| # taz.de -- Die Nacht von Taksim: Feiern, Rennen, Bluten | |
| > Gewaltsam geht die Polizei gegen die Demonstranten vor. Ein Protokoll | |
| > dessen, was unsere Autoren in der Nacht erlebt haben, als der | |
| > Taksim-Platz geräumt wurde. | |
| Bild: Die Augen brennen, die Sinne sind vernebelt: Die Nacht auf dem Taksim-Pla… | |
| 18.45 Uhr: Einkaufsstraße Istiklal. In den frühen Morgenstunden hatte die | |
| Polizei den Taksim-Platz [1][gestürmt] und auch den Gezi-Park immer wieder | |
| mit Pfeffergas geschossen. Für 19 Uhr hat das Protestbündnis | |
| „Taksim-Solidarität“ zu einer Kundgebung aufgerufen. Auf der Istiklal sind | |
| weniger Menschen als sonst unterwegs. Vereinzelt sieht man Leute in | |
| Atemschutzmasken, ein Hauch von brennendem Gummi liegt in der Luft. Es | |
| ertönen Sprechchöre, eine Gruppe ist unterwegs in Richtung des Platzes. | |
| Fast alle Passanten bleiben stehen und beklatschen die Demonstranten. | |
| 19.00 Uhr: Taksim-Platz. Vor einigen Stunden noch fest in der Hand der | |
| Polizei, strömen nun die Demonstranten auf den Platz. | |
| 19.20 Uhr: Eine Gruppe kommt mit Regenbogenfahnen und Trommeln, linke | |
| Gruppen skandieren Parolen, die Linkskemalisten posieren sich vor den | |
| Polizeieinheiten, die vor dem leerstehenden Atatürk-Kulturzentrum stehen, | |
| und singen die türkische Nationalhymne. 20.000 bis 30.000 Leute sind auf | |
| dem Platz. Auch der angrenzende Park ist voll. | |
| 19.50 Uhr: Auf der östlichen Seite des Gezi-Parks stimmen die Leute in die | |
| [2][Parolen] von Çarşı, den Ultras des Fußballclubs Beşiktaş ein: „Los, | |
| sprüh dein Gas / Los, sprüh dein Gas / Wirf den Knüppel weg / Zieh den Helm | |
| aus / Zeig, dass du dich traust.“ Die Stimmung ist fröhlich, die Polizei | |
| nur wenige Meter entfernt. | |
| 20.10 Uhr: Plötzlich, ohne jede Ankündigung oder Vorwarnung, schießt die | |
| Polizei Pfeffergasgranaten in die singende Menge. Schreie. Die Menschen | |
| rennen in den Park, stolpern über Zelte. Das Gas greift erst die Augen an, | |
| dann den Kopf. Orientierungslosigkeit. Husten, Keuchen. Hunderte fliehen | |
| durch eine enge Straße, ihre Sinne vernebelt. Hier hätte es Tote geben | |
| können. Die Polizei nimmt das in Kauf. | |
| 20.40 Uhr: Gezi-Park. Leute, denen Mund, Nasen und Augen brennen, werden | |
| mit Mich und Talcid-Lösungen Menschen versorgt. Unter den Helfern sind | |
| auffällig viele junge, wirklich junge Frauen. Die meisten von ihnen hatten | |
| vor vier Wochen wohl nicht gewusst, was dieses Pfeffergas überhaupt ist. | |
| Jetzt geben sie Tipps: „Augen kurz schließen, dann blinzeln, ist in zwei | |
| Minuten vorbei.“ | |
| 20.50 Uhr: Die [3][Fliegenden Händler] sind noch im Park. „Letzte Nacht | |
| haben sie uns in unserem Viertel Talimhane angegriffen, erst mit | |
| Pfeffergas, dann mit Knüppeln“, erzählt der Teeverkäufer mit kurdischem | |
| Akzent. | |
| 20.55 Uhr: Zwei junge Männer in Businessanzügen, Krawatten und | |
| Atemschutzmasken laufen vorbei. „Wir kommen aus Levent, direkt von der | |
| Arbeit. Wir hatten keine Zeit, uns umzuziehen.“ Levent ist das Istanbuler | |
| Bankenviertel. | |
| 21.00 Uhr: Ein Pärchen, sie Architektin, er ebenfalls Banker. Er wohnt in | |
| Beşiktaş, wo es am Anfang der Proteste zu heftigen Straßenschlachten | |
| gekommen war. Ist dort wieder was los? „Nein, sonst wäre ich dort. Beim | |
| Angriff der Polizei habe ich mit den Çarşı-Leuten Beşiktaş verteidigt, bis | |
| ich morgens zur Arbeit musste. Die Çarşı-Leute und die militanten Linken | |
| wissen, wie wir uns verteidigen können“ − sagt ein Mann, der bei einer | |
| internationalen Großbank arbeitet. | |
| 21.10 Uhr: Am westlichen Rand des Parks geht es steil runter. Unten auf der | |
| Cumhuriyet-Straße brennen Barrikaden – es sind die Bilder, die in dieser | |
| Nacht um die Welt gehen werden. Einige tausend Leute sind unten, andere | |
| stehen oben, skandieren Parolen. | |
| 21.15 Uhr: Ein Mann telefoniert. „Das waren die von meiner Arbeit. Die | |
| wollen, dass ich morgen zurückkomme. Aber das mache ich nicht, ich hab mir | |
| Urlaub genommen. Alle meine Freunde sind hier.“ Er wohnt in Maltepe, einem | |
| Armenviertel auf der anatolischen Seite der Stadt, in dem viele Aleviten | |
| leben. „Ich bin an dieses Gas gewohnt, ich bin Beşiktaş-Fan“, sagt er. | |
| 21.25 Uhr: Ein Fliegender Händler hat Masken. Drei Lira (etwa 1,20 Euro) | |
| kosten die. Gestern waren es noch zwei. Man sieht ihm an, dass er kurz | |
| zuvor selber jede Menge Gas schlucken musste. Während der Händler erzählt, | |
| woher er diese Masken hat (Baumarkt), mischt sich jemand anderes ein: „Das | |
| sind Staubmasken, keine Gasmasken.“ Er ist Metallarbeiter in Gebze, einer | |
| Industrievorstadt von Istanbul. „Ich weiß vom 1. Mai, dass diese Masken | |
| nicht taugen“, sagt er. | |
| 21.40 Uhr: Wieder in der Mitte des Parks. Einige Leute singen „Pfeffergas | |
| olé, Pfeffergas olé!“ Als die Polizei das Zeug schoss, war die Reaktion | |
| zwar längst nicht so cool. Aber es macht Mut. | |
| 22.00 Uhr: Alle Luxushotels der Umgebung haben den Demonstranten ihre Türen | |
| geöffnet. Handys aufladen. Essen. | |
| 22.05 Uhr: Der Konferenzraum eines dieser Hotels dient als Lazarett. | |
| Verwundete werden versorgt, Helfer geben telefonisch durch, welche | |
| Medikamente sie benötigen. Wer nicht verletzt ist oder medizinische Hilfe | |
| leistet, soll wieder hoch. | |
| 22.10 Uhr: Bizarres Bild: Das Restaurant eines Luxushotels voller | |
| Demonstranten, deren Taucherbrillen, Atemschutzmaske und Helme auf den | |
| Tischen legen. | |
| 22.40 Uhr: Vor dem Hotel: Auf der linken Seite haben Menschen ein Spalier | |
| gebildet, durch das Helfer Verletzte ins Hotellazarett tragen. Es müssen | |
| einige hundert sein, die von hier bis zu den Barrikaden am Taksim-Platz in | |
| Zweierreihen stehen. Rechts ist eine weitere Menschenkette, über die Decken | |
| und Medikamente von Hand zu Hand weitergereicht werden. | |
| 23.00 Uhr: Eine Kollegin von einer ausländischen Zeitung hat sich in einem | |
| anderen Hotel in der Nähe einquartiert. Blick in den Fernseher: Den kleinen | |
| linken Sender „Halk TV“ hat das Hotel nicht im Programm, die übrigen | |
| türkischen Sender zeigen irgendwelche [4][Pinguin-Dokumentationen] oder | |
| absurde Talkshows, in denen irgendwelche Leute das Vorgehen von | |
| Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan verteidigen. CNN International und | |
| BBC, filmen von Balkonen aus die heftige Schlacht auf der Cumhuriyet-Straße | |
| und senden live. | |
| 23.40 Uhr: Zurück im Park. Hier sind immer noch etwa 10.000 Leute. | |
| Explosionen, Lärmgranaten. Schießen sie schon mit Gummigeschossen? | |
| 0.00 Uhr: Die meisten Zelte stehen noch, aber das [5][fröhliche Chaos], das | |
| hier noch am Vortag herrschte, ist einem schrecklichen Chaos gewichen. Bei | |
| allem Trotz merkt man den Menschen an, wie traurig sie sind. Einige weinen. | |
| 0.30 Uhr: Mitteilung von der Bühne: „Freunde, wer Helme, Handschuhe und | |
| ordentliche Masken hat, soll bitte die Freunde an den Barrikaden | |
| unterstützen. Wir brauchen Leute, die die Gaskartuschen zurückwerfen und | |
| Verletzte abtransportieren.“ Einige Leute gehen zur Bühne, ein | |
| Mittdreißiger erteilt genaue Anweisungen. „Ich habe als Unteroffizier | |
| gedient“, sagt er. | |
| 1.00 Uhr: Vor der östlichen Flanke des Parks liegen zwei ausgebrannte Busse | |
| auf der Straße. Die Polizei formiert sich davor. Offensichtlich sollen | |
| diese Barrikaden geräumt werden. „Wenn sie die Busse haben, haben sie den | |
| Park“, sagen Leute, die davor stehen. Tatsächlich ist der Zugang zum Park | |
| fast ebenerdig, von keiner Seite könnte man den Park so leicht stürmen wie | |
| von dieser. | |
| 1.20 Uhr: Erste Gaskartuschen fliegen in die Menge, die sich hier gesammelt | |
| hat. Ein paar schnelle Schritte zurück, irgendwer wirft die Kartusche | |
| zurück oder ertränkt sie in einem Wasserkanister. Dann wieder ein paar | |
| Schritte vor. So geht es hier eine ganze Weile. Vereinzelt fliegen Steine | |
| in Richtung Polizei, ein mehrstimmiger Chor ruft die Steinewerfer dazu auf, | |
| das zu unterlassen. | |
| 1.30 Uhr: Gas. | |
| 1.35 Uhr: Gas. | |
| 1.45 Uhr: Gas. | |
| 2.00 Uhr: Zwei Jungs um die 20 unterhalten sich über die Armeegasmaske, die | |
| jemand neben ihnen trägt: „Hält die gut?“ − „Sehr gut. Die kostet abe… | |
| Lira (60 Euro).“ − „Wenn ich 150 Lira für eine Maske hätte, wäre ich n… | |
| hier.“ Sie selbst tragen nur Staubmasken. | |
| 2.10 Uhr: Die Polizei hat die Busse beiseite geräumt und ist vorgerückt. | |
| Die Gefahr: Am Ende dieser Straße warten Ambulanzwagen direkt am Lazarett | |
| der Parkbesetzer, um Schwerverletzte abzutransportieren. Gerade als jemand | |
| auf einer Bahre in den Krankenwagen gebracht wird, fliegen Gaskartuschen | |
| auf sie zu. Die Polizisten stehen so nahe, sie können unmöglich übersehen, | |
| dass dies ein Krankenwagen ist. Wer hier schießt, tut dies in voller | |
| Absicht. | |
| 2.30 Uhr: Der Versuch, eine Gaskartusche zu ertränken, endet mit einer | |
| mittleren Verbrennung am Finger. Handschuhe hätten geholfen. | |
| 2.40 Uhr: Jetzt ist auch die letzte Barrikade weg. Die Polizei hat freien | |
| Zugang zum Park. Ein Teil der Leute flieht in den Park, ein anderer in die | |
| Lobby eines nahen Hotels. | |
| 2.45 Uhr: Dort sind vielleicht hundert Leute. Aus dem Fenster ist zu sehen, | |
| wie die Polizei Unmengen von Tränengas in den Park schießt. Und ins | |
| Lazarett. Aus dem Park fliegen einzelne Kartuschen zurück. Ein Polizist | |
| beugt sich und schleudert eine zurückgeworfene Kartusche wieder in den | |
| Park. | |
| 3.00 Uhr: Der Direktor spricht: „Liebe Freunde, herzlich willkommen. | |
| Niemand wird sich trauen, unser Hotel anzugreifen. Wir nehmen euch gern | |
| auf. Aber bitte bleibt ruhig und tragt die Auseinandersetzung nicht in | |
| unser Hotel.“ | |
| 3.00 Uhr: Fernsehen. Auf „Habertürk“ erklärt der Gouverneur von Istanbul | |
| die Polizeioperation: „Am Atatürk-Kulturzentrum und dem Denkmal der | |
| Republik hatten marginale Gruppen Transparente und Fahnen angebracht. Die | |
| Einsatzkräfte haben interveniert, um diese hässlichen Bilder zu | |
| beseitigen.“ CNN sendet Bilder von einer Handkamera. Offenbar hat sich die | |
| Straßenschlacht in benachbarte Viertel ausgeweitet. | |
| 4.15 Uhr: Von draußen sind immer noch Parolen und der Lärm von | |
| Räumfahrzeuge zu hören. Über dem Bosporus geht die Sonne auf. | |
| 7.00 Uhr: Es ist hell. Kurzer Rundgang. In der Lobby schlafen knapp 20 | |
| Leute, die vom Hotel Decken bekommen haben. Draußen hat sich die Polizei | |
| zurückgezogen. Im Park sind Menschen. Und selbst auf der eben noch | |
| freigeräumten Straße ist aus Geröll und Schutt eine neue Barrikade | |
| errichtet. | |
| 12 Jun 2013 | |
| ## LINKS | |
| [1] /!117872/ | |
| [2] /!117917/ | |
| [3] /!117917/ | |
| [4] /!117917/ | |
| [5] /!117501/ | |
| ## AUTOREN | |
| Felix Dachsel | |
| Deniz Yücel | |
| ## TAGS | |
| Taksim-Platz | |
| Gezi-Park | |
| Resistanbul | |
| Istanbul | |
| Proteste in der Türkei | |
| Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
| Schwerpunkt Protest in der Türkei | |
| Schwerpunkt Deniz Yücel | |
| Resistanbul | |
| Schwerpunkt Türkei | |
| Schwerpunkt Pressefreiheit | |
| Resistanbul | |
| Taksim-Platz | |
| Repression | |
| Resistanbul | |
| Protest | |
| Schwerpunkt Türkei | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kolumne Besser: Warum ich in Istanbul bin | |
| Die Proteste in der Türkei vereinen Bänker, Anarchisten und Feministinnen. | |
| Das ist schöner und demokratischer als der Bürokratenverein namens EU. | |
| Kommentar Istanbul-Proteste: Ein irres Land | |
| Alle, die dabei waren, sind sich einig: Die Türkei wird nie mehr so sein | |
| wie vor den Protesten. Doch was wirklich zählt, ist der Augenblick. | |
| Proteste in Istanbul: Der kranke Mann am Bosporus | |
| Regierungschef Erdogan hat auf dem Taksim-Platz einen Pyrrhussieg erreicht. | |
| Die Zeit autoritärer Patriarchen in der Türkei neigt sich dem Ende zu. | |
| Proteste in der Türkei: Nichts sehen, nichts senden | |
| Anwälte werden verhaften, die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Für die | |
| türkischen Medien kein Grund für ausführliche Berichterstattung. | |
| Kommentar Protest in der Türkei: Die bessere Türkei | |
| Das Vorgehen der türkischen Polizei ist brutal. Es erinnert an Krieg. | |
| Erdogan muss sich bewusst sein, dass dieses Verhalten Folgen hat. | |
| Die Bewegung rund um den Taksim-Platz: Da bleibt kein Auge trocken | |
| Jetzt geht die Polizei gewaltsam gegen die Demonstranten vor. Die Bewegung | |
| hat jedoch etwas, was sie von früheren Protestgenerationen unterscheidet: | |
| Humor. | |
| Kommentar Türkei-Proteste: Hoffentlich tritt Erdogan bald ab | |
| Bis zu den Wahlen 2011 hatte Erdogan immer wieder bei | |
| Gesellschaftskonflikten eingelenkt. Seitdem hält er Toleranz nicht mehr für | |
| nötig. Viele haben davon die Schnauze voll. | |
| Proteste in Istanbul: „Das Ende der Toleranz“ | |
| Die Polizei stürmt am Morgen den Taksim Platz. Erdogan verteidigt das | |
| Vorgehen. Die Menschen im Gezi Park sind entsetzt. | |
| Proteste in Istanbul: Erdogan will „Millionen“ mobilisieren | |
| Erdogan hat mehrfach gedroht: Er brauche nur ein Wort zu sagen und | |
| Millionen würden auf die Straße gehen. Die Polizei stürmt unterdessen den | |
| Taksim-Platz. | |
| Proteste in der Türkei: Freiheit mit langem Atem | |
| Die AKP überlegt, die Parlamentswahlen um ein Jahr vorzuziehen. So könnte | |
| man den „Marodeuren“ eine Antwort an der Urne geben. |