# taz.de -- Auf der anderen Seite des Bosporus: Die schweigende Mehrheit der T�… | |
> In den islamisch geprägten Istanbuler Vororten stehen viele zu Erdogan. | |
> Doch die Begeisterung bröckelt. Ein Besuch im asiatischen Teil der Stadt. | |
Bild: Blick von Asien nach Europa: Zwei Frauen im Istanbuler Stadtteil Üsküda… | |
ISTANBUL taz | Hayrullah Bey will zunächst nicht reden. Ausländische | |
Journalisten, da ist er erst einmal skeptisch. Doch nach wenigen Minuten | |
siegt bei Hayrullah das Mitteilungsbedürfnis. „Das ist doch völlig normal, | |
was der Staat da gemacht hat, diese ganze Gezi-Geschichte, das war doch | |
total falsch.“ | |
Hayrullah Bey bedient die Kasse und backt die dünnen türkischen Pizzen in | |
einem kleinen Lahmacun-Restaurant in Üsküdar. „Diese Demonstranten hätten | |
fünf Tage friedlich im Gezi-Park sitzen können und dann nach Hause gehen“, | |
findet Hayrullah Bey und ist überzeugt: „Aber denen geht es doch gar nicht | |
um die Bäume. Die wollen die Regierung stürzen.“ | |
Als Hayrullah Bey sich gerade mit dem Einwand auseinandersetzen will, dass | |
die Polizei aber doch schon nach drei Tagen Parkbesetzung die Demonstranten | |
das erste Mal verprügelt hat, mischt sich ein Gast ein. „Ich hätte die | |
schon nach einem Tag vertrieben“, tönt er lautstark, „diese Aufrührer | |
sollte man alle verprügeln.“ Jetzt diskutiert das gesamte Lokal mit. „Die | |
wollen doch das Land teilen“, meint ein anderer, „da steckt ganz bestimmt | |
Israel dahinter.“ Hayrullah versucht das Gespräch wieder in die Hand zu | |
bekommen, seine Gäste zu beruhigen und dem Ausländer den Hintergrund ihrer | |
Auffassungen zu erklären. | |
„Man muss doch einfach nur mal logisch denken“, sagt er und holt aus: | |
„Niemand veranstaltet so einen Aufruhr für zwei Bäume. Vielleicht waren | |
wirklich ein paar Umweltschützer am Anfang dabei, aber dann haben sofort | |
die Extremisten die Sache übernommen. Die haben die Polizei angegriffen und | |
die Eskalation provoziert. Das war keine Bäume-Geschichte, das war ein | |
Angriff auf unsere Regierung. Bis vor drei Wochen war doch alles gut. Die | |
Wirtschaft lief, aber die wollen das zerstören.“ | |
Willkommen bei der schweigenden Mehrheit der Türkei. Hayrullah Bey war | |
nicht auf der Großkundgebung von Ministerpräsident Erdogan am Sonntagabend | |
dabei, unterstützt aber die Regierung. „Natürlich werde ich im kommenden | |
Jahr Erdogan wieder wählen“, sagt er, „keine Frage.“ | |
Der alte Istanbuler Stadtteil Üsküdar liegt am asiatischen Ufer der Stadt. | |
Er war schon zu osmanischen Zeiten ein religiöses Zentrum und ist es bis | |
heute. Wer mit der Fähre von der europäischen Seite herüberkommt, sieht als | |
Erstes zwei große Moscheen rechts und links vom Anleger, eine davon wurde | |
noch von dem berühmten osmanischen Baumeister Sinan im 16. Jahrhundert | |
erbaut. | |
## Hochburg der AKP | |
Üsküdar ist eine Hochburg der konservativen Partei AKP von | |
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, ihre einzige echte Konkurrenz im | |
Stadtteil war bislang die islamische Partei der Glückseligkeit, in der die | |
Hardcore-Islamisten versammelt sind. Erdogans Privathaus steht auf einem | |
Hügel in Üsküdar und nebenan, auf Camlica, der höchsten Erhebung Istanbuls, | |
die auch zum Bezirk Üsküdar gehört, will Erdogan eine der größten Moscheen | |
der Welt bauen lassen. | |
Die Hauptstraße Üsküdars macht noch einen ganz weltlichen Eindruck. Steigt | |
man jedoch in die höher liegenden Seitenstraßen empor, offenbart sich | |
schnell ein anderes Bild. Zwischen uralten Moscheen und einigen Tekkes, den | |
Versammlungsräumen religiöser Orden, liegen Geschäfte für Mekkapilger, in | |
denen sich die Gläubigen vor der großen Reise ausstatten können. | |
Der Inhaber eines dieser Läden, Yasin Bey, lädt gleich zum Tee ein und hat | |
keinerlei Vorbehalte, mit der ausländischen Presse zu plaudern. „Ja, die | |
ganze Geschichte rund um den Gezi-Park war schlecht fürs Geschäft und | |
schlecht für das Image der Türkei.“ „Ihr“, nickt er zum ausländischen | |
Journalisten, „habt aber auch vieles falsch wiedergegeben. Erdogan wollte | |
am Taksimplatz doch nur gute Sachen machen. Die Autos durch Tunnel unter | |
die Erde bringen, das ist doch schön.“ | |
Doch Yasin Bey ist gläubiger Moslem und deshalb gegen alle Gewalt. „Die | |
Polizei war auch zu hart“, meint er, „schließlich waren es auch Türken, d… | |
sie verprügelt haben.“ Der Nachbar vom Laden nebenan handelt ebenfalls mit | |
religiösen Utensilien und unterstützt ihn. „Erdogan hätte nicht so harsch | |
reden sollen, wenn er diplomatischer gewesen wäre, wäre die Geschichte | |
nicht so eskaliert.“ Beide sind für Erdogan, aber ihre Begeisterung ist | |
doch deutlich abgekühlt. „Mehr Dialog wäre besser“, sagt Yasin Bey zum | |
Abschied. | |
## „Lieber nichts sagen“ | |
Dass die beiden keine absoluten Ausnahmen sind, zeigt eine aktuelle | |
Meinungsumfrage, die die bislang nicht für ihre regierungskritische Haltung | |
bekannte englischsprachige Ausgabe von Zaman, Today’s Zaman, gerade | |
veröffentlichte. Danach würden im Moment nur noch 36 Prozent statt wie noch | |
bei den Wahlen 2011 fast 50 Prozent der Türken Erdogans AKP wählen. Viele | |
ärgern sich über den harschen Ton des Ministerpräsidenten. | |
Es ist schwierig, in Üsküdar auch Frauen nach ihrer Meinung zu den | |
Demonstrationen der letzten Wochen zu befragen. Die meisten winken gleich | |
ab, wollen sich nicht äußern. Auch am Grabmal eines verehrten Scheichs, der | |
Aziz Mahmud Hüdayi Türbesi, einem Wallfahrtsort in Üsküdar, wollen die dort | |
versammelten Frauen „lieber nichts sagen“. | |
Nur eine verhüllte Großmutter gibt uns einen Tipp. „Ihr müsst in das | |
Viertel weiter nördlich gehen, da wird sogar gegen Erdogan demonstriert“, | |
erzählt sie. „Da reden die Leute eher.“ Auf einem Kinderspielplatz ein paar | |
Straßen weiter in diesem anderen Viertel in Üsküdar haben die Frauen dann | |
tatsächlich weniger Hemmungen, ihre Meinung zu sagen. | |
## „Gewalt ist immer schlecht“ | |
Eine Frau, die mit Mann und Kind da ist und ein Kopftuch nach dem Vorbild | |
von Emine Erdogan, der Frau des Ministerpräsidenten, trägt, beschwert sich | |
über die Gewalt „auf beiden Seiten“ und die „Provokateure“, wie sie sa… | |
„Gewalt ist immer schlecht, das sieht man ja auch in Syrien“ meint sie. | |
Trotzdem hält sie unerschütterlich zu Erdogan. „Er ist ein guter Mann. Er | |
hat durchgesetzt, dass wir das Kopftuch tragen dürfen und unsere Kinder in | |
den Korankurs schicken können.“ | |
Eine junge Mutter auf der Bank nebenan ist da ganz anderer Meinung. „Ich | |
glaube nicht an Provokateure“, sagt sie. „Mein Kopf ist zwar bedeckt – sie | |
trägt auch den so genannten Türban, das islamische Kopftuch –, aber mein | |
Verstand nicht.“ „Die Polizei in der Türkei ist brutal, das ist eine | |
Schande.“ In ihrer Straße wird jeden Abend Kochtopfschlagend gegen Erdogan | |
demonstriert. „Finde ich gut, sagt sie, ich werde den nicht mehr wählen.“ | |
21 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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