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# taz.de -- Kolumne Besser: Warum ich in Istanbul bin
> Die Proteste in der Türkei vereinen Bänker, Anarchisten und
> Feministinnen. Das ist schöner und demokratischer als der
> Bürokratenverein namens EU.
Bild: Die türkische Fahne, die türkische Nationalisten in den Neunzigern in k…
Kolumnen sind subjektiv, sonst sind sie keine. Um subjektiv zu sein, muss
man nicht unbedingt „ich“ schreiben. Die Kolumne „Besser“ etwa ist bisl…
ohne dieses Wort ausgekommen und wird es inschallah künftig wieder tun. Nur
diesmal geht es nicht anders.
Es ist Dienstagnachmittag, ich sitze auf einer Dachterrasse im Istanbuler
Bezirk Beyoğlu, mit einer wunderschönen Aussicht auf das Goldene Horn und
die Minarette der Altstadt. Vor mir verläuft der Tarlabaşı-Boulevard, eine
mehrspurige Verkehrsschneise, die vom Goldenen Horn, einem Seitenarm des
Bosporus, hoch zum Taksimplatz führt. Jenseits dieser Straße liegt das alte
Werftenviertel Kasımpaşa, in dem der türkische Ministerpräsident Recep
Tayyip Erdogan aufgewachsen ist.
Schon am Sonntagnachmittag hatte ich mich mit einer deutschen und einer
türkischen Kollegin hierher zurückgezogen, um über die
[1][Auseinandersetzungen mit der Polizei] zu schreiben. Es war der Tag nach
der [2][Räumung des Gezi-Parks]; der Tag, an dem tausende Menschen
versuchten, zum Taksimpatz durchzukommen.
Ich sah von hier aus, wie vielleicht 1.000 Leute mit einer bewundernswerten
Ausdauer stundenlang versuchten, dieses Areal zwischen einer Seitengasse
der Einkaufsstraße Istiklal und dem Tarlabaşı-Boulevard zu halten. Immer
wieder wurden sie mit Pfeffergas attackiert. Solange sie konnten, taten sie
nichts weiter, als die Gaskartuschen zurückzuwerfen und einfach stehen zu
bleiben. Der Wind trieb die Gasschwaden bis zur Terrasse hoch, es war meine
Ladung Gas für diesen Tag.
## AKP-Anhänger auf Menschenjagd
Ich sah von hier aus, wie die Demonstranten einige Male von mit Knüppeln
bewaffneten Männern, die nicht alle Uniform trugen, vertrieben wurden. Ich
sah, wie ein Polizeifahrzeug auf vier Leute zuraste, die auf dem Bordstein
saßen, und ein Polizist aus drei Metern Entfernung ein Gummigeschoss auf
eine Frau abfeuerte.
Schließlich sah ich, wie eine [3][Gruppe von AKP-Anhängern] mit Knüppeln in
den Händen aus Richtung Kasımpaşa auf den Boulevard kam und vor den Augen
der Polizei auf Menschenjagd ging.
Jetzt sitze ich wieder hier und frage mich: Warum bin ich hier? Meine
Antwort: Ich wollte herkommen, weil ich zu Beginn des Aufstands gegen die
Erdogan-Regierung das Gefühl hatte, das mein Platz gerade nicht in Berlin
ist, sondern hier in Istanbul.
Ähnlich erging es anderen Almanci-Kolleginnen, die ich hier getroffen habe.
Niemand hat auf einen Auftrag gewartet, wir haben uns alle mehr oder minder
selbst beauftragt. Wenn wir uns um kleine Jungs kümmern müssen, denen ein
Stück Pimmel abgeschnitten wird, soll die Redaktion uns das hier gefälligst
ebenfalls ermöglichen – und zwar nicht wegen irgendwelcher Storys, die wir
liefern können.
## Mein Herz ist dort
“Şimdi Istanbul‘da olmak vardı anasını satayım“, „Verdammt, jetzt …
man in Istanbul sein“, heißt es in einem Exilantenschlager aus den
Achtzigern. Verdammt, jetzt müsste man in Istanbul sei – dieses Gefühl
hatten in den vergangenen Wochen fast alle meine Almanci-Freunde. (Möge mir
keiner erzählen, dass Sie irgendwen kennen, der jemanden kennt, der es
nicht mit jungen Leuten vom Gezi-Park hält, sondern mit der AKP; ich
spreche hier von meinen Freunden).
Nur die wenigsten hatten das Glück, als Journalisten beruflich nach
Istanbul reisen zu können. In den letzten Tagen bin ich immer wieder
Almancis begegnet, die sich eigens Urlaub genommen haben, um herzukommen.
Und die, die dies nicht konnten, haben in den vergangenen Tagen viel Zeit
damit verbracht, an Informationen heranzukommen; sie haben demonstriert,
Protestbriefe unterzeichnet, alles mögliche getan, um sich mit der
Aufstandsbewegung in der Türkei zu solidarisieren. Mein Herz ist dort.
## Esprit der Demonstranten imponiert
Warum sie das fühlen, habe ich die Almancis unter meinen Facebook-Freunden
gefragt. Alle sind von dem [4][Esprit und der Kreativität dieser Bewegung]
beeindruckt, ihrem Mut und ihrer Ausdauer. Den meisten imponiert es, wie in
dieser Bewegung erstmals unterschiedlichste politische Strömungen
zusammengefunden haben.
Manche glauben, dass es darum geht, die Republik gegen
Islamisierungstendenzen zu verteidigen, andere erkennen in dieser Bewegung
das Potenzial, eine dritte Kraft zwischen Kemalismus und politischem Islam
zu entfalten. Und manche sehen den Kampf, den die Leute in der Türkei
führen, in Zusammenhang mit den [5][Protesten in Brasilien] oder
Deutschland gegen Gentrifizierung.
Das ist Politik. Aber es geht auch um Gefühle. Für uns Almanci ist die
Türkei nicht irgendein Land. Es ist das Land, dessen Sprache wir (mehr oder
weniger) fließend sprechen, in dem wir Freunde und Verwandte haben; ein
Land, das wir mögen oder dessen Umgangsformen, Musik, was auch immer.
Fragen Sie einen Almanci Ihrer Wahl und Sie werden zwar jedes Mal eine
andere Begründung hören, aber stets dasselbe Fazit: Das ist für mich ein
besonderes Land.
Ich glaube, dank der Çapulcus haben wir unsere emotionale Bindung zur
Türkei politisiert. Wir können uns zur Türkei, zu diesem Teil der Türkei
bekennen, ohne uns von irgendwelchen Sarrazins nach unser
„Integrationsbereitschaft“ ausfragen lassen zu müssen. Wir können uns mit
den Menschen hier solidarisieren, ohne uns mit den Urlaubserinnerungen
irgendwelcher gutmeinender Deutschen befassen zu müssen.
## Bunter und demokratischer als EU
Wir können über die Türkei reden, ohne uns mit diesem ganzen EU-Schwachsinn
beschäftigen zu müssen, also ohne den Kartoffeln das Gefühl zu geben: Wir
wollen so werden wie ihr. Denn für einen kurzen Moment haben die Menschen
vom Gezi-Park etwas wahr werden lassen, dass schöner, bunter, lustiger und
demokratischer ist als dieser Bürokratenverein namens Europäische Union.
Fast alle von uns haben Freunde und Bekannte, die in den vergangenen Tagen
und Wochen in Istanbul, Ankara, Izmir, Dersim, Adana oder anderswo auf der
Straße waren. Mit ihnen fühlen wir mit, wir sorgen uns um sie, wir sind
angetan von dem, was sie tun, wir sind vielleicht auch ein bisschen stolz
auf sie.
Von Stolz hat mir übrigens keiner geschrieben. Dafür meinten einige, dass
sie die türkischen Fahnen auf den Solidaritätsdemos in Deutschland stören
würden. Ich verstehe das gut, das wäre mir noch vor ein paar Wochen genauso
ergangen. Das ist die Fahne, um die türkischen Nationalisten so ein Bohei
machen, das ist die Fahne, die sie in den neunziger Jahren in kurdischen
Dörfern in den Boden rammten, deren Bevölkerung sie vertrieben hatten.
Doch rund um den Gezi-Park habe ich gesehen, dass dieselbe Fahne neben
kurdischen Fahnen wehte, neben dem Rot der Sozialisten, dem Schwarz der
Anarchisten, dem Lila der Feministinnen, dem Grün der Ökos, der
Regenbogenfahne der Homos, zwischen den Bänkern, Ärzten und Studenten, die
vielleicht keine dieser Fahnen die ihre nennen würden und trotzdem da
waren.
Ich habe gesehen, wie über eine Barrikade, die ohnehin eher eine
symbolische denn eine praktische Funktion hat, eine große türkische Fahne
gespannt war. Nun denke ich: Wenn die türkische Fahne also hierfür stehen
kann, dann soll sie eben Himmelherrgott als eine von vielen dabei sein.
Besser: Ich bin hier.
19 Jun 2013
## LINKS
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## AUTOREN
Deniz Yücel
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