hinzu. Bei der
Bundestagswahl im Februar ragten die Spitzenergebnisse der AfD im Wahlkreis
Görlitz noch aus dem ostdeutschen und sächsischen blauen Meer heraus. Die
so genannte Alternative holte 46,7 Prozent bei den Zweitstimmen, der
Bundesvorsitzende Tino Chrupalla gewann den Wahlkreis mit 48,9 Prozent.
Zwei Bundestagswahlen zuvor hatte Chrupalla 2017 schon dem im selben Jahr
zum sächsischen Ministerpräsidenten gewählten Michael Kretschmer (CDU)
seinen Stammwahlkreis abgenommen.
Andererseits setzte sich der Musiker und damalige CDU-Landtagsabgeordnete
Octavian Ursu 2019 in der Stichwahl um das Oberbürgermeisteramt gegen den
AfD-Bewerber Sebastian Wippel durch. Die Stadt war und ist auch im Wortsinn
eine Brückenstadt für die deutsch-polnische Verständigung und förderte früh
den Europagedanken. Festivalgründungen wie „Europera“, die Bewerbung als
Kulturhauptstadt Europas 2010 und der rege Einkaufs- und Touristenverkehr
über die Neißebrücken sprechen dafür.
Aktuell belasten allerdings die verschärften deutschen Grenzkontrollen das
Verhältnis zur polnischen Stadt Zgorzelec jenseits der Neiße. Der
polnische Bürgermeister beklagte sich über lange Warteschlangen, die eine
deutliche Behinderung darstellen. Sein deutscher Kollege Ursu bestätigt
diese Verstimmung, meint aber auch, die polnische Seite zeige zunehmend
Verständnis für deutsche Sicherheitsinteressen.
## Freude über noch nie dagewesene Resonanz
Der Veranstalter DGB freut sich in diesem Jahr über eine Resonanz, die noch
nie so gut gewesen sein soll. Trotz oder wegen der starken AfD. Die hört
man aus Biertischgesprächen aber gelegentlich heraus. „Jetzt werden sie
gleich rufen, die AfD müsse weg“, bemerkt ein älterer Herr. „Dabei ist das
doch die einzige Partei, die etwas macht!“ Er scheint nicht zu wissen, dass
die AfD gegen den Mindestlohn agitiert. Nicole Scheibe vom
DGB-Kreisvorstand bekennt daraufhin, gerade deswegen könne sie gar nicht
anders, als weiterzukämpfen. „Ich geben nicht auf!“
Sie sagt die Redner an. Dass der Oberbürgermeister am ersten Mai spricht,
hat in Görlitz Tradition. Octavian Ursu bestätigt im Gespräch zwar die
AfD-Dominanz und die schwierige Görlitzer Gemengelage. In seiner Ansprache
aber geht er auf die nicht ein, bleibt eher konventionell bei
Gewerkschaftsthemen. Ein typischer CDU-Appell an Sozialpartnerschaft, an
Verständnis und ein Miteinander von Betriebs- und Personalräten mit
„verantwortungsbewussten Unternehmern“, die es glücklicherweise in der
Stadt auch gebe.
[3][Bleibt das Echo hier noch verhalten], füllt sich der Platz vor der
Rednertribüne plötzlich, als Fridolin vom Bündnis „Klare Kante“ spricht.
Ein antifaschistisches Bündnis, das im Büro des Stadtverbandes der Linken
und sitzt und sich über ebenso großen Zulauf freuen kann wie die auch in
Görlitz wiedererstarkte Linke. Wie seine Nachfolgerinnen auch spricht er
die drohende Erosion zivilgesellschaftlicher Strukturen im Zuge der
laufenden Haushaltberatungen im Sächsischen Landtag an.
Was die Minderheitskoalition von CDU und SPD plant, geht in eine ähnliche
Richtung wie auf Kreis- und Kommunalebene bereits im Gange.
Demokratieförderprogramme werden gekürzt, Vereine und Institutionen
ausgetrocknet. Man dürfe nicht rechte Gewalt beklagen und dann
staatlicherseits wegsehen, mahnte Fridolin. „Es ist höchste Zeit, dass der
Staat handelt!“ In Sachsen müsse endlich das Demokratiefördergesetz kommen.
Viel Beifall brandete auf, als er Bundestagsparteien vorwarf, inaktiv gegen
rechts zu sein, sich aber zur politischen Mitte zu zählen.
## Es blieb ausgesprochen friedlich
Monique Hänel vom Bündnis „Görlitz bleibt bunt“ verwies auf die jüngste
Statistik der Opferberatung RAA zu rechter Gewalt in Sachsen. Wenn diese
Beratungsangebote eingeschränkt, soziale Orte oder Orte der Demokratie
geschlossen werden und Strukturen zerbröseln, gingen Fluchtorte und
Schutzräume verloren. „Wer jetzt kürzt, zerstört die Zukunft!“ Der
gesellschaftliche Zusammenhalt würde weiter schwinden.
Von feministischer Seite kam der Hinweis, dass der Männerüberschuss in der
Lausitz durch Wegzug fähiger junger Frauen auch tendenziell eine
Radikalisierung dieser einsamen Männer begünstige. Für eine von Abschiebung
bedrohte behinderte Frau wurden Spenden gesammelt.
Bei aller Leidenschaft blieb dieser sonnige Mainachmittag aber
ausgesprochen friedlich und gesellig. Die wenigen Polizisten, die überhaupt
zu entdecken waren, mussten nirgendwo einschreiten.
1 May 2025
## LINKS
[1] /Der-1-Mai-international/!6083764
[2] /Bewegungstermine-in-Berlin/!6085176
[3] /Der-1-Mai-international/!6083764
## AUTOREN
Andreas Wyputta
Michael Bartsch
## TAGS
Tag der Arbeit / 1. Mai
DGB
Gewerkschaft
Barrierefreiheit
Berufsgewerkschaften
Arbeit
taz Plan
Schwerpunkt 1. Mai in Berlin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Protesttag für Menschen mit Behinderung: Auch Feiern ist voller Barrieren
Bei der Demonstration am Brandenburger Tor wird unter anderem mehr
kulturelle Teilhabe gefordert. Clubs verweisen oft auf Denkmal- oder
Brandschutz.
„Streikkonferenz“ an der TU Berlin: „Alerta!“ im Audimax
Die Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung am Wochenende war überlaufen.
Besonders viel Andrang gab es bei den neuen Bundestagsabgeordneten der
Linken.
Der 1. Mai international: Kampf für gute Arbeit – weltweit
Arbeitnehmerrechte sind unter Druck. Zum 1. Mai wirft die taz einen
Blick in die Türkei, nach Polen, Italien, Frankreich, Argentinien und
China.
Demos am 1. Mai in Berlin: Auf die Straße nicht trotz, sondern wegen allem
Vieles am 1. Mai fühlt sich aufgebraucht an – und doch erfüllt der Tag
weiter eine wichtige Funktion. Die taz-Übersicht zu allen Terminen.
Revolutionärer 1. Mai-Demo: Hammer entspannt
Die 18-Uhr-Demo hat wieder einen Schwarzen Block, der zur Solidarität mit
Antifas aufruft. Die Polizei macht sich wenig Sorgen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.