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# taz.de -- Kolumne Besser: Der Aufstand der Weißen
> Die Demokratisierung des politischen Islams ist gescheitert.
> Siebeneinhalb Thesen zum Aufstand gegen die Erdogan-Regierung.
Bild: Für irgendwas muss so eine Nationalfahne ja nützlich sein: Demonstranti…
Erstens. Was in diesen Tagen im [1][Tränengasnebel am Taksim-Platz] und
zusammen mit Mehmet Ayvalitas, dem [2][ersten Toten] der Aufstandsbewegung
in der Türkei, zu Grabe getragen wird, ist nicht nur irgendein
städtebauliches Vorhaben. Es geht auch nicht bloß um einen
erfolgsverwöhnten Politiker, der an der Macht immer selbstherrlicher
geworden ist und nun dafür die Rechnung präsentiert bekommt.
Zu Grabe getragen wird ein Projekt von welthistorischer Bedeutung: die
Demokratisierung des politischen Islam. Damit sind Erdogan und die Seinen
vor gut einem Jahrzehnt zum Entzücken vieler Intellektueller in Europa
angetreten. Und damit sind sie gescheitert.
Eineinhalbtens. Dieser Befund bedeutet nicht, dass Muslime keine Demokraten
sein könnten. Unabhängig von Erdogan haben und hatten Muslime in ihrem –
gramscianisch gesprochen – Alltagsverstand Religion mit Demokratie und
einer aufgeklärten Lebensweise, zuweilen auch mit einer selbstbestimmten
Sexualität verbunden. Auf individueller Ebene ist ein demokratischer Islam
zu haben, auf politischer bleibt er bestenfalls Utopie.
Zweitens. Mit der Festigung ihrer Macht in den vergangenen Jahren hat die
Erdogan-Regierung all jenen Recht gegeben, die von Anfang an das Ziel eines
Demokratisierung des politischen Islams für eine Propagandabehauptung
gehalten haben. Die These, dass Islamisten nur so lange für „Toleranz“
eintreten, solange sie sich nicht im Besitz der absoluten Macht wähnen,
darf als bestätigt gelten. In der Gegenwart gibt es nur eine Zivilisation:
die westliche. Noch gehört die Türkei bei allen Defiziten – wo gibt's die
[3][nicht]? – zur westlichen Zivilisation, die sich weder territorial noch
kulturell definiert.
Drittens. Ohne die militanten Kämpfe am Gezi-Park würde die Welt heute
nicht über die Ereignisse in der Türkei sprechen. Und ohne die Beteiligung
organisierter Linker wäre es nicht zu den Straßenschlachten gekommen. (Man
muss schon wissen, wie man Barrikaden baut und sie verteidigt.) Doch
erstmals in der langen und oft blutigen Geschichte sozialer Proteste in der
Türkei ist wird diese Bewegung nicht von der organisierten Linken getragen.
Und anders als im Frühjahr 2007, als Hunderttausende gegen die geplante
Wahl Erdogans zum Staatspräsidenten protestierten, steht auch nicht das
Militär hinter den Protesten. Auf der Straße ist, im besten Sinne des
Wortes, die türkische Zivilgesellschaft. Für die Demonstranten bildete der
geplante Abriss von ein paar Bäumen am Taksim-Platz nur den letzten Akt in
einer Reihen von Einmischungen in ihr Lebensgefühl – zuletzt das
[4][Alkoholverbot] oder die Maßregelung von [5][Knutschenden] in der U-Bahn
von Ankara. Nur deshalb hat sich der Aufstand auf andere Städte
ausgeweitet.
Viertens. Die meisten Protagonisten dieser Bewegung entstammen jenem
Milieu, aus dem die Linke in aller Welt zwar ihre Kader rekrutiert hat, das
unter Linken aber nie einen guten Ruf genoss: jung, urban, gebildet,
Mittelschicht. Anders als so oft in linken Publikationen sind diese
Attribute hier nicht abwertend gemeint.
Es ist das Aufbegehren der „weißen Türken“, des wohlhabenden, gebildeten
und urbanen Milieus, dem die regierende AKP als Vertreterin der „schwarzen
Türken“ gegenübersteht, also den Kleinbürgern, Armen und Zugewanderten der
Metropolen, die Erdogan repräsentiert und deren derbe Sprache er spricht,
plus der Bevölkerung der Provinz, inklusive der anatolischen Bourgeoisie,
deren Mann Staatspräsident Abdullah Gül ist. Diese Gruppen waren lange Zeit
von der Teilhabe ausgeschlossen. Gesellschaftlicher Fortschritt aber ist
niemals vom Land ausgegangen; nirgends, auch in der Türkei nicht.
Fünftens. Dieser Aufstand ist ein Aufstand der Stadt. Er richtet sich gegen
ein technizistisches Verständnis der Moderne, das die AKP mit den
Ölscheichs der Arabischen Halbinsel teilt. Als Partei der Landbevölkerung –
ihres in der Provinz lebenden wie in die Armutsviertel der Städte gespülten
Teils – hegt sie einen Hass auf die Stadt („Hure Babylon), der sich schon
in der [6][Bibel] oder im [7][Koran] findet. Der „metaphysische Eros“
(Bogdan Bogdanovic) der Stadt ist diesen Leuten fremd. Stadt bedeutet für
sie nicht mehr als ein Dorf, in dem halt alles größer ist: die Straßen, die
Häuser, die Einkaufszentren, die Moscheen.
Dieses Ideal von Stadt zeigt sich im rabiaten Abriss des [8][Romaviertels
Sulukule] wie in gigantomanischen [9][Infrastrukturprojekten]. Und
natürlich im alten Traum der türkischen Islamisten, den Taksim-Platz als
symbolischen Ort der säkularen Republik, als deren „Erinnerungsdepot“, wie
Bogdanovic sagen würde, auszulöschen.
Dass die Proteste sich auf konservative Städte wie Kayseri oder Konya
ausgeweitet haben, widerspricht dieser These nicht. Kayseri etwa, das
Zentrum der „muslimischen Calvinisten“ ([10][New York Times]) mit einer
Million Einwohnern, hat zwar im vergangenen Jahrzehnt einen rasanten
wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, nach 22 Uhr aber ist dort allenfalls
noch ein – selbstredend alkoholfreies – Internetcafé geöffnet. Für die
dortigen Aufständischen lässt sich wohl sagen: Es ist ein Aufstand der
Sehnsucht nach der Stadt.
Sechstens. Taksim ist nicht Tahrir. In Ägypten und Tunesien gingen die
Proteste zwar vom gleichen Milieu aus, der [11][„Facebook-Jugend“] nämlich,
die von den Resten linker Organisationen unterstützt wurde. Aber die
Allianz mit den Armen (und zumeist konservativen) Schichten, das Bündnis
der Forderung nach Brot und der Forderung nach Freiheit, hielt nur solange
die Mubaraks und Ben Alis an der Macht waren. Am Taksim-Platz hingegen geht
es erst gar nicht um Brot, es geht nur um Freiheit.
Siebtens. Es musste nicht alles zwangsläufig so kommen. Hätten die Europäer
den Türken nicht zu erkennen gegeben, dass man ihnen letztlich nicht aus
politischen oder gar wirtschaftlichen Gründe die Aufnahme in die [12][EU
verweigert], sondern aus kulturellen und religiösen, hätten die Dinge
vielleicht eine andere Entwicklung genommen. Oder hätte das türkische
Militär nicht die Konfrontation gesucht (und den Machtkampf verloren),
hätte die parlamentarische Opposition nicht auf die Armee vertraut und ihr
Heil im Rückgriff auf den Kemalismus gesucht, hätte sich Erdogan vielleicht
nicht im selben Maße auf die eigene, angesichts der wirtschaftlichen
Erfolge der Türkei höchst zufriedene Klientel besonnen. Hätte, hätte.
***
Besser: Hükümet istifa!
3 Jun 2013
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## AUTOREN
Deniz Yücel
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