| # taz.de -- Die Bewegung rund um den Taksim-Platz: Da bleibt kein Auge trocken | |
| > Jetzt geht die Polizei gewaltsam gegen die Demonstranten vor. Die | |
| > Bewegung hat jedoch etwas, was sie von früheren Protestgenerationen | |
| > unterscheidet: Humor. | |
| Bild: Neben Anonymousmasken tragen die Demonstranten Taucherbrillen, Spraydosen… | |
| ISTANBUL taz | Jede türkische Frau soll drei Kinder gebären, findet Recep | |
| Tayyip Erdogan – nur eine von unzähligen [1][Maßregelungen] der vergangenen | |
| Jahre, auf die der türkische Ministerpräsident nun eine Antwort erhält: | |
| „Wollt ihr immer noch drei Kinder?“ steht an einer Wand in der Nähe des | |
| zentralen Taksim-Platzes in Istanbul. Und in einer Seitengasse: „Wollt ihr | |
| wirklich drei Kinder wie uns?“ | |
| Bereits diese Replik zeigt, was die jungen Leute vom Gezi-Park und ihre | |
| Freunde im Rest des Landes von früheren Protestgenerationen in der Türkei | |
| unterscheidet: ihr Witz und ihre Ironie, mit der sie die Herrschenden der | |
| Lächerlichkeit preisgeben. So steht an einem ausgebrannten und als | |
| Barrikade genutzten Stadtbus: „Ihr habt euch mit der Generation angelegt, | |
| die bei GTA die Polizei schlägt.“ | |
| Dass [2][Erdogan] und seine [3][Polizeiführer] diese Anspielung auf „Grand | |
| Theft Auto“ ebenso wenig verstehen dürften wie die übrigen Verweise auf | |
| andere Computerspiele („Call of duty Taksim“) oder US-Fernsehserien („Rec… | |
| Tywin Lannister“), macht die Sache nur noch lustiger. | |
| Wandparolen und Sprechchöre werden zu [4][Tweets], [5][Tweets] zu Parolen, | |
| die am Gezi-Park an Bäumen und Zelten hängen und rund um den Taksim-Platz | |
| an Fassaden, auf den Asphalt und jede andere sich bietende Fläche gesprüht | |
| sind. | |
| Wer dort noch ein paar freie Zentimeter findet, kann selber eine Botschaft | |
| hinterlassen. Denn so, wie die Fliegenden Händler bei jedem Platzregen | |
| plötzlich Regenschirme feilbieten, haben sie nun Aufstandsbedarf im | |
| Sortiment: Atemschutzmasken, Taucherbrillen und eben Spraydosen. Dazu gibt | |
| es Maronen und Dosenbier, und wegen der vielen fahrbaren Köftestände ist | |
| der Platz abends derart in Rauch gehüllt, dass der Witz kursiert, Erdogan | |
| würde nun anstelle von Pfeffergas Grillqualm einsetzen. | |
| ## Abkehr von Erlöserglauben | |
| Eine der häufigsten Parolen lautet: „Die Lösung heißt Drogba.“ Dass der | |
| Fußballer Didier Drogba, der beim FC Chelsea zum Weltstar wurde und | |
| inzwischen bei [6][Galatasaray] spielt, zur „Lösung“ erklärt wird, verwei… | |
| nicht nur darauf, dass die Ultras der großen Istanbuler Clubs maßgeblich an | |
| der Verteidigung des Taksim-Platzes beteiligt waren. | |
| Fußballvereine präsentieren Neuzugänge gern als „Lösungen“, auch politi… | |
| Parteien und Bewegungen haben ihre „Lösungen“: Erdogan, Atatürk, | |
| Sozialismus, was auch immer. „Lösung Drogba“ ist eine Absage an eine | |
| Politik der schablonenhaften Lösungen und heroischen Erlöser. | |
| Doch der Spruch hat eine weitere Bedeutung: Drogba wird in der | |
| Elfenbeinküste nicht nur als Fußballer verehrt, sondern auch für sein | |
| [7][Engagement], das Land nach dem Bürgerkrieg zu versöhnen. Erdogan hat in | |
| den vergangenen Tagen, wenngleich unfreiwillig, Ähnliches geleistet. | |
| ## Alle vereint | |
| Seine Anhänger stehen zwar weiter zu ihm, aber dem Protest angeschlossen | |
| haben sich inzwischen etliche zuvor verfeindete Gruppen: Kemalisten und | |
| Kurden, orthodoxe Linke und neue Liberale, Homosexuelle und | |
| „Antikapitalistische Muslime“, Ultras von Beşiktaş, Fenerbahçe und | |
| Galatasaray. „Tayyip, du hast alle vereint“, steht denn auch an der | |
| Einkaufsstraße Istiklal. | |
| Kein Wunder also, dass sich diese jungen Leute Erdogans [8][Wort] von den | |
| „drei oder fünf çapulcus („Marodeuren“) sofort aneigneten. Der Begriff … | |
| um die Welt, çapulcu-Witze machten derart die Runde, dass viele Aktivisten | |
| sie schon nicht mehr hören können. | |
| Weiterhin variiert wird dafür „Diren Gezi-Parki“ („Leiste Widerstand, | |
| Gezi-Park“), die Parole vom Anfang der Proteste: „Diren Ankara“ („Leiste | |
| Widerstand, Ankara“), „Diren Afrika“ (zu Erdogans [9][Afrikareise] vorige | |
| Woche), „Diren Karo-Sakko“ (nach Erdogans Auftritt im karierten Sakko), | |
| „Diren Kapital“ (beim Hotel „The Marmara“, das wie alle Luxushotels am | |
| Taksim-Platz die vor der Pfeffergasorgie flüchtenden Menschen aufgenommen | |
| hat und in deren Foyers die Parkbesetzer weiterhin Handys aufladen, die | |
| Toilette besuchen oder einen Tee aufs Haus trinken können). | |
| ## Spott gegen Pfeffergas | |
| Nicht durch Worte, aber durch Taten hat die Polizei unfreiwillig zum | |
| Anwachsen der Bewegung beigetragen. Und sie hat deren Fantasie beflügelt. | |
| Die Menschen haben es inzwischen gelernt, sich, so gut es eben geht, gegen | |
| Pfeffergas zu wappnen. | |
| In [10][Ankara], wo es weiterhin Abend für Abend zu Straßenschlachten | |
| kommt, begrüßt die Menge die Polizei mit „Hurra, Pfeffergas“-Rufen, an | |
| Wänden steht „Pfeffergas knallt gut“, „Beim nächsten Mal bitte mit | |
| Erdbeergeschmack“ oder „Was haben die Reichen bloß für schöne Gasmasken�… | |
| Ab und an wird es auch privat: „Der Wasserwerfer und ich sind seit zehn | |
| Tagen zusammen, das wird was Ernstes“, schreibt jemand. Es geht um die | |
| Liebe („Sag, Liebster, kämpft diese Frau da besser oder ich?“). Und es geht | |
| um die Mütter. | |
| Auf der steilen und kurvigen Inönü-Straße, die sich vom Taksim-Platz zum | |
| Bosporus schlängelt und wo rund zwanzig Barrikaden von der Heftigkeit der | |
| Kämpfe zeugen, steht auf dem Asphalt: „Keine Sorge, Mama, ich bin weiter | |
| hinten.“ Und aus Protest an der mangelhaften, teils bizarren | |
| Berichterstattung der türkischen Fernsehsender: „Schalt den Fernseher aus, | |
| Mama.“ Keine unberechtigte Kritik eingedenk dessen, dass beispielsweise | |
| CNN-Türk am Samstag voriger Woche, als CNN-International live vom | |
| Taksim-Platz berichtete, nichts besseres im Programm hatte als eine | |
| Dokumentation über Pinguine. | |
| Als Hüseyin Avni Mutlu, der Gouverneur von Istanbul, am Wochenende zur | |
| allgemeinen Überraschung twitterte, er würde am liebsten selbst im | |
| Gezi-Park übernachten, kam die Antwort: „Kommen Sie nicht über Dolmabahçe, | |
| da könnte eine Polizeisperre sein.“ An der letzten Residenz der osmanischen | |
| Sultane zwischen Taksim und dem Nachbarbezirk Beşiktaş hatte in der vorigen | |
| Woche die Schlacht besonders heftig getobt. | |
| ## Die Polizei hatte sich zurückgezogen | |
| Tatsächlich aber konnte man da Platz und Park noch gefahrlos betreten. Die | |
| Polizei hatte sich zurückgezogen, das Stadtzentrum war eine befreite Zone, | |
| in der fast alle Geschäfte und Lokale trotzdem geöffnet hatten und auch | |
| nach dem Eingreifen der Polizei an diesem Dienstag weiter haben. | |
| Dafür sind die Barrikaden nun eine touristische Attraktion. Manche | |
| Aktivisten ärgern sich darüber, andere nehmen auch das mit Humor. An einer | |
| Barrikade hat jemand ein Schild mit der Aufschrift „Aufstand-Souvenir“ | |
| angebracht, vor dem sich Besucher fotografieren. An einer anderen, wo der | |
| Rahmen einer zerstörten Werbetafel einen Durchlass bietet, saß am | |
| Wochenende ein çapulcu, der die Besucher nach traditioneller türkischer Art | |
| mit Kölnisch Wasser empfing. | |
| All das heißt nicht, dass die Old-School-Organisationen verschwunden wären. | |
| Wo am Park selbstgemalte Transparente das Bild bestimmen und noch Aufrufe | |
| zur Besonnenheit witzig daherkommen („Bitte dieses Zelt nicht anzünden, wir | |
| haben die Raten noch nicht abbezahlt“), dominieren am Taksim-Platz die | |
| Banner und Losungen der ML-Gruppen und Linkskemalisten. | |
| Und manchmal kommt es zum fröhlichen Wettstreit. So hat jemand unter ein im | |
| ML-Pathos verfasstes Transparent („Halt dein Rückgrat aufrecht – unterwirf | |
| dich nicht“) gesprüht: „Die Lösung heißt Pilates.“ Und als Antwort auf… | |
| Lieblingsparole der Kemalisten („Wir sind die Soldaten von Mustafa Kemal“) | |
| skandieren andere: „Wir sind die Soldaten von Mustafa Keser.“ Keser ist ein | |
| bekannter, eher volkstümlicher Musiker, dessen Fans nicht unbedingt in der | |
| [11][Twitter-Jugend] zu finden sind. | |
| ## Los, sprüh dein Gas! | |
| Dann gibt es Sprüche, auf die sich alle einigen können. „Schulter an | |
| Schulter gegen den Faschismus“, eine linke Parole aus den Siebzigern etwa. | |
| Oder einen – hier frei übersetzten – Gesang von Çarşı, den Ultras des | |
| Fußballclubs Beşiktaş: „Los, sprüh dein Gas / Los, sprüh dein Gas / Wirf | |
| den Knüppel weg / Zieh den Helm aus / Zeig, dass du dich traust.“ | |
| Vom Esprit der Bewegung beeindruckt ist auch Metin Üstündağ, Karikaturist | |
| der [12][Penguen], einer von mehreren auflagenstarken | |
| [13][Satirezeitschriften] im Land, die natürlich schon vor der Doku auf | |
| CNN-Türk so hieß: „Der Humor dieser jungen Leute ist beeinflusst von den | |
| Satirezeitschriften. Aber es ist auch der Humor von Freundeskreisen und | |
| sozialen Medien, den die Kids noch im Gasnebel auf die Wände und Straßen | |
| tragen.“ | |
| Und dann sagt er: „Auch ich bin auf der Straße, ich fühle mich wie 17.“ | |
| Üstündağ ist um die 50 Jahre alt und in der Türkei ein Popstar. Und so wie | |
| ihm ergeht es in diesen Tagen vielen. Die jungen Leute haben nicht nur ein | |
| Land auf die Beine gebracht, sondern auch zum Lachen. | |
| 11 Jun 2013 | |
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